Transkript
EDITORIAL
Endlich Fernsehen ohne schlechtes Gewissen!
Wer kennt das schlechte Gewissen nicht, wenn man mal die wertvolle Freizeit statt mit «sinnvollen Tätigkeiten» einfach vor der Glotze verbringt. Und das auch noch, wenn draussen die Sonne scheint, weil man so geschafft und ausgelaugt ist, dass es einfach nicht für mehr reicht, als zu konsumieren? Wer hat die Sätze von Erziehungsberechtigten nicht in den Ohren, die diesen Konsum, als man klein war, mit dem Argument «Fernsehen macht dumm» drastisch einschränkten oder gar verboten? Alles obsolet! Sie können aufatmen und die Füsse vor dem Fernseher hochlegen – denn das Gegenteil ist der Fall!
Zwar zeigten in der Vergangenheit retrospektive Untersuchungen einen negativen Einfluss von visuellem Medienkonsum auf die kindliche Hirnentwicklung in Bezug auf kognitive Fähigkeiten, doch wirklich prospektiv untersucht wurde das nicht. Auch nicht bei Erwachsenen. Das ist nun passé.
Eine prospektive, randomisierte Untersuchung von Neurologen der Universitätsklinik Jena (D) untersuchte nämlich, ob eine intensive visuelle Stimulierung durch Fernsehen unsere Verarbeitung von optischen Informationen, also unser visuelles Kurzzeitgedächtnis, und unsere motorische Lernleistung,
das heisst die Fähigkeit, bestimmte Bewegungsmuster durch wiederholte Ausführungen zu erlernen, verbessern kann. Dazu durften 74 Personen zwischen 20 und 30 Jahren während 5 Tagen entweder exzessiv, das heisst mindestens 8 Stunden, oder gar nicht fernsehen. Während dieser Zeit mussten alle 74 Teilnehmer einen Schreibmaschinenkurs zum Erlernen des 10-Finger-Systems absolvieren. Diese Fertigkeit verknüpft die motorische Fähigkeit mit der visuellen Informationsverarbeitung. Tägliche Tests und funktionelle Magnetresonanztomografien (MRT) objektivierten den Lernfortschritt. Dabei zeigte sich, dass die Fernsehgruppe in allen Tests besser war als die konsumfreien Teilnehmer. In den Schreibmaschinenschreibtests war die Fernsehgruppe um 10 bis 15 Prozent und bei der Testung des Kurzzeitgedächtnisses um 25 Prozent besser, und die funktionelle MRT zeigte eine Volumenzunahme im entorhinalen Kortex in der linken Gehirnhälfte, der für das motorische Lernen zuständig ist. Sogar im Erwachsenenalter, in dem das Maximum an Synapsen eigentlich erreicht ist, war also noch ein Zuwachs möglich.
Auch wenn man vielleicht nicht täglich 8 Stunden fernsieht, sondern nur 210 Minuten wie jeder Europäer im Durchschnitt – verblöden kann man dabei jedenfalls nicht, auch durch exzessives Fernsehen nicht. Man kann sich ob des Bewegungsmangels möglicherweise andere Probleme einhandeln. Oder vereinsamen. Man muss es ja nicht übertreiben.
Also entspannen Sie sich und geniessen Sie Ihre Fern-
sehzeit!
s
Valérie Herzog
Quellen: Pressemitteilung des Universitätsklinikums Jena Nuernberger M et al.: Visual stimulation by extensive visual media consumption can be beneficial for motor learning. Sci Rep. 2023;13:22056.
ARS MEDICI 7 | 2024
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