Transkript
BERICHT
Harnwegsinfektionen, Reizmagen und Demenz
Mehr Gewicht für Phytotherapeutika
In letzter Zeit hat der Stellenwert der Phytotherapie in verschiedenen Indikationen deutlich zugenommen. Dies gilt etwa für pflanzliche (Kombinations-)Präparate zur Linderung bei Reizmagensymptomen oder für Cranberry-Zubereitungen zur Vorbeugung gegen Harnwegsinfektionen, wie aktuelle Cochrane-Reviews zeigen. Und bei der Behandlung von Demenzerkrankungen besteht neuerdings sogar eine explizite Leitlinienempfehlung für den Einsatz des Ginkgo-biloba-Extrakts EGb 761.
Wie wirksam sind pflanzliche Mittel bei Reizmagen?
Mit den Begriffen «Reizmagen» oder «funktionelle Dyspepsie» werden Oberbauchbeschwerden wie Schmerzen und Völlegefühl bezeichnet, die keine erkennbaren organbedingten Ursachen haben und länger als 3 Monate anhalten oder rezidivieren. Zur Behandlung dieser funktionellen Symptome stehen zahlreiche pflanzliche Präparate als Kapseln, Tabletten, Pulver, Tee oder in anderen Darreichungsformen zur Verfügung. In einem Cochrane-Review (1) wurde die Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit pflanzlicher Mittel bei Reizmagen evaluiert. Präparate der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) wurden in der Übersichtsarbeit nicht berücksichtigt. Im Rahmen des Reviews werteten die Experten 41 Studien mit insgesamt 4477 Personen aus, in denen 27 pflanzliche Präparate untersucht worden waren. Somit standen zu jedem Pflanzenpräparat nur wenige Studien oder sogar nur 1 Studie für die Auswertung zur Verfügung. Pfefferminz- und Kümmelöl führten in 2 Studien innerhalb eines Untersuchungszeitraums von 4 Wochen zu einer deutlichen Verbesserung der globalen Dyspepsiesymptome im Vergleich zu Plazebo. Curcuma longa war in 2 Studien innerhalb von 4 Wochen mit einer mässigen Verbesserung der globalen Symptome der Dyspepsie im Vergleich zu Plazebo assoziiert. Für das Kombinationspräparat Iberogast®, das 9 verschiedene Pflanzenextrakte (Angelika, Bittere Schleifenblume, Kamille, Kümmel, Mariendistel, Melisse, Pfefferminze, Schöllkraut, Süssholz) enthält, fanden die Cochrane-Autoren 6 Studien, in denen die Wirksamkeit über einen Zeitraum von 4 bis 12 Wochen bei 970 Teilnehmern untersucht wurde. Auch unter diesem Präparat verbesserte sich die Reizmagensymptomatik. Allerdings waren die Ergebnisse heterogen, und die Studien wiesen methodische Mängel auf. Die Experten fanden Evidenz dafür, dass folgende pflanzliche Mittel die Symptome einer funktionellen Dyspepsie im Vergleich zu Plazebo verbessern: Lafonesia pacari, Nigella sativa, Artischocke, Boensenbergia rotunda, Pistacia lenticus, Enteroplant, Ferula asafoetida, Ingwer und Artischocke,
Glycyrrhiza glabra, OLNP-06, Roter Pfeffer, Cuadrania tricuspidata, Jollab und Pimpinella anisum. Dagegen sind Mentha pulegium und Zimtöl im Vergleich zu Plazebo nur geringfügig oder gar nicht wirksam, und Mentha longifolia kann dyspeptische Symptome sogar verstärken. Die Cochrane-Autoren bemängeln, dass sich die Anwendungszeiträume in den ausgewerteten Studien nur über 15 Tage bis zu 12 Wochen erstreckten. Hier traten unerwünschte Wirkungen unter den pflanzlichen Präparaten nicht oder nur geringfügig häufiger auf als unter Plazebo. Da es sich beim Reizmagen jedoch um chronische Beschwerden handelt, seien längere Untersuchungen zur Evaluierung der Sicherheit erforderlich. Denn es ist beispielsweise bekannt, dass das in Iberogast® enthaltene Schöllkraut in hoher Dosierung und bei längerer Anwendungsdauer die Leber schädigen kann.
Cranberries zur Vorbeugung gegen rezidivierende Harnwegsinfektionen?
Bakterielle Harnwegsinfektionen sind vor allem bei Frauen eine verbreitete Erkrankung, Männer sind aufgrund ihrer längeren Harnröhre seltener betroffen. Cranberries (dt. Moosbeeren, Kranbeeren) enthalten Proanthocyanidine (PAC), die das Anhaften p-fimbrierter Escherichia coli an den Urothelzellen der Blase hemmen. In einem aktualisierten Cochrane-Review (2) gingen Experten der Frage nach, ob rezidivierenden Harnwegsinfektionen mit Cranberry-Produkten wie Säften, Tabletten oder Fruchtpulver-Kapseln vorgebeugt werden kann. Im Rahmen des Reviews wurden 50 Studien mit insgesamt 8857 Teilnehmern ausgewertet. In 45 Studien wurde die Wirksamkeit von Cranberries mit Plazebo beziehungsweise keiner vorbeugenden Behandlung verglichen. In weiteren Studien wurden Cranberry-Produkte mit Probiotika (3 Studien) oder Antibiotika (6 Studien) verglichen. Auch gab es Vergleiche zwischen Cranberry-Tabletten und CranberryFlüssigkeit (1 Studie) und zwischen unterschiedlichen PACDosierungen (2 Studien). Aus 8 Studien mit 1555 Teilnehmern ging hervor, dass Frauen mit rezidivierenden Harnwegsinfektionen von Cranberries profitieren können. Von 1000 Frauen, die prophylaktisch ein
140
ARS MEDICI 5+6 | 2024
BERICHT
Cranberry-Produkt einnahmen, erlitten 180 eine Harnwegsinfektion, unter Plazebo erkrankten 243. Allerdings unterschieden sich die Ergebnisse der Studien deutlich. In der einen Hälfte wurde ein Effekt beobachtet, in der anderen Hälfte nicht. Auch bei Kindern und Personen, die nach einem Eingriff wie einer Strahlentherapie der Blase besonders anfällig für Harnwegsinfekte sind, wirken Cranberry-Produkte möglicherweise vorbeugend. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz dieser Studien stuften die Cochrane-Experten als moderat bis gering ein. Bei betagten Menschen in Pflegeeinrichtungen, bei Erwachsenen mit neuromuskulärer Blasenentleerungsstörung sowie bei schwangeren Frauen wurde kein positiver Effekt bezüglich der Anzahl von Harnwegsinfektionen beobachtet. Aufgrund unzureichender Daten konnten die Autoren nicht ermitteln, ob Cranberry-Produkte im Vergleich zu Antibiotika oder Probiotika bei der Vorbeugung weiterer Harnwegsinfekte mehr oder weniger wirksam sind. Da in den Reviewstudien unterschiedliche Cranberry-Produkte untersucht wurden, ist derzeit nicht bekannt, welche PAC-Dosis für eine Wirksamkeit erforderlich ist.
Neue S3-Leitlinie empfiehlt Ginkgo biloba EGb 761 bei Demenz
Mit einem Anteil von etwa 65 Prozent ist die AlzheimerKrankheit die häufigste Form der Demenz. Etwa 15 Prozent aller Demenzen sind vaskulär bedingt, und bei einem Teil der Betroffenen liegt eine Kombination dieser Erkrankungen vor. Seltener sind frontotemporale Demenzen, die meist Personen unter 65 Jahren betreffen. Eine Demenz ist nicht heilbar. Mit der optimalen medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Versorgung kann ihr Fortschreiten aber verlangsamt und die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen verbessert werden. Eine neue S3-Leitlinie «Demenzen» der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) (3) umfasst insgesamt 109 Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung von Demenzen.
«Die Empfehlungen berücksichtigen biologische, psychologische und soziale Aspekte und richten sich mit Hinweisen zu Diagnostik, Therapie, Betreuung und Beratung an alle Fachpersonen, die mit Menschen mit Demenzen zu tun haben, sowie an Betroffene und Angehörige», erläutert der Psychiater Prof. Dr. Frank Jessen, der für die DGPPN als Koordinator an den Leitlinien gearbeitet hat. Im Zusammenhang mit der Behandlung stellte sich bei der Erarbeitung der Leitlinie unter anderem die Frage nach der Wirksamkeit von Ginkgo biloba. Ginkgo biloba EGb 761 (Extrakt von Ginkgo biloba 761) wurde in randomisierten, plazebokontrollierten Studien bezüglich der Wirksamkeit geprüft. In einer Metaanalyse über 9 Studien mit insgesamt 2561 Personen zeigte sich im Vergleich zu Plazebo ein signifikanter positiver Effekt auf die Kognition und auf Alltagsfunktionen. Die Effekte waren in der Untergruppe der Personen mit einer Alzheimer-Demenz ähnlich stark wie in den Subgruppen mit gemischter und vaskulärer Demenz. Bei Patienten mit nicht psychotischen neuropsychiatrischen Symptomen waren die Effekte grösser als in der Gesamtgruppe. Es zeigte sich keine erhöhte Nebenwirkungsrate. In einer Metaanalyse von 18 randomisierten, kontrollierten Studien gab es keine Hinweise für ein erhöhtes Blutungsrisiko im Vergleich zu Plazebo. Deshalb schlagen die Leitlinienexperten mit einem hohen Konsens (97%) vor, Ginkgo biloba EGb 761 in einer Dosis von 240 mg täglich zur Verbesserung der Kognition und der Alltagsfunktionen bei leichter bis mittelgradiger Alzheimerdemenz oder vaskulärer Demenz mit nicht psychotischen Verhaltenssymptomen einzusetzen. s
Petra Stölting
Quellen: 1. Medienmitteilung von Cochrane Deutschland vom 28.06.2023 und Báez
G et al.: Non-Chinese herbal medicines for functional dyspepsia. Cochrane Database Syst Rev. 2023;6(6): CD013323. 2. Pressemitteilung von Cochrane Deutschland vom 21.04.2023 und Williams G et al.: Cranberries for preventing urinary tract infections. Cochrane Database Syst Rev. 2023;4(4): CD001321. 3. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und S3-Leitline Demenzen (Langfassung), Stand: 28.11.2023, Version: 4.0, AWMF-Register Nr. 038-013.
ARS MEDICI 5+6 | 2024
141