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BERICHT
Impfschutz messen
Wie relevant sind Antikörpertiter?
Foto: RBO
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«Wer viel misst, misst viel Mist …» – diese salopp formulierte Warnung vor klinisch irrelevanten Laborwerten dürften viele schon einmal gehört haben. Doch trifft sie auch auf die Bestimmung von Antikörpertitern als Korrelat für einen Impfschutz zu? Wie man in der Praxis vorgehen sollte, erläuterten Prof. Werner C. Albrich, St. Gallen, und Prof. Christoph T. Berger, Basel, am Schweizer Impfkongress.
Eine allgemein gültige Antwort auf die Frage
nach der Relevanz von Antikörpertitern als Pa-
rameter der spezifischen Immunabwehr gibt es
nicht. Auf der einen Seite bestätige der Nachweis
spezifischer Antikörper nicht zwingend, dass
man geschützt sei, auf der anderen Seite bedeute
ihr Fehlen nicht, dass gar kein Schutz bestehe,
sagte Berger: «Was wir messen können, ist
immer nur ein kleiner Teil der Immunantwort.»
Prof. Werner C. Albrich
So kann auch bei niedrigen spezifischen Antikörpertitern eine neutralisierende Aktivität
(z. B. gegenüber Rubella) vorhanden sein. Der
Antikörpertiter gibt überdies keine Auskunft
über die vorhandenen B-Gedächtniszellen
(Plasmazellen), die im Fall einer Exposition so-
fort grosse Mengen an Antikörpern bereitstel-
len können. Antikörpertiter liefern demnach
zwar Anhaltspunkte, aber keine Gewissheit für
die Einschätzung des immunologischen Ab-
wehrstatus.
Prof. Christoph T. Berger
Trotzdem gilt es als positiv, wenn 4 bis 8 Wochen nach einer Impfung hohe spezifische Anti-
körpertiter nachweisbar sind, weil das durch-
aus mit der Neutralisation des Erregers korrelieren kann –
immer vorausgesetzt, dass der Erreger an den für den
Impfstoff entscheidenden Strukturen nach wie vor angreifbar
ist und der Abwehr nicht durch Modulation seiner Oberflä-
chenproteine entkommt (sog. Escape-Varianten).
KURZ & BÜNDIG
� Antikörpertiter liefern Anhaltspunkte, aber keine Gewissheit für die Einschätzung des immunologischen Abwehrstatus.
� Bei Gesunden sind Antikörpertitermessungen in der Regel nicht sinnvoll.
� Eine Korrelation mit dem Impfschutz besteht nur für wenige Antikörpertiter, sodass deren Messung nur in bestimmten Situationen sinnvoll ist.
Und die T-Zell-Aktivität?
Nur aufwendig zu bestimmen ist die Aktivität der spezifischen T-Lymphozyten, die als Killer- und Helferzellen ebenfalls von entscheidender Bedeutung für die immunologische Abwehr sind. Derartige Messungen werden deshalb allenfalls in Studien durchgeführt. Es gibt eine Ausnahme, in der eine antigenspezifische T-ZellAktivität auch im klinischen Alltag ermittelt wird, nämlich bei der Frage, ob jemand bereits einmal Kontakt mit dem Tuberkuloseerreger Mycobacterium tuberculosis hatte (z. B. bei unklaren Befunden im Tuberkulintest oder rätselhaften klinischen Symptomen). Bei diesem Test werden T-Lymphozyten in vitro mit Antigenen des Erregers inkubiert. Falls spezifische T-Zellen vorhanden sind, schütten diese Interferon-gamma aus, dessen Spiegel dann als Messgrösse dient.
Überflüssige Antikörpertitermessungen
Wenn eine Impfung dokumentiert ist, dürfe man bei gesunden Personen davon ausgehen, dass sie ausreichend geschützt seien, sagte Albrich. Bei ihnen ist die Bestimmung von Antikörpertitern in der Regel nicht sinnvoll. Dasselbe gelte für Migranten mit unklarem Impfstatus. Nur dokumentierte Impfungen zählten, im Zweifelsfall solle man impfen und sich dabei an die Empfehlungen des Schweizerischen Impfplans für die Nachholfimpfungen bei ungeimpften oder unvollständig geimpften Personen halten (s. Linktipps). Antikörpertiterbestimmungen werden nicht empfohlen, mit einer Ausnahme: Bei Personen, die aus Hepatitis-B-Hochendemiegebieten in Afrika, Asien oder Osteuropa kommen (≥ 2% Seroprävalenz) sollten die Titer von HBs-Antigen und Antikörpern gegen das HBc-Antigen (Anti-HBc) ermittelt werden. Sinnlos ist hingegen die Bestimmung von VZV-Antikörpern vor einer Zosterimpfung, denn für die Abwehr von Herpes zoster ist die T-Zell-Funktion entscheidend. Das Varicellazoster-Virus (VZV) wird im Körper von den T-Lymphozyten in Schach gehalten. Versagt diese Abwehr, kann sich Herpes zoster manifestieren. Insofern lohne es sich nicht, VZV-Antikörper messen zu lassen, um über die Notwendigkeit der Zosterimpfung zu entscheiden, sagte Berger: «Die T-Zell-Ak-
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BERICHT
Tabelle:
Serologische Korrelate für den Impfschutz
Krankheit/Impfung Tetanus H. influenzae Typ b1) Hepatitis B2) Pneumokokken3) Masern4) Röteln Varizellen4) Tollwut5)
Spezifischer Antikörpertiter (Einheit) Anti-Tetanus-Toxoid (IU/l) Anti-PRP IgG (mg/l) Anti-HBs IgG (IU/l) Serotypenspezifische IgG (mg/l) Masern-IgG (EIA) (IU/l) Röteln-IgG (IU/ml) VZV-IgG (gp-ELISA-Test) (IU/l) Tollwut IgG (RFFIT-Test) (IU/ml)
Kein Schutz
Gewisser Schutz Langzeitschutz
< 100 < 0,15 < 10 < 0,3 < 50 < 10 < 50 < 0,5 ≥ 100 > 0,15 ≥ 10 0,3–0,9 50–149 ≥ 10 ≥ 50 ≥ 0,5
≥ 1000 >1
≥ 100 ≥1
≥ 150
≥ 150
EIA: enzyme immunoassay; ELISA: enzyme-linked immunosorbent assay; RFFIT= rapid fluorescent focus inhibition test 1) Bei unklarer Anamnese wird eine Kontrolle der Antikörpertiter 4 Wochen nach der Impfdosis empfohlen, um anhand des Antikörpertiters zu entscheiden, ob weitere (Auffrisch-)Impfungen notwendig sind. 2) Anti-HBs-Titer-Bestimmung 4–8 Wochen nach vollständiger Grundimmunisierung oder nach Auffrischimpfdosis, falls letzte Dosis < 5 Jahre zurückliegt. 3) Serotypenspezifisch; Test verfügbar z. B. im Laboratoire de Vaccinologie des Hôpitaux Universitaires de Genève. 4) Masern- und VZV-IgG mit kommerziell angebotenen Tests; falls positiv = immun, falls negatives oder zweifelhaftes Testresultat wird empfohlen, das Serum für Bestimmung mit einer sensitiveren Methode z. B. ins Laboratoire de Vaccinologie des Hôpitaux Universitaires de Genève zu schicken. 5) Serologische Kontrollen werden von der Schweizerischen Tollwutzentrale durchgeführt. Quelle: Schweizerischer Impfplan 2023 tivität ist entscheidend, und man muss die Impfentscheidung unabhängig von den Antikörpertitern treffen.» Wann sind Antikörpertitermessungen sinnvoll? Für bestimmte Impfungen konnte man trotz der bekannten eingeschränkten Aussagekraft von Antikörpertitern einige mit Immunität korrelierende Grenzwerte definieren (Tabelle). Bei Immunsupprimierten: Sinnvoll sind Antikörpertiterbestimmungen generell bei Personen unter einer starken Immunsuppression, um «zu wissen, wo man steht», beziehungsweise um zu überprüfen, ob eventuell weitere Dosen eines Impfstoffs gegeben werden sollten. Zu diesem Personenkreis gehören zum Beispiel Transplantatempfänger, Krebspatienten oder Patienten unter B-Zell-Depletion (z. B. mit Rituximab). Letzteres werde zunehmend relevant, weil Rituximab immer breiter angewendet werde, sagte Berger. Unter Rituximab könne kein neuer Impfschutz aufgebaut werden, aber jegliche zuvor erworbene Immunität bleibe erhalten, weil diese Substanz die B-Gedächtniszellen nicht angreife: «Es ist wirklich total wichtig, dass diese Personen vollständig geimpft sind, bevor sie mit dieser Therapie beginnen», betonte Berger. Falls Impfungen trotz Rituximabtherapie notwendig seien, sollten diese mit einem möglichst grossen zeitlichen Abstand nach der letzten Rituximabdosis erfolgen und, falls möglich, sollte die nachfolgende Rituximabdosis etwas aufgeschoben werden. Man solle nach einer Impfung mindestens 2 bis 4 Wochen bis zur nächsten Rituximabdosis warten, empfahl Berger. Bei unklarem Status bezüglich einer Tetanusimpfung: Falls eine vorherige Impfung wahrscheinlich, aber nicht dokumentiert sei, solle man impfen und 4 Wochen später das Anti-Tetanus-Toxoid messen, sagte Albrich. Liegt der Wert dann zwischen 100 und 500 U/l, bestand wahrscheinlich keine Basisimmunisierung, und der Patient sollte 2 weitere Dosen erhalten (0, 2, 8 Monate). Liegt der Wert zwischen 500 und 1000 U/l, wurde der Patient wahrscheinlich früher einmal geimpft, aber es besteht kein Langzeitschutz. In diesem Fall genügt 1 weitere Dosis nach 6 Monaten. Bei Personen mit Hepatitis-B-Expositionsrisiko: Wenn 1-mal ein Titer von Anti-HBs ≥ 100 U/l erreicht wurde, gilt das als lebenslanger Schutz, sodass weitere Impfungen nicht notwendig sind. Alle Personen mit erhöhtem Risiko für Komplikationen, Exposition oder Ansteckung sollten unabhängig von ihrem Alter gegen Hepatitis B geimpft sein. Das betrifft neben Neugeborenen von HbsAg-positiven Müttern vor allem Risikopatienten (Immunsupprimierte, Patienten mit einer chronischen Lebererkrankung, Hämodialyse, Hämophilie oder Drogenmissbrauch sowie Heimbewohner und mental beeinträchtigte Personen) und das Personal im Gesundheitswesen mit entsprechendem Expositionsrisiko. Deshalb sollte bei Risikogruppen und medizinischem Personal mindestens 1-mal der Antikörpertiter gegen Hepatitis B bestimmt werden. Varizellenantikörper bei Personal im Gesundheitswesen: Falls keine Windpocken in der Anamnese sicher bestätigt werden können, sollte eine entsprechende Serologie durchgeführt werden, um gegebenenfalls mit 2 Dosen gegen Varizellen zu impfen. Eine Serologie ist hingegen nicht indiziert, wenn keine MMR-Impfung dokumentiert ist, weil sie bei geimpften Personen falsch negative Befunde liefern kann. Vielmehr gelte hier: Komplett gegen MMR impfen, falls keine MMR-Impfung dokumentiert sei, sagte Albrich. Ebenso ohne vorherige Serologie sollten, falls indiziert, die Impfungen von Personal im Gesundheitswesen gegen Influenza, DTP, Polio, HAV und Meningokokken erfolgen. Bei erhöhtem Expositionsrisiko für Tollwut: Der Antikörpertiter gegen Tollwut sollte nach der Impfung (2 Dosen, 1 Booster nach 12 Monaten) 1-mal ≥ 0,5 U/ml liegen. Eine Kontrolle des Antiköpertiters wird je nach Expositionsrisiko ARS MEDICI 5+6 | 2024 115 BERICHT Linktipps Schweizerischer Impfplan https://www.rosenfluh.ch/qr/impfplan2023 Impfungen bei erwachsenen Flüchtlingen https://www.rosenfluh.ch/qr/migranten_impfen Update 2019: Infektionskrankheiten und Impfungen bei Asylsuchenden https://www.rosenfluh.ch/qr/migranten_update nach 1 bis 5 Jahren empfohlen. Diese Empfehlung gilt nur für Personen mit erhöhtem Expositionsrisiko (z. B. Veterinäre oder Fledermausforscher, nicht aber Reisende). Bei gegen MMR und Varizellen ungeimpften Schwangeren: Wenn vor Beginn der Schwangerschaft keine Impfungen gegen MMR und Varizellen (VZV) dokumentiert sind, wird die Serologie auf MMR und VZV empfohlen, um festzustel- len, ob eventuell doch Immunität besteht oder ob besondere Vorsichtsmassnahmen eingehalten werden müssen (Kontakt mit Infizierten vermeiden, komplette Impfung von engen Kontaktpersonen wie Partner und Kinder). Falls keine Im- munität besteht, sollten die kompletten MMR- und VZV- Impfungen so rasch wie möglich nach der Geburt nachgeholt werden. s Renate Bonifer Prof. Werner C. Albrich, St. Gallen, und Prof. Christoph T. Berger, Basel: Vortrag «Wann und wie soll man Impfschutz messen?», XII. Schweizer Impfkongress in Basel, 9. November 2023. Verwendung von Tollwutimpfstoff auf lebenswichtige Indikationen beschränkt Bei den Tollwutimpfstoffen herrscht in der Schweiz eine schwere Mangellage. Damit die verfügbare Pflichtlagerware ausreicht, wird deren Verwendung stark eingeschränkt. Bis Februar 2026 werden Tollwutimpfstoffe aus den Pflichtlagern nur noch für lebenswichtige Indikationen abgegeben. Im Fokus stehen beruflich exponierte Personen und Personen, die von einem Tier gebissen wurden. Für die Reisemedizin wird in dieser Zeit kein Tollwutimpfstoff aus den Pflichtlagern zur Verfügung stehen. Wie in vielen anderen Bereichen kann es auch bei Impfstoffen zu Lieferengpässen kommen, wie eine entsprechende Abfrage in der Drugshortage-Datenbank zeigt. Besonders ausgeprägt ist die Mangellage bei den Tollwutimpfstoffen, für die es in der Schweiz 2 Anbieter gibt. Beide müssen seit Ende 2023 auf die Pflichtlager zurückgreifen, da der Nachschub verzögert ist und eine weltweite Knappheit besteht. Damit die Pflichtlagerware ausreicht, bis die Engpässe überwunden sind, hat der Fachbereich Heilmittel der wirtschaftlichen Landesversorgung (WL) Auflagen beschlossen und die Verordnung über die Pflichtlagerfreigabe von Impfstoffen der Humanmedizin angepasst. Die neue Verordnung trat am 26. Februar 2024 in Kraft und gilt 2 Jahre. Seitdem darf der Tollwutimpfstoff aus den Pflichtlagern ausschliesslich zur beruflichen Prophylaxe (etwa in der Veterinärmedizin und in der Tierpflege) sowie zur Behandlung nach Bissen durch Tiere eingesetzt werden. Dies ist die häufigste Übertragungsart. Infektiöser Speichel von Tieren kann aber beispielsweise auch über oberflächliche Hautverletzungen anstecken. Keine Pflichtlagerware für Reisemedizin In einer normalen Versorgungslage entfällt ein grösserer Teil der Tollwutimpfstoffe auf die Reisemedizin. Eine vorbeugende Tollwutimpfung wird für einige Länder mit hohem Risiko empfohlen, aber nicht vorgeschrieben. Sie ist je nach Land, Dauer und Art der Reise in abgelegene Regionen sinnvoll. Die Reisemedizin kann diese Impfungen weiterhin mit freier Ware durchführen. Während der schweren Mangellage werden dafür keine Impfstoffe aus den Pflichtlagern abgegeben, um zu gewährleisten, dass für die beiden lebenswichtigen Indikationen die benötigten Impfstoffe zur Verfügung stehen. Eine Entspannung der Versorgungslage wird in rund 2 Jahren erwartet. Mü/BWL Quelle: Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL), Medienmitteilung vom 23.02.2024 116 ARS MEDICI 5+6 | 2024