Transkript
Im Fokus: Leukämien bei Erwachsenen und Kindern
Chronische myeloische Leukämie
Update 2013
Während 10 Jahren war Imatinib (Glivec®) die Standardbehandlung der chronischen myeloischen Leukämie (CML). In den letzten Jahren wurden mit Nilotinib (Tasigna®) und Dasatinib (Sprycel®) zwei weitere Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) zur Erstlinienbehandlung zugelassen. Dieser Artikel diskutiert die Diagnostik, das Monitoring und die Therapiemöglichkeiten beim Patienten mit neu diagnostizierter CML in chronischer Phase.
Michael Gregor
MICHAEL GREGOR
Die CML ist eine Modellerkrankung für Entstehung, Progression und zielgerichtete Therapie maligner Erkrankungen. Die Translokation des ABL-Gens vom Chromosom 9 auf das Chromosom 22, t(9;22) (q34; q11) führt zur Bildung des BCR-ABL-Fusionsgens, welches ein Onkoprotein mit permamenter Tyrosinkinaseaktivität kodiert. Die Überfunktion des BCRABL-Proteins führt zur Transformation der Tumorzellen, was sich klinisch als Fortschreiten der CML von der chronischen Phase in eine Akzeleration und schliesslich in einen Blastenschub zeigt. Die Blockade des BCR-ABL-Proteins mit dem TKI Imatinib hat als erste, planmässig entwickelte Tumortherapie die Behandlung der CML grundlegend verändert und das Überleben der Patienten entscheidend verbessert (1, 2). Fast alle Patienten erreichen mit Imatinib eine komplette hämatologische Remission (CHR), die meisten auch eine komplette zytogenetische (CCR) und viele eine major molekulare Remission (MMR). Für Patienten mit Imatinibresistenz oder -intoleranz stehen seit sechs Jahren die Zweitgenerations-TKI Dasatinib und Nilotinib zur Verfügung. Beide TKI zeigten in Phase-III-Studien ein rascheres und häufigeres Ansprechen als Imatinib, was zur Zulassung als Erstlinientherapie führte.
SZO 2013; 2: 21–26.
Klinisches Bild der CML
Heute wird die CML bei über 90% der Patienten in chronischer Phase diagnostiziert. Bei rund der Hälfte der Patienten liegen keinerlei Krankheitssymptome vor. Die Diagnose der CML erfolgt im Rahmen der Abklärung einer zufällig festgestellten erhöhten Leukozytenzahl. Symptomatische Patienten können unter einer Leistungsminderung, allgemeiner Abgeschlagenheit und Gewichtsverlust leiden. Eine ausgeprägte Milzvergrösserung kann zu frühem Sättigungsgefühl, Appetitlosigkeit oder Oberbauchschmerzen führen. Bei hohen Leukozytenzahlen (meist > 200–400 G/l) sind kardiale, pulmonale oder zerebrale Zirkulationsstörungen oder ein Priapismus infolge einer Leukostase möglich. Bei der körperlichen Untersuchung kann bei rund der Hälfte der Patienten mit CML eine Milzvergrösserung palpiert werden. Wegweisend für die Diagnose der CML ist das mikroskopische Differenzialblutbild, welches eine Leukozytose mit myeloischen Vorstufen («pathologische Linksverschiebung») sowie eine unterschiedlich ausgeprägte Basophilie oder Eosinophilie zeigt. Die Thrombozytenzahl ist bei CML oft erhöht, kann jedoch auch normal sein. Eine leichte Anämie ist möglich.
ABSTRACT
Chronic myeloid leukaemia: Update 2013
In chronic myeloid leukaemia 2nd-generation TKIs, as dasatinib and nilotinib, have achieved earlier and more frequent CCR and MMR than imatinib, in particular deep molecular responses as MMR-4 and MMR-4.5. Preliminary data shows that early and deep response could be beneficial for patients. All TKIs are still an option for first-line therapy, as long as any TKI hasn’t shown a survival benefit. The choice of a TKI currently depends on comorbidities, probable side effects, and patient’s preference. Early assessment of response (at 3 months and 6 months) is important in particular with imatinib as first-line treatment. It is necessary to consider to change TKIs in case the required response hasn’t been reached or in case of toxicity.
Keywords: chronic myeloid leukaemia, tyrosine kinase inhibitors, first-line therapy.
Diagnostik der CML
Bei allen Patienten mit CML ist mittels RT-PCR (= reverse transkriptase polymerase chain reaction) ein BCR-ABL-Fusionstranskript im Blut nachweisbar. Der BCR-ABL-Nachweis sichert die Diagnose der CML und grenzt sie von BCR-ABL-negativen myeloproliferativen Neoplasien und reaktiven Veränderungen ab. Bei über 90% der CML-Patienten kann mittels konventioneller Metaphasenzytogenetik auch die Translokation t(9;22) (q34;q11), das Philadelphia-Chromosom (Ph- oder 22-), nachgewiesen werden. Vor Therapiebeginn wird eine Knochenmarkpunktion mit zytologischer, histologischer und zytogenetischer Untersuchung des Knochenmarkes durchgeführt (3). Die Knochenmarkuntersuchung dient ergänzend zur
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Tabelle 1: Stadieneinteilung der CML
Kriterium Milzgrösse Leukozytenzahl Blastenzahl* Basophile Thrombozytenzahl
Chronische Phase ∅ ∅ < 15%* < 20% ∅
neue zytogenetische Anomalie Extramedulläre Blasteninfiltration
nein nein
Akzelerierte Phase zunehmend trotz Therapie > 10 G/l trotz Therapie 15–29%* ≥ 20% > 1000 G/l trotz Therapie < 100 G/l nicht durch Therapie ja nein
∅ Kein Kriterium für Einteilung in die entsprechende Kategorie. * Diese Kriterien werden vom ELN und in den meisten klinischen Studien verwendet (3). Die WHO verwendet Grenzen von < 10% für chronische Phase, 10–19% für akzelerierte Phase und ≥ 20% für Blastenschub.
Blastenschub ∅ ∅ ≥ 30%* ∅ ∅
∅ ja
Tabelle 2:
Definitionen des hämatologischen, zytogenetischen und molekularen Ansprechens bei CML
Typ des Ansprechens Untersuchungsmethode hämatologisches Ansprechen Differenzialblutbild
Remissionsqualität (gebräuchliche Abkürzung) komplett (CHR)
zytogenetisches Ansprechen Knochenmarkszytogenetik1
molekulares Ansprechen quantitative RT-PCR aus Blut2
komplett (CCR) partiell (PCR) minor (MCR) minimal (minCR) kein major (MMR oder MMR-3) tief (MMR-4) tief (MMR-4.5) komplett (CMR)
1 Analyse von mindestens 20 Metaphasen. 2 Umrechnung in Internationale-Standard-(IS-)Skala. 3 Nachweisgrenze sollte im Befund angegeben werden.
Anforderungen
Milz nicht palpabel Leukozyten < 10 G/l keine Myelozyten, Promyelozyten oder Myeloblasten im Differenzialblutbild Basophile < 5% Thrombozyten < 450 G/l keine Ph+-Metaphasen 1–35% Ph+-Metaphasen 36–65% Ph+-Metaphasen 66–95% Ph+-Metaphasen > 95% Ph+-Metaphasen BCR-ABL-Transkripte < 0,1% BCR-ABL-Transkripte < 0,01% BCR-ABL-Transkripte < 0,0032% BCR-ABL unter der Nachweisgrenze3
Blutuntersuchung zur Festlegung des Krankheitsstadiums und zum Erkennen weiterer, im Verlauf zum Teil bedeutender, prognostischer Faktoren (z.B. Knochenmarkfibrose, zusätzliche zytogenetische Anomalien).
Stadieneinteilung (Tabelle 1)
Unbehandelt oder unter Zytostatika konnte bei CML ein schrittweiser Übergang von der chronischen Phase in eine Akzeleration und in einen Blastenschub beobachtet werden. Unter der heute üblichen Therapie mit TKI erreichen fast alle Patienten eine lang dauernde, komplette hämatologische Remission (CHR) mit unauffälligem Blutbild. Bei Auftreten einer hämatologischen Resistenz auf TKI können die Patienten das Blutbild einer chronischen Phase, einer Akzeleration oder eines Blastenschubes aufweisen. Das Erkennen einer Akzeleration oder eines Blastenschubes ist sowohl bei Diagnose wie auch im Verlauf wichtig. Patienten mit einer Akzeleration oder einem Blastenschub erreichen unter Therapie mit TKI auch bei gelegentlich gutem Ansprechen meistens nur eine kurzfristige Remission.
Prognosescores
Die Prognoseabschätzung von Patienten mit CML in chronischer Phase erfolgt vor Therapieeinleitung anhand klinischer Parameter und der Blutwerte. Für die Risikostratifizierung verwendet werden Alter, Milzgrösse (in cm unterhalb des linken Rippenbogens), Blastenzahl, Basophilie, Eosinophilie und Thrombozytenzahl. Der Sokal-Score und der Hasford-Score wurden vor Einführung der TKI entwickelt (4, 5). Für die Berechnung dieser Scores empfiehlt sich die Verwendung eines internetbasierten Rechners (http://www.leukemia-net.org/content/leukemias/cml/cml_score/ index_eng.html). Der EUTOS-Score (European Treatment and Outcome Study) wurde unter Erstlinientherapie mit Imatinib entwickelt. Der EUTOS-Score berücksichtigt die Prozentzahl Basophiler im Blut und die Milzgrösse. Er kann einfach ohne Hilfsmittel berechnet werden (Basophile im Blut in % x 4 + Milzgrösse unterhalb des linken Rippenbogens in cm x 7).
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Der Unterschied zwischen High-Risk- (Score > 87) und Low-Risk-Patienten (Score ≤ 87) ist jedoch gering mit einem 5-Jahres-PFS von 82% und 90% (6). Alle Scores können bei Patienten mit CML in chronischer Phase die Wahrscheinlichkeit einer CCR mit TKI und somit das PFS abschätzen. Falls eine CCR erreicht wird, ist die Prognose jedoch nicht mehr vom initialen Score abhängig.
Beurteilung des Therapieansprechens unter TKI
Die hervorragenden Ergebnisse, welche in Studien mit TKI erreicht wurden, können im klinischen Alltag nur gewährleistet werden, wenn das Ansprechen systematisch beurteilt wird. Bei ungenügendem Ansprechen müssen umgehend eine Abklärung der Ursachen und gegebenenfalls eine Therapieanpassung erfolgen. Man unterscheidet ein hämatologisches, ein zytogenetisches und ein molekulares Ansprechen (Tabelle 2). Zur Beurteilung des hämatologischen Ansprechens sind Blutbildkontrollen alle zwei Wochen bis zum Erreichen einer kompletten hämatologischen Remission erforderlich. Anschliessend erfolgen Blutbildkontrollen mindestens zusammen mit den zytogenetischen und molekularen Untersuchungen. Nach 3, nach 6 und nach 12 Monaten wird eine Knochenmarkpunktion mit zytogenetischer Untersuchung empfohlen (3). Nach Erreichen einer kompletten zytogenetischen Remission kann auf weitere Punktionen verzichtet werden, sofern sich klinisch, im Blutbild und bei der molekularen Diagnostik keine Hinweise für eine Resistenzentwicklung ergeben. Das molekulare Ansprechen wird alle 3 Monate mittels quantitativer RT-PCR (qRT-PCR) beurteilt. Die Resultate der qRT-PCR sollen gemäss der internationalen Skala (IS) angegeben werden. Nach Erreichen einer stabilen MMR kann das Kontrollintervall für die qRT-PCR auf alle 4 bis 6 Monate verlängert werden. Das zeitgerechte Erreichen (Tabelle 3) eines zytogenetischen und molekularen Ansprechens ist von prognostischer Bedeutung. In Studien konnte gezeigt werden, dass bereits nach 3 oder 6 Monaten mittels qRT-PCR das Erreichen einer CCR und das Überleben abgeschätzt werden können. Patienten mit BCR-ABL > 10% nach 3 Monaten erreichen nur zu 22% eine CCR, mit BCR-ABL < 10% hingegen zu 99%. Der Unterschied im 8-Jahres-Überleben war mit 57% und 93% beträchtlich (7). Eine am ASH-Jahresmeeting 2012 vorgestellte Arbeit zeigte, dass das frühe Erreichen eines zytogenetischen Ansprechens nach 3 Monaten eine höhere prognostische Aussagekraft bezüglich 3-Jahres-Überleben besitzt (PCR und besser in 95–98%, keine PCR in 87% der Fälle), während die qRT-PCR keine Unterschiede zwischen den Werten von < 1%, < 10% und > 10% fand (8). Patienten, die die in Tabelle 3 aufgeführten Meilensteine nicht erreichen, sollen – nach Ausschluss einer
Non-Compliance oder medikamentösen Interaktionen nach einer Standortbestimmung (inkl. Knochenmarkpunktion!) – auf einen anderen TKI umgestellt werden. Bei Therapieresistenz auf einen TKI zeigt eine Mutationsanalyse bei etwa mehr als der Hälfte der Patienten Punktmutationen im ABL-Gen, welche bei der Auswahl des TKI zur Zweitlinien- und allenfalls Drittlinientherapie hilfreich sein können. Patienten mit der Mutation T315I sind resistent auf die TKI Imatinib, Dasatinib und Nilotinib und wurden bisher mit Zytostatika, Interferon oder allogener Stammzelltransplantation behandelt. Mit dem Drittgenerations-TKI Ponatinib erreichte die Hälfte der Patienten mit resistenter CML in chronischer Phase und der Mutation T315I eine CCR. Eine Zulassung von Ponatinib wird 2013 erwartet (9).
Therapie der CML in chronischer Phase
Dieser Artikel fokussiert auf die Erstlinientherapie der CML in chronischer Phase. Bezüglich Therapieempfehlungen für fortgeschrittene Phasen und Indikationen zur allogenen Stammzelltransplantation wird auf aktuelle Guidelines verwiesen (10–12). Die Möglichkeit eines Absetzens einer TKI-Therapie bei anhaltend sehr gutem Ansprechen wurde in einem Educational am ASH 2012 eingehend diskutiert (13). Die Überlegenheit von Imatinib im Vergleich zu Interferon-Alpha und Cytarabin wurde in der IRIS-Studie (International Randomized Study of Interferon and STI571) aufgezeigt. Eine CCR innert 18 Monaten wurde mit Imatinib bei 76%, mit Interferon-Alpha und Cytarabin nur bei 15% erreicht (14). Die 5-JahresÜberlebensrate unter Imatinib betrug 89%. Knapp die Hälfte der Todesfälle war dabei nicht durch die CML bedingt (15). Imatinib 1 x 400 mg/Tag wurde daher vor 10 Jahren der Goldstandard für die Therapie der CML. Wegen vermehrter Nebenwirkungen wird eine Ersttherapie mit höher dosiertem Imatinib trotz rascheren CCR und MMR ausserhalb von Studien nicht empfohlen (16, 17). Die Zweitgenerations-TKI Dasatinib und Nilotinib wurden in Phase-III-Studien mit Imatinib 1 x 400 mg/Tag verglichen (Tabelle 4). Nilotinib erreichte in der ENESTnd-Studie häufiger eine CCR und eine MMR als Imatinib (18, 19). Im Verlauf beobachtete man mit Nilotinib seltener eine Progression als mit Imatinib. Nilotinib 2 x 300 mg/Tag wurde aufgrund dieser Daten als Erstlinientherapie der CML zugelassen. In der DASISION-Studie wurde Dasatinib 1 x 100 mg/ Tag mit Imatinib verglichen (20, 21). Mit Dasatinib wurden rascher und häufiger eine CCR und eine MMR beobachet als mit Imatinib. Dasatinib 1 x 100 mg/Tag wurde daraufhin ebenfalls zur Erstlinientherapie der CML in chronischer Phase zugelassen (benötigt aber eine Kostengutsprache der Krankenkasse).
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Tabelle 3: Folgende Meilensteine müssen unter TKI erreicht werden (3):
Zeitpunkt
3 Monate 6 Monate 12 Monate 18 Monate
hämatologisch CHR
Art des Ansprechens zytogenetisch mindestens minCR mindestens PCR CCR anhaltende CCR
molekularbiologisch1 (q-RT-PCR) < 10% BCR-ABL < 2% BCR-ABL < 1% BCR-ABL < 0,1% BCR-ABL (= MMR) Zu jedem dieser Zeitpunkte und auch bei späteren Kontrollen gelten der Verlust einer CHR, einer CCR und einer MMR sowie eine klonale zytogenetische Evolution oder der molekulare Nachweis von ABL-Mutationen mit Wirkungsverlust auf den verwendeten TKI als Therapieresistenz. 1 Werte für 3, 6 und 12 Monate nicht in ELN 2009 enthalten, sondern gerundet gemäss Hammersmith Hospital (7). Tabelle 4: Ansprechen auf Erstlinientherapie in Phase-III-Studien: Vergleich Imatinib mit Zweitgenerations-TKI (18–21, 28, 29) Parameter CCR 12 Monate CCR 24 Monate < 10% BCR-ABL 3 Monate < 10% BCR-ABL 6 Monate MMR 12 Monate MMR 24 Monate PFS 24 Monate OS 24 Monate Therapiewechsel 24 Monate * Statistisch signifikante Unterschiede ENESTnd Imatinib Nilotinib 65 80* 77 87* 67 91* 84 97* 27 55* 44 71* 95 98 96 97 33 26* DASISION Imatinib Dasatinib 73 85* 82 85 64 84* 83 89 28 46* 46 64* 92 93 95 95 25 23 Auswahl der Erstlinientherapie Derzeit stehen in der Schweiz drei TKI zur Ersttherapie der CML in chronischer Phase zur Verfügung. Sollen heute alle Patienten mit einem ZweitgenerationsTKI behandelt werden? Ist eine Therapie mit Imatinib 1 x 400 mg/Tag bereits obsolet? Wie soll der TKI zur Ersttherapie ausgewählt werden? Eindeutig wäre der Entscheid, wenn ein Präparat im Vergleich zur Konkurrenz einen Überlebensvorteil aufweisen würde, was bisher für keinen TKI aufgezeigt werden konnte. Bei Erkrankungen mit langem Überleben wie der CML unter TKI und der Möglichkeit eines Therapiewechsels werden oft Surrogatendpunkte für das Überleben verwendet, welche früher einen Einfluss auf Krankheitsprogression oder Überleben gezeigt haben. Bei CML sind solche Surrogatendpunkte die Qualität des Ansprechens wie CCR oder MMR und zunehmend auch MMR-4 oder MMR-4.5. Am ASH-Jahresmeeting 2012 wurden Daten vorgestellt, welche einen Einfluss der tieferen Remissionen auf die Krankheitsprogression (Verlust CCR bei 11% mit MMR, aber nur bei 7% mit MMR-4.5) und das Überleben (6-Jahres-Überleben bei MMR 84%, bei MMR-4.5 96%) zeigten. Dieser Effekt war unabhängig vom verwendeten TKI, wobei tiefere Remissionen mit Zweitgenerations-TKI häufiger erzielt wurden (22). Bei vergleichbarem Gesamtüberleben mit den einzelnen TKI können beim individuellen Entschied für ein bestimmtes Präparat die potenziellen Nebenwirkun- gen, die Akzeptanz der Einnahme durch den Patienten und die Kosten mitberücksichtigt werden (Tabelle 5). Nebenwirkungen der TKI Alle TKI führen zu zahlreichen, meist milden und gut behandelbaren Nebenwirkungen. Das Auftreten von Nebenwirkungen beeinflusst die Therapietreue der Patienten und diese wiederum die Ansprechrate und das Anhalten einer CCR und MMR (23, 24). Auch geringgradige Nebenwirkungen können bei Langzeittherapie für die Patienten von Bedeutung sein. Einige Nebenwirkungen können als Klasseneffekte betrachtet werden, da sie in unterschiedlicher Ausprägung bei allen TKI auftreten. Bei allen TKI kommt es initial zu einer Myelosuppression infolge der Wirkung auf die BCR-ABL-positive Hämatopoese. Müdigkeit, muskuloskeletale Schmerzen, gastrointestinale Beschwerden, Hautveränderungen und eine meist milde und oft vorübergehende Hepatotoxizität treten ebenfalls bei allen Präparaten auf. Selten kommt es zu einer TKI-bedingten Kardiotoxizität, welche den weiteren Einsatz von allen TKI verbietet. Empfehlungen für das Management der Nebenwirkungen der TKI wurden kürzlich publiziert (26). Mit Zweitgenerations-TKI wurden in industrieunterstützten Zulassungsstudien im Vergleich zu Imatinib über weniger Nebenwirkungen berichtet (18–21). Allerdings wurde bei einer vergleichbaren, erstaunlich hohen Anzahl von Patienten (ein Viertel bis ein Drittel 24 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 2/2013 Im Fokus: Leukämien bei Erwachsenen und Kindern Tabelle 5: Faktoren für die Auswahl eines bestimmten TKI als Ersttherapie der CML in chronischer Phase Präparat Imatinib Dasatinib Nilotinib Situationen, in denen die Wahl eines anderen TKI vorteilhaft scheint High-Risk-Score vorbestehende muskuloskeletale oder gastrointestinale Beschwerden Erkrankung mit Neigung zu Ödemen fehlende Kostenzusage der Krankenkasse Kardiopathie oder Pneumopathie mit schlechter Toleranz eines Pleuraergusses Autoimmunerkrankungen, Atopie, Allergien Blutungsrisiko (z.B. auch kombinierte Antikoagulation + Antiaggregation) manifeste Arteriosklerose Risikofaktoren für Arteriosklerose (Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Nikotin, arterielle Hypertonie, Adipositas) Pankreatitis (Kontraindikation!) Alle TKI sind in der Schwangerschaft strikt kontraindiziert. Bei Herzinsuffizienz und Arrhythmien (Risiko einer QT-Verlängerung unter TKI) sind engmaschige Kontrollen angezeigt. der Studienkollektive) innert zwei Jahren eine Therapieumstellung durchgeführt. Da Resistenzen unter Imatinib häufiger waren als unter ZweitgenerationsTKI, ist unklar, weshalb Letztere bei angeblich besserer Toleranz umgestellt wurden (Tabelle 4). Imatinib Imatinib muss in der Standarddosis von 400 mg nur einmal täglich eingenommen werden. Die Einnahme soll immer mit genügend Flüssigkeit und wegen besserer Verträglichkeit zusammen mit einer Mahlzeit erfolgen. Als hämatologische Nebenwirkung treten Neutropenien mit Imatinib häufiger auf als mit Nilotinib. Nebenwirkungen wie Übelkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen scheinen mit Imatinib häufiger als mit anderen TKI. Eine Flüssigkeitsretention wird öfters beobachtet, insbesondere Lid- und Gesichtsödeme, welche bei den anderen Präparaten kaum auftreten. Als Langzeitnebenwirkungen können gastrointestinale Beschwerden, muskuloskeletale Schmerzen oder Muskelkrämpfe für Patienten sehr belastend sein. Dasatinib Dasatinib in der Standarddosis von 100 mg wird einmal täglich mahlzeitenunabhängig eingenommen. Als hämatologische Nebenwirkung tritt eine Thrombozytopenie mit Dasatinib häufiger auf als mit Imatinib. Als nicht hämatologische Nebenwirkungen werden öfters gastrointestinale Beschwerden wie Diarrhö berichtet. Während das Auftreten von Pleuraergüssen mit anderen TKI sehr selten ist, werden mit Dasatinib bei etwa 25% der Patienten Pleuraergüsse beobachtet (in 5% Grad 3 bis 4). Sofern diese früh erkannt und behandelt werden, kann die Therapie meist nach einem kurzen Unterbruch, teilweise in reduzierter Dosis, fortgeführt werden. Unter Dasatinib wird ein gehäuftes Auftreten einer zum Teil irreversiblen pulmonalarteriellen Hypertonie beschrieben (27). Nilotinib Nilotinib, Dosis 2 x 300 mg, muss als einziger TKI zweimal täglich eingenommen werden, zudem zwei Stunden nach und mindestens eine Stunde vor einer Mahlzeit. Ob diese für einen Teil der Patienten aufwändige Therapie Einfluss auf die Compliance hat, ist nicht bekannt. Mit Nilotinib treten häufiger als mit anderen Präparaten Hautausschläge und Kopfschmerzen auf. Deutlich häufiger ist auch das Auftreten von Hyperglykämien und von Hypertriglyzeridämien. Trotz häufiger Erhöhung der Pankreasenzyme ist eine symptomatische Pankreatitis selten. Unter Nilotinib wird auch ein gehäuftes Auftreten einer peripher-arteriellen Verschlusskrankheit beschrieben, besonders bei Patienten mit vaskulären Risikofaktoren (28). Therapiekosten Die Jahrestherapiekosten von Imatinib (Glivec®) 400 mg sind mit 47 932 Franken etwas günstiger als diejenigen von Nilotinib (Tasigna®) 2 x 300 mg mit 52 847 Franken und deutlich günstiger als diejenigen von Dasatinib (Sprycel®) 100 mg mit 79 688 Franken. Zusammenfassung Die Zweitgenerations-TKI bieten im Vergleich zu Imatinib bei CML in chronischer Phase einen Vorteil mit früheren und etwas häufigeren CCR. Sie zeigen deutliche Vorteile bezüglich MMR, insbesondere auch von tieferen molekularen Remissionen wie MMR-4 und MMR-4.5. Bisher liegen nur erste Daten vor, dass das Erreichen dieser Endpunke zusätzlich zu einer CCR und einer MMR Vorteile bringen könnte. Solange kein Präparat einen Überlebensvorteil im Vergleich zu Imatinib erzielt, können prinzipiell alle drei Präparate als Ersttherapie eingesetzt werden. Die Wahl eines Präparates soll aufgrund von Komorbiditäten und der Toleranz von möglichen Nebenwirkungen unter Berücksichtigung der Präferenz des SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 2/2013 25 Im Fokus: Leukämien bei Erwachsenen und Kindern Patienten erfolgen. Falls sich bei den Standortbe- stimmungen nach 3 und 6 Monaten Hinweise erge- ben, dass das Therapieziel einer CRR und MMR vor- aussichtlich nicht erreicht wird, muss rechtzeitig eine Umstellung auf einen Zweitgenerations-TKI erfolgen. Da diese frühen Ziele bei Imatinib häufiger nicht er- reicht werden, ist hier ein konsequentes Monitoring besonders wichtig. Zweitgenerations-TKI können ebenfalls als Ersttherapie eingesetzt werden, in opti- mistischer Hoffnung, dass das frühe gute Anspre- chen langfristig vorteilhaft sein könnte. Falls unter TKI Nebenwirkungen auftreten und im relevanten Ausmass persistieren, soll eine Umstellung auf ein anderes Präparat erfolgen. ▲ Dr. med. Michael Gregor Hämatologische Abteilung Departement Medizin Luzerner Kantonsspital 6000 Luzern 16 E-Mail : michael.gregor@luks.ch Quellen: 1. Deininger MW, Goldman JM, Melo JV.: The molecular biology of chronic myeloid leukemia. Blood 2000; 96: 3343–56. 2. 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