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Forum Ethik in der Onkologie
Das neue Kinder- und Erwachsenenschutzrecht
Bedeutung für die Onkologie: ethische Reflexionen
Am 1. Januar 2013 ist das neue Kinder- und Erwachsenenschutzrecht in der Schweiz in Kraft getreten. Es hat unter anderem zum Ziel, die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten zu fördern, die Familiensolidarität zu stärken und urteilsunfähige Personen in Einrichtungen vermehrt zu schützen.
Im Folgenden werden die Auswirkungen auf die Behandlungs- und Betreuungsentscheide von Krebspatientinnen und -patienten aus ethischer Sicht dargestellt.
Die juristische Situation
In der Schweiz galt aufgrund des Verfassungsschutzes schon vor der Einführung des neuen Rechtes jede medizinische und pflegerische Massnahme an Patientinnen und Patienten grundsätzlich als Körperverletzung. Sie bedürfen daher der informierten Zustimmung (informed consent) durch den urteilsfähigen Patienten. Dadurch verlieren die Massnahmen ihre Widerrechtlichkeit. Juristisch bleibt aber der Tatbestand der Körperverletzung auch unter den neuen Rahmenbedingungen bestehen. Neu hingegen regelt das vor Kurzem in Kraft getretene Kinder- und Erwachsenenschutzrecht die Entscheidungsbefugnis in Situationen der Urteilsunfähigkeit. Galt bis anhin, dass der behandelnde Arzt respektive die behandelnde Ärztin stellvertretend für den urteilsunfähigen Patienten entscheiden konnte, so ist die Entscheidungsverantwortung in ZGB Art. 378 neu gemäss einer Kaskadenordnung des Gesetzes geregelt (siehe Kasten).
Zentrale Stellung der Patientenverfügung
Aufseiten der Ärzteschaft bleibt ihre Verantwortung unter Beizug der Stellvertretung des Patienten respektive der Patientin für die Erstellung des Behandlungsplans. Dabei sind die Ausführun-
Die Ausführungen in Patientenverfügungen sind
konsequent und unter Umständen auch gegen
den Willen von Angehörigen zu befolgen.
gen in Patientenverfügungen (PV) konsequent und unter Umständen auch gegen den Willen von Angehörigen zu befolgen. Das Alter der PV spielt dabei keine Rolle. In der für Krebspatientinnen und -patienten spezifisch von der Schweizerischen Krebsliga in Partnerschaft mit Dialog Ethik erarbeiteten Patientenverfügung sind: ▲ Angaben zur individuellen Werthal-
tung formuliert (Bedeutung von Leben, Sterben und Tod, Beziehungen, Körper, Glauben, Vorstellungen von Lebensqualität, Lebensund Ernährungsgewohnheiten); ▲ die Erwartungen an das behandelnde Team entlang spezifischer Behandlungsmassnahmen festgehalten (z.B. Linderung von unerträglichen Schmerzen, Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, lebensverlängernde Massnahmen, Reanimation, religiöse Handlungen). Die Interpretationshoheit bei unpräzisen Ausführungen in einer PV hat neu die darin genannte Stellvertretung. Die Stellvertretung ist gemäss Kaskadenordnung in jedem Fall – und auch dann, wenn keine Patientenverfügung vorliegt – in die Erstellung des Behandlungsplans so einzubeziehen, dass sie
Ruth Baumann-Hölzle
Andrea Abraham
dem vorgeschlagenen Behandlungsplan informiert zustimmen oder diesen auch ablehnen kann. Trotzdem hat der behandelnde Arzt eine erhöhte Sorgfaltspflicht gegenüber dem urteilsunfähigen Patienten/der urteilsunfähigen Patientin. Hat er den Eindruck, dass die Stellvertretung den Patientenwillen missachtet und/oder nicht die Interessen des Patienten vertritt, ist er verpflichtet, sich an die zuständige Erwachsenenschutzbehörde zu wenden.
Die schwierige Frage der Angemessenheit
Das neue Kinder- und Erwachsenenschutzrecht hat eine Entstehungszeit von mehr als 20 Jahren hinter sich. Darin dominieren das Bemühen um Schutz vor Integritätsverletzungen und eine stark defensive Haltung. Während die Abwehrrechte relativ eindeutig sind, müssen die Massnahmen «massgeschneidert» sein. Die Behand-
Die Behandlungsteams haben die Aufgabe,
gemeinsam mit urteilsfähigen Patienten respektive
der Stellvertretung bei urteilsunfähigen Patienten nach einer angemessenen Behandlung und Betreuung
zu suchen.
lungsteams haben die Aufgabe, gemeinsam mit urteilsfähigen Patienten (bzw. der Stellvertretung beim urteils-
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Forum Ethik in der Onkologie
unfähigen Patienten) nach einer angemessenen Behandlung und Betreuung zu suchen. Das Gesetz gibt aber keine Kriterien zur Beurteilung der Angemessenheit vor. Was als «angemessen» erachtet wird, hängt stark vom Lebensentwurf und den Wertvorstellungen der Betroffenen ab. Sie sind in einer pluralistischen Gesellschaft sehr unterschiedlich. Trotzdem kommt ein Staat letztlich nicht umhin, Minimalkriterien zu formulieren, wenn die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden in Konfliktsituationen eingeschaltet werden oder es gar zu Gerichtsfällen kommt. Es ist im Interesse aller Beteiligten, solche Situationen zu vermeiden.
Enttabuisierende Gesprächskultur
Mit einer offenen, respektvollen und professionellen Gesprächskultur in den Organisationen des Gesundheitswesens werden viele Konfliktsituationen aufgefangen oder gar vermieden. Werden dabei auch Leiden, Sterben und Tod nicht tabuisiert, ermöglicht dies für die Situation der allfällig eintretenden Urteilsunfähigkeit die Antizipation ethischer Dilemmas. Diese können mit dem noch urteilsfähigen Patienten besprochen, und seine Entscheide können in der Krankengeschichte und im Behandlungsplan festgehalten werden.
Mit einer offenen, respektvollen und professio-
nellen Gesprächskultur in den Organisationen des Gesundheitswesens werden viele Konfliktsituationen
aufgefangen oder gar vermieden.
Solch dokumentierte Ausführungen in der Krankengeschichte müssen vom Patienten nicht unterschrieben werden, haben aber das stärkste Entscheidungsgewicht. Wichtig ist auch, dass der urteilsfähige Patient nach seiner gewünschten Stellvertretung für den Fall der Urteilsunfähigkeit befragt wird, damit mühsames Suchen nach ihr und Konflikte in Situationen der Uneinigkeit der Angehörigen möglichst vermieden
Wer entscheidet beim urteilsunfähigen Patienten?
▲ Die folgenden Personen sind [nach ZGB, Art. 378] der Reihe nach berechtigt, die urteils-
unfähige Person zu vertreten und den vorgesehenen ambulanten oder stationären Massnahmen die Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern: 1. die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnete Person; 2. der Beistand oder die Beiständin mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen
Massnahmen; 3. wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner einen ge-
meinsamen Haushalt mit der urteilsunfähigen Person führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet; 4. die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet; 5. die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten; 6. die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten; 7. die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten.
▲ Sind mehrere Personen vertretungsberechtigt, so dürfen die gutgläubige Ärztin oder
der gutgläubige Arzt voraussetzen, dass jede im Einverständnis mit den anderen handelt.
▲ Fehlen in einer Patientenverfügung Weisungen, so entscheidet die vertretungsberech-
tigte Person nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person.
Nach ZGB Art. 379 «ergreift in dringlichen Fällen die Ärztin oder der Arzt medizinische Massnahmen nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person».
werden. Dies ist gerade für die Onkologie von besonderer Bedeutung, wenn die Hoffnung auf Genesung schwindet und das Versterben naht.
Der Nutzen ethischer Entscheidungsfindung
In den Entscheidungsfindungsprozessen für eine angemessene Behandlung und Betreuung kann die Ethik sehr hilfreich sein. Dabei werden je nach Entscheidungssituation ganz unterschiedliche Instrumente eingesetzt, welche von punktuellen Fallbesprechungen bis hin zu institutionalisierten Ethikforen reichen können. Bedeutsam ist dabei, dass diese Klärungsprozesse entlang transparenter, interdisziplinär ausgerichteter, definierter, unwillkürlicher und protokollierter Verfahren verlaufen, welche die Perspektiven- und Ansatzvarianz mit einschliessen (NEK 2011: 19; Baumann-Hölzle 1999: 211 f.). In komplexen und/oder kontroversen Entscheidungssituationen ist die Ethik als Reflexions- und Entscheidungsinstrument für die Beteiligten deshalb ein
wichtiges Mittel zur Verständigung und
Konsensfindung, damit der Gang zu
den neuen Kinder- und Erwachsenen-
schutzbehörden oder gar ein Rechts-
streit vermieden werden kann.
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Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle E-Mail: rbaumann@dialog-ethik.ch Institutsleiterin Dialog Ethik
und
Dr. des. Andrea Abraham Wissenschaftliche Mitarbeiterin E-Mail: aabraham@dialog-ethik.ch
Institut Dialog Ethik Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen Schaffhauserstrasse 418 8050 Zürich Internet: www.dialog-ethik.ch/
Literaturangaben:
Baumann-Hölzle, R.: Autonomie und Freiheit in der Medizin-Ethik. Immanuel Kant und Karl Barth. Freiburg, München 1999.
Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK): Patientenverfügung. Ethische Erwägungen zum neuen Erwachsenenschutzrecht unter besonderer Berücksichtigung der Demenz. Stellungnahme Nr. 17/2011. Bern: NEK.
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