Transkript
FORTBILDUNG
Symptomatische Therapien bei MS
Trotz den medizinischen Errungenschaften und der weltweit intensiv betriebenen Forschung ist die Multiple Sklerose (MS) nicht heilbar. Sie bleibt für viele Betroffene ein lebensbegleitendes, meist zur Invalidität führendes Leiden, welches mit anhaltenden Funktionsbehinderungen einhergeht. Die umfassende Betreuung des MS-Betroffenen darf nicht nur darin bestehen, eine der neuen immunmodulierenden Substanzen zu verschreiben, sondern muss auch die frühe und systematische Behandlung der Symptome umfassen. Falls indiziert, soll der Patient einem speziellen MS-Rehabilitationszentrum zugewiesen werden.
Claude Vaney
5/2014
von Claude Vaney
D ie klinischen Symptome der MS sind vielfältig, wobei zu Beginn der Erkrankung meist Missempfindungen, Sehstörungen und eine beeinträchtigte Gehfähigkeit auftreten. Im Verlauf können dann spastische Paresen, eine Ataxie, Blasen- und Sexualstörungen das klinische Bild beherrschen. Nicht selten sind auch die höheren Hirnleistungen betroffen, was Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, der Auffassungsgabe und der Gefühlswelt zur Folge haben kann. Nicht zuletzt ist auch die grosse Müdigkeit psychischer und physischer Art ein ständiger Begleiter des MS-Betroffenen. Die umfassende Betreuung des MS-Betroffenen muss auch die frühe und systematische Behandlung der Symptome umfassen. Falls indiziert, soll der Patient einem speziellen MS-Rehabilitationszentrum zugewiesen werden, zumal genügend klinische Evidenz besteht, dass ein individuell zugeschnittenes, stationäres Rehabilitationsprogramm nebst einer umfassenden Symptombehandlung auch durch funktionelle Gewinne entscheidend zur Wahrung der Autonomie und zur Verbesserung der Lebensqualität beiträgt.
Neuralgien und Missempfindungen Neuralgien lassen sich meist durch relativ einfache medikamentöse Therapien beeinflussen. Bei der Mehrzahl der betroffenen Patienten lässt sich zum Beispiel die Trigeminusneuralgie durch Medikamente wie Carbamazepin, Oxcarbazepin, Gabapentin, Pregabalin, Phenytoin u.a. unterbrechen oder zumindest auf ein erträgliches Mass mildern. Ist die Trigeminusneuralgie Ausdruck eines Schubs, so hat hier ein Steroidstoss seinen Platz. Während bei der klassischen idiopathischen Trigeminusneuralgie die neurochirurgischen Eingriffe (mikrovaskuläre Dekompression des Nervs, Injektion von Glycerin in das Ganglion Gasseri) zielführend sind,
konnte bei der MS nicht klar belegt werden, ob diese den medikamentösen Massnahmen überlegen sind. Missempfindungen: Lästige, an Rumpf und Extremitäten lokalisierte Missempfindungen, die als Schwellungs-, Panzer- oder Fremdgefühl beschrieben werden, finden sich in 20 Prozent der Fälle als erste Manifestation der MS. Diese Missempfindungen sind meist von zeitlich begrenzter Dauer und bedürfen keiner Behandlung. Viel störender sind schmerzhafte Missempfindungen brennender Art, auch Dysästhesien genannt, deren Ausbreitung nicht auf einen peripheren Nerv zu beziehen ist und die sich diffus an der betroffenen Extremität ausbreiten. Diese Missempfindungen entstehen wahrscheinlich durch eine fehlerhafte Weiterleitung von sensiblen Informationen im Bereich der demyelinisierten Rückenmarksfasern. Bei Dysästhesien helfen die gewöhnlichen Analgetika unzureichend. Hier haben die oben erwähnten Antiepileptika sowie andere – die zentrale Schmerzverarbeitung modulierende – Medikamente ihren Platz.
Spastik und Gangstörungen Spastik: Schmerzhafte Spasmen lassen sich häufig durch physiotherapeutische und medikamentöse Massnahmen günstig beeinflussen. Pathogenetisch stellt man sich vor, dass wegen der im ZNS verstreuten Entzündungsherde die übergeordneten Hirnzentren die untergeordneten Bewegungs- und Reflexzentren im Rückenmark ungenügend kontrollieren, was die etwas regellose Überaktivität in den «verwaisten» Rückenmarkzentren hervorruft. Manchmal ist bei der Spastizität diese Reflexaktivität derart erhöht, dass es zu rhythmischen Kontraktionen von Muskelgruppen (Klonus) kommt, beispielsweise beim Aufsetzen des Fussballens auf die Fussstützen des Rollstuhls. Die Erfahrung zeigt, dass Spastizität und erhöhter Muskeltonus kein konstantes Phänomen darstellen und im Rahmen eines
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
13
FORTBILDUNG
Schubs, bei schmerzendem Dekubitus, Obstipation, Angst oder bei starker Müdigkeit und insbesondere bei Harnwegsinfekten zunehmen können. Physiotherapie: Die bei MS-Betroffenen eingesetzten physiotherapeutischen Massnahmen zielen darauf ab, die durch die Spastizität hervorgerufenen schmerzhaften Muskelverspannungen zu lösen oder zumindest zu lindern und besonders bei den Schwerstbetroffenen den inaktivitätsbedingten Muskelverkürzungen durch krankengymnastische Handgriffe vorzubeugen. Nachhaltigkeit gewinnen diese Massnahmen besonders dann, wenn sie regelmässig durchgeführt werden und nicht nur während eines Reha-Aufenthalts oder bei der ambulanten Physiotherapie. Ein Heimprogramm mit geeigneten Übungen ist hier hilfreich. Stehtisch: MS-Betroffene, die nicht mehr alleine stehen oder gehen können, sollten regelmässig an einem Stehtisch stehen; dies dient als Kontrakturprophylaxe für Füsse, Knie, Hüfte und Rumpf. Neben der Tonussenkung wirkt das Stehen gegen die Entkalkungstendenz und fördert die Darmregulierung. Falls ambulant keine Therapie am Stehtisch durchgeführt werden kann, gibt es einfach zu montierende Wandstandings mit einem Halt an drei Punkten. Hippotherapie: Als besonders geschätzte und von den Krankenkassen übernommene Behandlungstechnik sei an dieser Stelle die Hippotherapie erwähnt, bei welcher die gleichmässig wiederkehrenden Bewegungen des Pferderückens tonusregulierend wirken. Besonders bei einem erhöhten Adduktorentonus wird das Reiten zur Lockerung der Beine beitragen. Neben den motorischen Zielen schult die Hippotherapie auch das Körperempfinden und stimuliert die Psyche, wenn die Welt mal wieder aus einer anderen Perspektive als vom Rollstuhl aus betrachtet werden darf. Alternative Methoden: Gelegentlich wird von Erfolgen alternativer Methoden bei störender Spastizität durch Yoga, Akupunktur, Fusszonenreflexmassagen, Qigong, Tai-Chi, Ultraschalltherapie oder die Feldenkrais-Methode berichtet. Für die Therapeuten und Schulmediziner ist die Kenntnis dieser Methoden wichtig, damit sie bei erwiesener Harmlosigkeit Toleranz walten lassen, aber bei bekannter Gefährlichkeit abraten können. Motomed®: Der Bewegungstrainer Motomed® erlaubt MS-Betroffenen, im Rollstuhl sitzend die Beine zu fixieren und Radfahrbewegungen auszuführen. Es können Bewegungstempo und -richtung, Gesamtdauer und Widerstand eingestellen werden. Ist der Widerstand durch die Spastik zu gross, hält der Apparat automatisch an oder fährt in der anderen Richtung zurück. Viele MS-Betroffene benutzen diesen Bewegungstrainer auch zu Hause ergänzend zur Therapie. Arzneimittel: Gegen die schmerzhaften Spasmen gibt es wirksame Arzneimittel, wobei man sich dabei stets auf eine Gratwanderung begibt zwischen erwünschter Reduktion des Muskeltonus und unerwünschter Verstärkung der Lähmungen. Es sollte beachtet werden, dass bei einer spastischen Paraparese ein Teil der Spastizität notwendig ist, um Stehen und Gehen überhaupt zu ermöglichen. Es ist deshalb notwendig und sinnvoll, eine gewisse stützende «Reststeifigkeit» zu belassen. Die komplexen pathophysiologischen Veränderungen im Rückenmark, welche der Spastizität zugrunde liegen, können allerdings nicht rückgängig gemacht werden,
und man darf nicht enttäuscht sein, wenn die Muskeln zwar etwas lockerer werden, aber die gestörte Feinmotorik weitgehend fortbesteht. Die sorgfältige Dosierung der Spastik-hemmenden Medikamente wie Baclofen, Dantrolene, Tizanidine und anderen und ihre Verteilung über den Tag muss für jeden MS-Betroffenen individuell festgelegt werden. Baclofen kann auch über ein spezielles Pumpsystem intrathekal verabreicht werden, wodurch sich eine Schwächung der Arme und Müdigkeit im Vergleich zur oralen Therapie reduzieren lassen. Beschränkt sich die Tonuserhöhung auf wenige umschriebene Muskelgruppen, ist eine lokale Anwendung von Botulinustoxin zu diskutieren. Das therapeutische Potenzial von Cannabinoiden bei Spastizität und Schmerzen wurde in jüngster Zeit in vielen randomisierten, plazebokontrollierten Studien nachgewiesen. Bei einigen neurodegenerativen Erkrankungen und insbesondere bei MS wurden pathologische Veränderungen im Endocannabinoid-System nachgewiesen, die sich durch exogene Cannabinoide therapeutisch beeinflussen lassen. Konkret nimmt man an, dass die durch Cannabinoide bewirkte Schmerzlinderung bei MS-Betroffenen direkt durch eine Reduktion der schmerzhaften Muskelspasmen, indirekt durch Hemmung von Schmerzbahnen sowie durch Entzündungshemmung erfolgt. Seit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes ist es in der Schweiz jedem Arzt möglich, beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Sonderbewilligung für die Verschreibung einer Cannabistinktur einzuholen, sofern die bisherigen Massnahmen nicht genügend wirksam waren. Das bereits in den meisten europäischen Ländern erhältliche Nabiximol (Sativex®), ein Cannabisspray, das die beiden wichtigsten Cannabinoide enthält, ist seit Kurzem ebenfalls in der Schweiz – ohne Sonderbewilligung des BAG – verschreibbar. Allerdings ist dies nur via Betäubungsmittelrezept möglich und ohne Gewähr, dass die Kassen für das relative teure Medikament (ca. 500.–/Monat) aufkommen. Das Medikament Fampridin (4-Aminopyridin retard) ist in der EU, nicht jedoch in der Schweiz zugelassen. Dieser Kaliumkanalblocker verbessert die Leitfähigkeit demyelinisierter Axone. Es führt bei manchen Patienten zu einer Verbesserung motorischer Funktionen, hat zum Teil aber auch positive Effekte auf Kognition und Fatigue und erhöht die Lebensqualität einiger Patienten. Nach einer Woche kann evaluiert werden, ob das Medikament einem Patienten hilft. Häufig sind die Krankenkassen im Erfolgsfall bereit, den Import des Präparates zu finanzieren.
Tremor Während Muskelspasmen meist mit physiotherapeutischen oder medikamentösen Massnahmen relativ erfolgreich gelindert werden, gibt es einige Symptome, wie beispielsweise einen starken Intentionstremor, welche sich kaum oder nur mit grossem Aufwand günstig beeinflussen lassen. Nach einem meist empirischen Versuch, den Tremor mit Clonazepan, Isoniacid oder einem Betablocker zu dämpfen, wird man in besonders schweren Fällen einen neurochirurgischen, stereotaktischen Eingriff in Erwägung ziehen. Ein Ansatz ist die Implantation von Sonden für die elektrische Stimulation ins Thalamusgebiet, wobei letztere Methode mit weniger
&14 5/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Nebenwirkungen behaftet ist und funktionell bessere Resultate liefert als die Thalamotomie.
Blasen- und Sexualstörungen Der stark invalidisierende imperative Harndrang und die Inkontinenz, weswegen manch ein MS-Betroffener sich kaum noch aus seinen vier Wänden wagt, können durch den Einsatz von Anticholinergika wie Oxybutinin, Tolterodine, Tropsiumchlorid, Propiverin oder Darifenacin angegangen werden. Die Anticholinergika unterdrücken die gesteigerte Reflexaktivität der Blase. Vor der Behandlung sollte allerdings geprüft werden, ob nicht ein Harnwegsinfekt vorliegt und ob der Betroffene genügend Flüssigkeit zu sich nimmt. Vor dem Einsatz solcher Substanzen ist immer der Restharn sonografisch zu kontrollieren (Zielwert < 150 ml). Ideal lässt sich der Einsatz solcher Substanzen auch mit dem Selbstkatheterisieren kombinieren. Anticholinergisch wirkende Medikamente können als unerwünschte Wirkungen eine Mundtrockenheit und Störungen des Gedächtnisses hervorrufen. Ebenfalls bewährt hat sich die reversible «Lahmlegung» der Blase durch intravesikal gespritztes Botox. Dank diesen verschiedenen Behandlungen oder letztlich dem Einlegen eines Katheters durch die Bauchwand (Cystofix) sind diese lästigen vegetativen Störungen zu einer etwas «salonfähigeren» Behinderung geworden. Bei fast allen Patienten mit Gangstörungen liegen auch Blasenfunktionsstörungen vor, auch schon häufig bei weniger stark Betroffenen. Daher sollte die Indiktion zu einer neurourologischen Beurteilung niederschwellig gestellt werden. Bei der erektilen Dysfunktion können Substanzen wie Sildenafil, Tadalafil oder Verdanafil mit einem gewissen Erfolg angeboten werden. Hingegen gibt es keine einfachen Methoden, um die verloren gegangene Libido wieder wachzurufen. Es sollte in der Beratung nicht vergessen werden, dass Sexualität nicht reduzierbar ist auf somatische Reaktionen. Um es salopp zu formulieren: Sex spielt sich primär im Kopf ab. Das Gespräch mit dem MS-Kranken hat die Intimität zum Thema, die Sexualität ist ein Teil davon. Die Beratung in der Rehabilitation sollte auch ganz praktische Ratschläge umfassen. So können Frauen die verminderte Feuchtigkeit der Vagina durch Gels beheben. Auch andere Stimulationsmethoden wie Masturbation, oraler Sex oder die Verwendung eines Vibrators gehören in das Repertoire einer Beratung. Man sollte vermeiden, ein geringes oder fehlendes sexuelles Interesse als krankhaft anzusehen, wenn beide Partner daran keinen Anstoss nehmen und wenn ihre Bindung auf anderen Säulen ruht. Es geht in der Beratung von MS-Betroffenen nicht darum, ein «normales Sexualleben» – wenn es das überhaupt gibt – herzustellen, sondern die Teilhabe am Spiel der Geschlechter dort zu unterstützen, wo es von den Betroffenen erwünscht ist.
Die unsichtbaren Symptome der MS
Die «unsichtbaren» Symptome der MS wie die Hitze-
empfindlichkeit (Uthoff-Phänomen) und rasche Ermüd-
barkeit sollten hingegen eher durch einfache Ver-
haltensregeln als medikamentös angegangen werden.
Entschliesst man sich zu einer medikamentösen Be-
handlung, ist es unumgänglich, andere evidente Ursa-
chen wie Fieber im Rahmen eines Infekts, eine andere
externe Überwärmung, eine Sedierung durch Medika-
mente und vor allem eine Depression auszuschliessen
beziehungsweise zu behandeln. Eingesetzt werden
können Amantidin, aktivierende Antidepressiva, 4-Ami-
nopyridin oder Modafinil. Diese Medikamente sind je-
doch nicht zur Behandlung der Fatigue zugelassen, sind
teils mit Risiken verbunden und teils auch teuer. Daher
gehört die Verschreibung in die Hand von erfahrenen
Ärzten.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med Claude Vaney, FMH Neurologie
Chefarzt der neurologischen Rehabilitations-
und MS-Abteilung
Berner Klinik Montana
3963 Crans-Montana
E-Mail: vaney.claude@bernerklinik.ch
Literaturangaben auf Anfrage unter: info@rosenfluh.ch
Merksätze:
G Die umfassende Betreuung des MS-Betroffenen muss auch die frühe und systematische Behandlung der Symptome einschliessen. Falls indiziert, in einem speziellen MS-Rehabilitationszentrum.
G Neuralgien lassen sich meist durch relativ einfache medikamentöse Therapien beeinflussen.
G Bei Dysästhesien haben zentrale, die Schmerzverarbeitung modulierende Medikamente ihren Platz.
G Spasmen reagieren günstig auf physiotherapeutische Massnahmen; bei schmerzhaften Spasmen gibt es wirksame Arzneimittel.
G Starker Intentionstremor lässt sich kaum oder nur mit grösstem Aufwand günstig beeinflussen.
&16 5/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE