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Neuropsychologie bei Multipler Sklerose
Während kognitive Störungen bei Multipler Sklerose (MS) lange Zeit sowohl im Klinik- als auch im Forschungskontext vernachlässigt wurden, hat man heute ein differenzierteres Bild der MS, bei dem kognitive, psychosoziale sowie psychiatrische Aspekte einschliesslich Fatigue eine gesonderte Beachtung finden. Massgeblich stimuliert durch den Nachweis axonaler Schäden und kortikaler Läsionen, hat die Neuropsychologie bei MS an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung steht im Einklang mit Bestrebungen, die Patienten nicht nur symptomorientiert zu behandeln, sondern darüber hinaus ihre kognitive Leistungsfähigkeit so lange wie möglich zu wahren und damit einen Beitrag zur Verbesserung der psychosozialen und der sozioökonomischen Situation des Patienten zu leisten. So stellt die Neuropsychologie einen unverzichtbaren Bestandteil der Diagnostik und der Therapiekontrolle bei MS dar.
Sarah Dinah Broicher
5/2014
von Sarah Dinah Broicher
Geschichte und Relevanz kognitiver Beeinträchtigungen bei MS
D ie Multiple Sklerose (MS) gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen mit chronischem Verlauf. Sie ist durch entzündliche Demyelinisierung, Axonschaden und neuronalen Verlust charakterisiert. Durch die autoimmune Entzündung sowie die Entmarkung wird eine komplexe Immunkaskade in Gang gesetzt, an deren Ende sich axonale Degeneration und damit assoziierte neurologische Defizite finden (1). Die MS ist gekennzeichnet durch ein breites und interindividuell stark variierendes Symptomspektrum wie ophthalmologische, sensomotorische, vegetative und kognitive Dysfunktionen. Bei der Mehrzahl der Patienten manifestiert sich die MS im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, woraus sich auch bedeutsame sozialmedizinische Folgen ergeben (2). Gerade nicht motorische Symptome wie kognitive Defizite, Fatigue und depressive Störungen sind häufig bereits im Frühstadium nachweisbar und führen zu Einschränkungen der Lebensqualität und der Arbeitsfähigkeit (3). Charcot (4) nannte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts kognitive Auffälligkeiten wie Gedächtnisstörungen, allgemeine Verlangsamung und verringerte Konzeptbildungsfähigkeit als MS-typisch. Dennoch wurde die Diagnostik kognitiver Störungen bei MS-Betroffenen lange Zeit sowohl im Klinik- als auch im Forschungskontext vernachlässigt. Erst in den letzten Jahren hat die Bestimmung der kognitiven Leistungsfähigkeit in der täglichen Praxis sowie in klinischen Studien zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Kognitive Beeinträchtigungen bei MS Je nach Untersuchungstechnik und untersuchtem Patientenkollektiv erleiden 40 bis 70 Prozent der MS-Betroffenen kognitive Störungen. Es steht ausser Zweifel, dass die kognitive Leistungsfähigkeit sich während eines Schubes und kurz danach massgeblich verschlechtern kann (5). Die Reversibilität kognitiver Defizite ist begrenzt, und bestenfalls bleiben diese stabil, sobald sie sich einmal ausserhalb der akuten Schubphase manifestiert haben. Bekanntermassen sind Patienten mit chronisch-progredienter gegenüber der schubförmig-remittierenden Verlaufsform stärker betroffen (6), wobei Art und Ausmass der Defizite relativ unabhängig vom körperlichen Behinderungsgrad zu sein scheinen (7). MS-Betroffene können Beeinträchtigungen in unterschiedlichen kognitiven Domänen einschliesslich Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeits-, Lern-/Gedächtnis- sowie Exekutivfunktionen wie Planung und Ausführung komplexer Aufgaben oder Problemlösen aufweisen (3). Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und visuell episodisches Gedächtnis scheinen die am häufigsten betroffenen Funktionsbereiche darzustellen, wohingegen Intelligenz und Sprachfunktionen wie Benennfähigkeit oder Sprachverständnis meistens weitgehend erhalten bleiben (6).
Mögliche Determinanten kognitiver Beeinträchtigungen bei MS Strukturelle und funktionelle Veränderungen: Die Magnetresonanztomografie (MRT) gehört heute zu den wichtigsten diagnostischen Methoden zur Aufdeckung und Darstellung von pathologischen Befunden bei MS. Strukturelle zerebrale Abnormitäten aufgrund demyeli-
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nisierender und neurodegenerativer Prozesse der MS schliessen fokale, makroskopische Läsionen und diffus im Gehirn verteilte Entzündungsherde in der normal erscheinenden weissen Substanz (NAWM) sowie Gesamthirn-, gewebespezifische und regionale Atrophie ein (8, 9). Obwohl die MS traditionell als eine Erkrankung der weissen Substanz interpretiert wird, gilt es aufgrund methodischer Fortschritte mittlerweile als gesichert, dass pathologischen Veränderungen der grauen Substanz im Krankheitsprozess eine entscheidende Rolle zukommt (10). Durch den Einsatz der Hochfeld-MRT in Kombination mit speziellen Pulssequenzen wie der Double Inversion Recovery (DIR) können diese kortikalen Läsionen besser dargestellt und quantifiziert werden. Ähnlich wie bei Läsionen in der weissen Substanz scheint die Akkumulation dieser kortikalen Veränderungen von hoher klinischer Relevanz zu sein, da sie mit dem Grad der körperlichen Behinderung und der kognitiven Leistungsfähigkeit in Verbindung stehen. Über MRT-Marker der Atrophie, wie beispielsweise eine Erweiterung des dritten Ventrikels oder eine Volumenminderung der grauen und der weissen Substanz, wurde konsistent als mit neuropsychologischen Testwerten korrelierend berichtet (11, 12). Neben den strukturellen werden auch funktionelle Hirnveränderungen bei MS-Patienten nachgewiesen, wobei erste Studien auf abweichende Hirnaktivierungsmuster im Sinne einer vermehrten Aktivierung neuronaler Netzwerke hindeuten, was als kompensatorischer Mechanismus interpretiert wird (3). Auch eine Veränderung der strukturellen Konnektivität zwischen entfernten Hirnarealen, nachgewiesen mittels Diffusions-TensorBildgebung (DTI), oder der funktionellen beziehungsweise effektiven Konnektivität, nachgewiesen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), Elektroenzephalografie (EEG) oder Magnetoenzephalografie (MEG), kann die Informationsverarbeitung bei MS in Assoziation mit einer Vielzahl an neurologischen Prozessen beeinträchtigen.
Depression und Fatigue Differenzialdiagnostisch müssen mögliche konfundierende Faktoren, die kognitive Defizite vortäuschen oder verstärken können, wie Depressivität, körperliche und geistige Fatigue sowie Medikamentennebenwirkungen abgegrenzt werden. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund der negativen Auswirkungen dieser Faktoren auf Lebensqualität, Erwerbstätigkeit und Rehabilitationserfolg. Im klinischen Alltag können die Anwendung von kürzeren Testbatterien sowie der Einsatz standardisierter Fragebögen zur Erfassung und Beurteilung einer Depression wie die Allgemeine Depressionsskala in der Langform (ADS; 13) oder einer Fatigue beispielsweise mit dem Würzburger Erschöpfungsinventar bei MS (WEIMuS; 14) oder der Fatigue Severity Scale (FSS; 15) dabei helfen, diese konfundierenden Faktoren zu identifizieren und auf diese Weise zu kontrollieren. Dennoch bleibt zu berücksichtigen, dass insbesondere die Fatigue ein subjektives, schwer zu objektivierendes Empfinden ist, was eine umfassende Exploration durch einen erfahrenen Untersucher erfordert. Neben strukturellen und funktionellen Veränderungen, Depression, Fatigue sowie anderen krankheitsbezogenen Variablen können auch individuelle Reservekapazi-
täten die kognitive Leistungsfähigkeit bei MS beeinflussen (16).
Neuropsychologische Diagnostik kognitiver Funktionen bei MS In den letzten 20 Jahren konnten signifikante Fortschritte in Detektion, Quantifizierung und Monitoring kognitiver Symptome bei MS-Betroffenen erzielt werden. Möglich gemacht haben das nicht zuletzt die Entwicklung und die Validierung sensitiver und reliabler neuropsychologischer Testverfahren, die auf die «Kerndefizite» der MS – vor allem Aspekte der Aufmerksamkeit, der Verarbeitungsgeschwindigkeit und des Gedächtnisses – ausgerichtet sind. Die Untersuchung verschiedener exekutiver Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, verbale und figurale Ideenproduktion sowie visuell-räumliche Wahrnehmung sollten dabei ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Hierbei sollten lediglich Testverfahren eingeschlossen werden, für die genügend grosse Normstichproben vorliegen. Wie bereits erwähnt, ist es wichtig, kognitive Störungen stets in Abgrenzung von Fatigue und Depression zu beurteilen. Da kognitive Defizite bereits früh im Erkrankungsverlauf auftreten können, ist eine ausführliche Diagnostik auch in der Frühphase der Erkrankung angebracht, und regelmässige Verlaufskontrollen unter anderem zur Objektivierung etwaiger Therapieeffekte sind sinnvoll. Diagnostische neuropsychologische Algorithmen, die die Anwendung von Screeningverfahren zur Detektion kognitiv beeinträchtigter Patienten, gefolgt von einer ausführlichen neuropsychologischen Diagnostik, vorsehen, stellen in der klinischen Praxis den Goldstandard dar. Screeningverfahren wie beispielsweise der MUSIC (Multiple Sklerose Inventarium Cognition [17]) erlauben eine zeit- und kosteneffiziente Beurteilung des neurokognitiven Status und können von geschultem medizinischem Personal durchgeführt werden. Eine ausführliche Untersuchung der kognitiven Leistungen ist hingegen sehr zeitaufwendig und sollte von einem ausgebildeten klinischen Neuropsychologen durchgeführt und bewertet werden. Bis heute besteht kein internationaler Konsens über ein standardisiertes Vorgehen bei der Diagnostik kognitiver Funktionen bei MS-Erkrankten, da kognitive Leistungstests kulturkreisspezifisch und somit nicht global einsetzbar sind. Eine Initiative, die zum Ziel hat, eine kurze international anwendbare Testbatterie für Kognition bei MS zu etablieren, stellt das Brief International Cognitive Assessment for Multiple Sclerosis dar (BICAMS [18]), das sich aus dem Symbol Digit Modalities Test (SDMT [19]), dem California Verbal Learning Test II (CVLT II [20]) und dem Brief Visual Memory Test Revised (BVMT-R [21]) zusammensetzt.
Therapierbarkeit kognitiver Defizite bei MS Die therapeutischen Möglichkeiten zur Vermeidung oder zur Reduktion vorhandener Defizite sind zurzeit noch begrenzt. Während hinsichtlich der frühen kausalen Therapie davon ausgegangen wird, dass diese das Entstehungsrisiko für kognitive Symptome verringern beziehungsweise die Progredienz der Defizite bremsen kann, sind symptomatische Therapien bis anhin kaum systematisch untersucht. Die MultipleSklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG) nennt
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folgende Therapieziele bei kognitiven Defiziten im Rah-
men einer MS:
1) Training, um die kognitiven Funktionen je nach Defi-
zitmuster zu erhalten
2) Vermittlung von Strategien zur Kompensation von
Defiziten
3) Vermeidung sekundärer Partizipationsstörungen und
4) Verminderung subjektiven Leidensdrucks.
Die Vermittlung von Entspannungsverfahren, die Be-
handlung etwaiger psychiatrischer Komorbiditäten
sowie die Einbeziehung von Bezugspersonen bezie-
hungsweise eine allfällige Beratung von
Vorgesetzten/Arbeitgebern können den Therapiepro-
zess zusätzlich unterstützen.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. Sarah Dinah Broicher
Neuropsychologie
UniversitätsSpital Zürich
Klinik für Neurologie
Frauenklinikstrasse 26
8091 Zürich
E-Mail: sarahdinah.broicher@usz.ch
Merksätze:
G Kognitive Defizite, Fatigue und depressive Störungen sind häufig bereits im Frühstadium der MS nachweisbar und führen zu Einschränkungen der Lebensqualität und der Arbeitsfähigkeit.
G Kognitive Störungen wurden lange Zeit sowohl im Klinik- als auch im Forschungskontext vernachlässigt.
G Die Entwicklung und die Validierung sensitiver und reliabler neuropsychologischer Testverfahren hat signifikante Fortschritte erzielt.
G Die therapeutischen Möglichkeiten zur Vermeidung oder zur Reduktion vorhandener Defizite sind zurzeit noch begrenzt.
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