Transkript
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Aktuelle Studien – kurz gefasst
«Lancet»-Serie über die klinische Forschung: «Increasing value, reducing waste»
Es gibt Handlungsbedarf in der klinischen Forschung – dies wurde in einer im Januar 2014 im «Lancet» publizierten Artikelreihe festgehalten (1–4). Laut den Autoren werden 85 Prozent der in die biomedizinische Forschung investierten Mittel weltweit verschwendet. Im Fokus ist dabei nicht nur die Grundlagenforschung, sondern vor allem die patientenorientierte oder auch klinische Forschung.
Problembereiche: Probleme werden von den Autoren in fünf verschiedenen Bereichen geortet: G Fehlende Relevanz: Viele klinische Studien
werden durchgeführt, ohne dass dabei eine für die Behandlung von Patienten relevante Frage untersucht wird. Zudem wird der aktuelle Forschungsstand oft nicht genügend recherchiert, dies zum Teil aus Zeitmangel, zum Teil aufgrund des grossen Publikationsdruckes. So werden zu viele Studien durchgeführt, die den aktuellen Forschungsstand ausser Acht lassen und somit bereits Bekanntes wiederholen. G Falsches Design: Ein weitverbreitetes Problem ist die mangelnde methodische Qualität vieler Studienprojekte. Es gibt zu viele Studien, die wegen kleiner Patientenzahlen keine statistische Aussagekraft erreichen oder wegen falscher statistischer Analysemethoden keine korrekten Resultate aufzeigen. G Regulatorische Hürden: Die zunehmende «Über»-Regulierung in der klinischen Forschung ist eine weitere grosse Baustelle. Durch ständig zunehmende Vorschriften wird der Start einer klinischen Studie oft verzögert und der Studienablauf kompliziert. Jungen Nachwuchsforschenden fehlt deshalb oft die Motivation und die Zeit, ein grösseres klinisches Forschungsprojekt überhaupt zu beginnen. G Ungenügende Publikation: Ein weiteres grosses Problem betrifft die Publikationen: Viele klinische Studien werden nie publiziert, vor allem diejenigen mit Negativresultaten. Damit gehen wichtige Erkenntnisse verloren. G Ungenügende Berichte: Und zuletzt ist die häufig mangelhafte Qualität von Studienberichten zu beklagen, die es nicht erlauben, sich ein objektives Bild über die untersuchte Fragestellung und die Ergeb-
nisse einer Studie zu machen. Daher ist es oft nicht möglich, korrekte Konsequenzen für die Behandlung der Patienten abzuleiten.
Kommentar: Trifft diese Kritik auch auf die Schweiz zu, und wenn ja, was kann unternommen werden, um diese Situation zu verbessern?
In der Schweiz ist der Ruf nach Qualitätsverbesserung in der klinischen Forschung schon lange ein Thema. Der Schweizerische Nationalfonds hat vor diesem Hintergrund bereits 2006 eine erste Initiative gestartet: Mit seiner Anschubfinanzierung wurde an allen Schweizer Universitätsspitälern und dem Kantonsspital St. Gallen die Einrichtung von sogenannten Clinical Trial Units (CTU) vorangetrieben. Als Kompetenzzentren für die klinische Forschung unterstützen die CTU klinische Forscher bei der methodischen Planung sowie der behördlichen Genehmigung und Durchführung klinischer Forschungsprojekte. Mittlerweile sind die CTU an den jeweiligen Standorten fest etablierte Anlaufstellen für klinische Forscher und decken mit ihrem Dienstleistungsangebot alle Bereiche ab, die für die Durchführung klinischer Forschungsprojekte innerhalb der ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen unerlässlich sind.
Registrierungspflicht Mehr Transparenz über das, was auf nationaler Ebene in der klinischen Forschung passiert, soll zudem das im Januar 2014 eingeführte neue Humanforschungsgesetz bringen. Mit der nun gesetzlich verankerten Registrierungspflicht für sämtliche prospektive Studien wird es erstmals möglich, sich einen vollständigen Überblick über die aktuelle Forschungslandschaft zu verschaffen. Dies hilft nicht nur beim Aufdecken nicht publizierter Studien, sondern kann auch die gleichzeitige Durchführung ähnlicher Projekte durch unterschiedliche Forschungsgruppen verhindern.
Kulturwandel nötig Die Einrichtung von CTU und eine neue Forschungsgesetzgebung alleine greifen jedoch zu kurz, um die Qualität in der klinischen Forschung nachhaltig zu verbessern. Parallel zum Ausbau der Unterstützungsangebote braucht
es auch einen Kulturwandel innerhalb der klinischen Forschungsgemeinschaft, der es erlaubt, mögliche Schwachstellen im System zu erkennen und systematisch anzugehen. Die Gründung von Departementen für klinische Forschung an den Medizinischen Fakultäten der Schweiz ist ein Zeichen für diesen Kulturwandel. So wurde beispielsweise in Basel die klinische Forschung neu organisiert und in einem eigenen Departement zusammengefasst. Neu soll die strategische Stossrichtung der klinischen Forschung in engem Austausch zwischen Forschern und Forschungsdienstleistern festgelegt werden. Fragen der Forschungsqualität stehen dabei an erster Stelle.
Problem der Finanzierung Parallel zu diesen lokalen Initiativen reagieren auch der Bund und der Nationalfonds auf die neuen Herausforderungen. Die Sicherstellung einer hochstehenden Forschungsqualität soll nicht länger ausschliesslich von den Universitäten finanziert werden. Die langfristige Finanzplanung des Bundes sieht vor, die Bereitstellung einer geeigneten Infrastruktur für die klinische Forschung an den Universitätsspitälern direkter zu unterstützen. Zudem sollen die verschiedenen Aktivitäten auf nationaler Ebene koordiniert und zusammengefasst werden. Diese Entwicklung ist sehr zu begrüssen, da sie neben einem effizienteren Umgang mit vorhandenen Ressourcen den auf lokaler Ebene angestossenen Kulturwandel auf nationaler Ebene weiterführt.
Qualität statt Quantität In dieselbe Richtung zeigt die jüngst vom Schweizer Nationalfonds unterzeichnete DORADeklaration (Declaration on Research Assessment). Dabei handelt es sich um eine internationale Initiative, die sich dazu bekennt, die wissenschaftliche Gesamtleistung eines Gesuchsstellers als bedeutend wichtiger zu erklären als die Anzahl der Publikationen oder das Renommee der Zeitschrift, in der sie abgedruckt wurde. Qualität ist wichtiger als Quantität: Dies ist ein sehr wichtiges Signal, das dem enormen Publikationsdruck den Wind aus den Segeln nehmen könnte, der auch von den «Lancet»-Autoren als Quelle vielerlei Übels genannt wird. Es darf nicht zu einseitig gewichtet werden, wie viel jemand publiziert hat und wie hoch die entsprechenden «Impact factors»
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sind. Die Qualität der Forschungsarbeit muss im Vordergrund stehen.
Systematische Aus- und Weiterbildung Unerwähnt geblieben ist bisher ein weiterer Punkt, der unserer Einschätzung nach für die nachhaltige Qualitätsverbesserung in der klinischen Forschung von zentraler Bedeutung ist: die systematische Aus- und Weiterbildung kommender Generationen klinischer Forscher. Studenten und junge Nachwuchsforscher sollen die Möglichkeit erhalten, bereits im Medizinstudium oder in einem speziellen PhDStudium fundiertes Wissen in klinischer Forschung zu erwerben. Relevante klinische Forschung neben einem vollen klinischen Pensum als Assistenzärztin oder Assistenzarzt zu gestalten, ist unmöglich. Es braucht daher genügend Freistellung vom klinischen Pensum und die Schaffung von Freiräumen für die Forschung. Parallel dazu muss auch das in die Studienplanung und -durchführung federführend involvierte Studienfachpersonal Aus- und Weiter-
bildungsmöglichkeiten erhalten, verbunden mit spezifischen und geeigneten Karrieremöglichkeiten.
Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die zu Beginn erwähnten Problembereiche in der klinischen Forschung in der Schweiz erkannt sind. Es bestehen auf verschiedenen Ebenen wichtige Bestrebungen, die Probleme anzugehen und zu lösen. Erste vielversprechende Massnahmen sind bereits erfolgt, sowohl universitär als auch auf Ebene des Bundes. Die nächsten Jahre werden zeigen, welche dieser Massnahmen die grösste Auswirkung auf die Qualität der klinischen Forschung in der Schweiz haben werden und wo weitere Kurskorrekturen notwendig sind.
Prof. Mirjam Christ-Crain und Prof. Christiane PauliMagnus, Co-Leiterinnen des Departementes Klinische Forschung, Universitätsspital Basel, Universität Basel
E-Mail: Mirjam.Christ@usb.ch
Referenzen:
1. Research: increasing value, reducing waste 1: How to increase value and reduce waste when research priorities are set, Iain Chalmers, Michael B Bracken, Ben Djulbegovic, Silvio Garattini, Jonathan Grant, A Metin Gülmezoglu, David W Howells, John P A Ioannidis, Sandy Oliver; Lancet 2014; 383: 156–65.
2. Research: increasing value, reducing waste 2: Increasing value and reducing waste in research design, conduct, and analysis, John P A Ioannidis, Sander Greenland, Mark A Hlatky, Muin J Khoury, Malcolm R Macleod, David Moher, Kenneth F Schulz, Robert Tibshirani; Lancet 2014; 383: 166–75.
3. Research: increasing value, reducing waste 3: Increasing value and reducing waste in biomedical research regulation and management, Rustam Al-Shahi Salman, Elaine Beller, Jonathan Kagan, Elina Hemminki, Robert S Phillips, Julian Savulescu, Malcolm Macleod, Janet Wisely, Iain Chalmers; Lancet 2014; 383: 176–85.
4. Research: increasing value, reducing waste 4: Increasing value and reducing waste: addressing inaccessible research, An-Wen Chan, Fujian Song, Andrew Vickers, Tom Jefferson, Kay Dickersin, Peter C Gøtzsche, Harlan M Krumholz, Davina Ghersi, H Bart van der Worp. Published online January 8, 2014 http://dx.doi.org/10.1016/S01406736(13)62296-5.
Kriege und Konflikte: Schweissen sie zusammen?
Wird eine Gruppe angegriffen, dann sind die Betroffenen umso hilfsbereiter untereinander, das scheinen auch viele Anekdoten aus Kriegszeiten zu bezeugen. Aber was ist dran an diesem aus der Not geborenen Altruismus? Britische Forscher haben dies in einem Experiment (1) mit Protestanten und Katholiken im nordirischen Belfast überprüft – mit überraschendem Ergebnis: Egal, wie gross die Angst vor Anschlägen und die Feindschaft waren, die Hilfsbereitschaft gegenüber Angehörigen der eigenen Gruppe veränderte sich nicht. Zumindest für rein altruistische Handlungen stimmt daher der Volksglaube des «Zusammenschweissens» offenbar nicht, so die Schlussfolgerung der Wissenschaftler. Für das erste Experiment gaben sich Mitarbeiter der Studie als Spendensammler aus, die entweder Gelder für eine katholische oder protestantische Grundschule oder aber für eine neutrale Organisation – ein Kinderhilfswerk – sammelten. Allen Teilnehmern wurde dabei nach dem Zufallsprinzip nur eine dieser Möglichkeiten angeboten. Die Forscher wollten dadurch herausfinden, ob und wie der Konflikt die
Spendenbereitschaft veränderte. Im zweiten Experiment gingen die Forscher noch verdeckter vor: Sie platzierten an verschiedenen Tagen und Tageszeiten in 22 Stadtvierteln Belfasts scheinbar «verloren gegangene» Briefe auf dem Gehsteig. Diese waren frankiert und an fiktive konfessionelle oder neutrale Hilfsorganisationen adressiert. Ob vorbeigehende Passanten den Brief aufheben und einstecken, verrät etwas über ihre Hilfsbereitschaft – und ob sie sich durch die konfessionelle oder neutrale Adresse beeinflussen lässt.
Ergebnisse sind überraschend Das Ergebnis des Experiments war in einer Hinsicht wie erwartet, in einer andern aber überraschend: Je grösser die empfundene Bedrohung durch die andere Konfession, desto weniger geneigt waren die Bewohner Belfasts, gegenüber den jeweils «anderen» hilfsbereit zu sein: Sie spendeten seltener für die Grundschule der anderen Konfession und steckten auch die Briefe an die fiktive «gegnerische» Hilfsorganisation weniger häufig ein. Das entspricht damit durchaus der Hypothese des pa-
rochialen Altruismus. Ganz anders aber innerhalb der Gruppen: Statt wie erwartet unter Bedrohung eine erhöhte Hilfsbereitschaft zu zeigen, bleiben die Belfaster Katholiken und Protestanten immer gleich hilfsbereit oder egoistisch. In den subjektiv besonders konfliktträchtigen und bedrohten Vierteln wurden genauso viele an die «eigene» Hilfsorganisation gerichtete Briefe abgegeben wie in denjenigen, in denen die Menschen eher entspannt mit dem Konfessionsstreit umgingen. Bei den Spenden sah es ähnlich aus, wie die Forscher berichten. Zumindest in diesem Experiment war damit von einem «Zusammenschweissen» nichts zu spüren. Der aus der Not geborene Altruismus scheint damit deutlich weniger ausgeprägt, als es die Anekdoten und die landläufige Meinung glauben lassen.
Quelle: Bild der Wissenschaft: www.wissenschaft .de
1. Antonio Silva und Ruth Mace (University College London), Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, doi: 10.1098/rspb.2014.1435
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