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FORTBILDUNG
Interview mit Bundesrichter Prof. Dr. iur. Ulrich Meyer
Freier Wille aus Sicht der Justiz und seine Auswirkungen auf die Rechtsprechung
Die wissenschaftliche Diskussion, ob es den freien Willen gibt oder nicht, beschäftigt die Philosophie seit dem Altertum. Den unterschiedlichen Positionen in Wissenschaft und Philosophie steht allerdings ein allgemeiner Konsensus gegenüber: dass unbekannt ist, ob es den freien Willen gibt oder nicht, aber bekannt ist, dass er sich durch psychisch-geistige Störungen, durch äussere Situationen und Sanktionen beeinflussen lässt. Wie stellt sich der freie Wille aus Sicht der Justiz dar? Und welche Auswirkungen hat er auf die Rechtsprechung? Ein Gespräch mit Prof. Dr. iur. Ulrich Meyer, Bundesrichter an der II. sozialrechtlichen Abteilung in Luzern.
Psychiatrie & Neurologie: Trotz aller Zweifel und mangelnder Evidenz scheint es mir, dass man am freien Willen doch gerne festhält. Wie ist das bei Ihnen? Was würde es für den Rechtsanwender bedeuten, wenn die Wissenschaft herausfinden würde, dass der Wille nicht frei, sondern determiniert ist? Prof. Dr. iur. Ulrich Meyer: Ich äussere meine persönliche Meinung: Die Rechtsordnung beruht auf der Annahme, dass die Rechtsgenossen verantwortlich handeln können. Das setzt Urteilsfähigkeit respektive Schuldfähigkeit voraus. Im germanischen Strafrecht zum Beispiel verhielt es sich anders, dieses war geprägt durch ein reines Erfolgsprinzip: Der jeweilige «Erfolg» einer Handlung – zum Beispiel die Verletzung eines Menschen – wurde nach einem festen Tarif sanktioniert. Es stand also die Kausalität im Vordergrund, nicht die Frage, ob die Tat vorwerfbar ist oder nicht; diese Frage wurde gar nicht gestellt. Vielmehr war der Straftarif nach der Art des durch die Tat bewirkten Erfolges differenziert: So zog ein ausgeschlagener Zahn im Unterkiefer eine höhere Strafe nach sich als einer im Oberkiefer, da er neben der Einschränkung der Kaufunktion zusätzlich Speichelfluss verursachte. Erst viel später kam die Frage nach der Schuldfähigkeit im Strafrecht und der Urteilsfähigkeit im Zivilrecht auf. Nur bei Urteilsfähigkeit können die Betroffenen für ihre Handlung und deren Folgen einstehen. Die Rechtsordnung beruht in einem modernen Rechtssystem, in einem Rechtsstaat, auf der Annahme, dass die Urteilsfähigkeit gegeben ist; dabei handelt es sich um einen relativen Begriff, das heisst es ist immer in Bezug auf eine konkrete Handlung, ein bestimmtes Rechtsgeschäft und so weiter zu prüfen, ob jemand urteilsfähig ist oder nicht.
Was sind das für «besondere Fälle», in welchen der Rechtsanwender davon ausgeht, dass die Urteilsfähigkeit aufgehoben ist?
Ulrich Meyer
Ulrich Meyer: Die Urteilsfähigkeit wird vermutet, das Gegenteil muss bewiesen sein. Urteilsfähig im Sinne des Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln (Art. 16 ZGB). Bei der Beurteilung, ob sie aufgehoben ist, werden kognitive und voluntative Aspekte der Urteilsfähigkeit geprüft, an kognitiven die Erkenntnisfähigkeit und die Wertungsfähigkeit, an voluntativen – und diese sind für unsere heutige Diskussion von Bedeutung – die Fähigkeit zur Willensbildung und die Willenskraft. Das Konzept der Urteilsfähigkeit hat damit auch medizinische Wurzeln. Sinngemäss gilt das auch für das Strafrecht in Bezug auf die Schuldfähigkeit, also die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen und – hier kommt wieder das voluntative Moment – gemäss dieser Einsicht zu handeln (Art. 19 StGB).
Lagen die von Ihnen erwähnten Grundsätze auch dem Modell zugrunde, dass bei gesundheitlichen Einschränkungen, insbesondere bei pathogenetisch ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage, die Überwindbarkeit unter Aufbietung des ganzen Willens – von welchem wir
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nicht wissen, ob er nun frei sei oder nicht – grundsätzlich vorausgesetzt wird? Ulrich Meyer: Die Formulierung von der «Überwindbarkeit des Leidens» stammt aus der in den 1980er Jahren ausgelaufenen Neurosepraxis und ist insofern überholt. Es geht allein – das ist mir wichtig zu betonen – um die Voraussetzung, ob die Betroffenen trotz ihres Leidens arbeiten können oder nicht. Für den Rechtsanwender ist es deshalb von grosser Bedeutung, ob es im Einzelfall eine medizinische Evidenz dafür gibt, dass die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen objektiv eingeschränkt ist. Juristisch gesehen handelt es sich dabei letztlich um ein Beweisproblem: Ist die Anspruchsgrundlage bewiesen? Die Beweislast liegt hierbei beim Antragsteller, welcher nicht den Vollbeweis zu erbringen hat; es genügt die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Für die Beweiswürdigung durch den Rechtsanwender ist es wichtig, dass der Sachverhalt medizinisch umfassend abgeklärt wird. Sollte sich daraus nach den geltenden Beweisregeln der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ergeben, dass das Vorliegen einer psychischen Störung eine Arbeitstätigkeit ausschliesst und diese Störung nicht reversibel, also nicht therapierbar ist, würde ich diesen Nachweis als erfüllt betrachten. Vorwegnehmen kann man allerdings das Ergebnis nie, weil die ärztlichen Angaben der freien Beweiswürdigung durch den Rechtsanwender unterliegen. Was auch mit Blick auf deren Varianz aus Gründen der Rechtsgleichheit geboten ist. Dabei gilt es zu unterscheiden: Die Beurteilung des Gesundheitszustandes und seiner Entwicklung im Laufe der Zeit ist Sache des Arztes beziehungsweise des medizinischen Gutachters. Die Arbeits(un)fähigkeit hingegen legt er nicht abschliessend fest; vielmehr nimmt er dazu Stellung, das heisst, er gibt eine Schätzung ab und begründet diese aufgrund seiner Erkenntnisse so substanziell wie möglich. Im Hinblick auf die hohe Varianz der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsschätzungen, die in der Natur der Sache liegt, ist es unabdingbar, dass der Rechtsanwender diese mit aller Sorgfalt beweiswürdigend prüfen und sich – unter pflichtgemässer Angabe der Gründe – unter Umständen auch davon entfernen kann. Schliesslich sind die ärztlichen Angaben eine wichtige Grundlage für die juristische Beurteilung zumutbarer Arbeitsleistungen.
In Ländern, in welchen ein HWS-Distorsionstrauma nicht versichert ist, soll es kaum Fälle mit diesem Leiden geben. Auf der anderen Seite sind in DSM-5 plötzlich Störungen aufgeführt, welche zuvor als nicht krankhaft galten, nur damit sie behandelt werden können, sodass A. Frances, ein Kritiker von DSM-5, von «Normalität im Belagerungszustand» spricht. Unterliegen Krankheitsverständnis und Therapierbarkeit nicht auch gesellschaftlichen und gesetzlichen Kontextfaktoren? Ulrich Meyer: Alle diese von Ihnen erwähnten Entwicklungen in Medizin und Gesellschaft bedeuten für den Vollzug der Sozialversicherungsgesetze eine grosse Herausforderung. Wie das schon erwähnte Neurosemodell ist zwangsläufig auch die Antwort des Gesetzgebers darauf, die Abfindung, bedeutungslos geworden. Art. 23 des Unfallversicherungsgesetzes (UVG), wonach eine Abfindung bezahlt wird, wenn aus der Art des Unfalls und dem Verhalten des Versicherten davon ausgegan-
gen werden kann, dass er durch eine einmalige Abfindung wieder erwerbsfähig wird (Abs. 1), ist heute praktisch toter Buchstabe. In der Invalidenversicherung, wo es keine Abfindung gibt, wurde die Invalidenrente in solchen Fällen früher immer verweigert – zuletzt Bundesgerichtsentscheid/BGE 106 (1980) V S. 89 ff. Heute ist man daran, das mit dem Wegfall des Neurosemodells entstandene Vakuum auszufüllen. Dabei ist eines klar: Ein rein subjektives Krankheitsverständnis ist hierfür nicht ausreichend, weil es keine den erwähnten Beweisgrundsätzen genügende Basis darstellt.
Was würde der Rechtsanwender in Anbetracht laufender interdisziplinärer Arbeiten von uns Medizinern zur Erstellung von Gutachtenleitlinien für «funktionelle Störungen», also für psychosomatische Störungen, welche einer nachweisbaren organischen Grundlage entbehren, erwarten? Ulrich Meyer: Einen wissenschaftlich erarbeiteten medizinischen Grundsatzkonsens der ganzen schweizerischen Psychiatrie über diese Fragen. Das ist umso wichtiger, als der Gesetzgeber im Rahmen der 5. IV-Revision (2008) Art. 7 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) einen zweiten Absatz eingefügt hat, laut dem für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen sind und eine Erwerbsunfähigkeit zudem nur vorliegt, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.
In medizinischen Kreisen wird moniert, dass die sogenannten Foerster-Kriterien, welche vom Bundesgericht formuliert wurden, nicht geeignet sind, die Frage der «willentlichen Überwindbarkeit» zuverlässig zu klären, und vor allem, dass sie über die somatoformen Schmerzstörungen hinaus zunehmend auf weitere psychiatrische Krankheitsbilder ausgeweitet werden, so zum Beispiel auf Depressionen. Ulrich Meyer: Der Rechtsanwender braucht einen medizinisch gesicherten Beweis, dass die Betroffenen dauernd nicht mehr arbeiten können, also eine klare Stellungnahme, ob beispielsweise eine irreversible Depression vorliegt. Falls ja, in welchem Ausmass? Und vor allem mit welchen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit, auch nach entsprechender geeigneter Behandlung? Diese Fragen werden von der Medizin kontrovers beantwortet. Damit hat der Rechtsanwender ein Beweisproblem, das im Hinblick auf den Charakter der Invalidenrente als einer Dauerleistung – geschuldet, unter Revisionsvorbehalt, Art. 17 Abs. 1 ATSG, bis zum Eintritt ins AHV-Alter – ernst genommen werden muss. Insofern ist der Entscheid über die Rente von grösserer Bedeutung als jener über die Abfindung, die höchstens dem dreifachen Betrag des versicherten Jahresverdienstes entspricht. Zur Schliessung der Erklärungslücke hat sich die Rechtsprechung an durchaus medizinische Faktoren angelehnt, um eine Abgrenzung – wer leistungsberechtigt ist und wer nicht – vorzunehmen. Klagen und Beschwerden allein genügen nicht als Grundlage, um eine Rente zuzusprechen. Der Gesundheitsbegriff nach WHO schliesst auch das soziale Wohlbefinden mit ein. Das damit verbundene
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zirkuläre Krankheitsmodell – somatische, psychische und soziale Faktoren beeinflussen sich gegenseitig, unter Umständen im Sinne eines Circulus vitiosus – kollidiert, wie sogleich gezeigt wird, mit dem Invaliditätsbegriff nach schweizerischem Recht. Andere Länder kennen dieses Problem nicht, weil sie die Erwerbsunfähigkeitsleistungen abstrakt, das heisst ohne Rücksicht auf die erwerblichen Folgen, nach einem Tarif bemessen, dem der medizinische Befund selbst zugrunde liegt, zum Beispiel der Invaliditätstarif in der französischen Berufsunfallversicherung, welcher bei anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbaren Beschwerdebildern mögliche funktionelle Einschränkungen von 3 bis höchstens 20 Prozent taxiert, wogegen bei uns für solche Leiden auch heute bis zu 100-prozentige Invaliditätsleistungen gesprochen werden, wenn die Voraussetzungen nach der Rechtsprechung (BGE 130 [2004] V 352, 139 [2013] V 547) erfüllt sind. Der Grund für diese Unterschiede: Das schweizerische Recht folgt dem Konzept der erwerblich konkreten Invalidität. Das heisst, es ist in jedem einzelnen Fall zu prüfen, wie sich eine gesundheitliche Beeinträchtigung für die versicherte Person auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auswirkt. Entsprechend muss auch in jedem einzelnen Fall die ärztliche Gutachterin zu dieser kardinalen Frage Stellung nehmen. Die diesem Rechtsmodell inhärente kausale Beziehung bringt das Invalidenversicherungsgesetz (IVG) seit 1960, woran das 2003 in Kraft getretene ATSG nichts geändert hat, klar zum Ausdruck: Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen – nicht der sozialen – Gesundheit verursachte Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt (vgl. Art. 7 Abs. 1 ATSG). Das zirkuläre Krankheitsmodell unterläuft diese gesetzlich verankerte Kausalität. Die Invalidenversicherung ist nur insofern final, als es nicht auf den Grund der Invalidität ankommt, welche Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein kann; Art. 4 Abs. 1 IVG. Hierin liegt der Grund, dass die Rechtsprechung eine rentenbegründende Invalidität verneint, sofern, soweit und solange die Soziogenie des Leidens ausschlaggebender Hinderungsgrund für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit darstellt (BGE 127 [2001] V 294). Andernfalls bestünde Redundanz zwischen versicherter Erwerbsunfähigkeit und nicht versicherter Erwerbslosigkeit. Die Invalidenrente übernähme die Funktion eines staatlich garantierten Mindesteinkommens, was nicht mehr innerhalb der Ratio legis des IVG liegt. Vielmehr bleibt in solchen Fäl-
len, wo rechtlich nicht auf Invalidität geschlossen werden kann, das andere grosse System der Grundsicherung unserer sozialen Sicherheit, die Sozialhilfe, in der Pflicht. Eine allfällige strategische Neuausrichtung ist Sache des demokratisch legitimierten Verfassungs- und Gesetzgebers.
Sehen Sie einen Weg, wie die Rechtsprechung in Bezug auf die zur Diskussion stehenden Störungsbilder wieder mehr Akzeptanz bei den Medizinern erhalten könnte? Und was erwartet der Rechtsanwender von uns Medizinern bei diesem Prozess? Ulrich Meyer: Es ist ausserordentlich wichtig, im Zuge ständigen interdisziplinären Diskurses der beiden Schwesterwissenschaften Medizin und Recht und im Konsensus der Fachgesellschaften untereinander dem Rechtsanwender medizinische Grundlagen zur Verfügung zu stellen, damit die Grenzen zwischen krank und gesund, zwischen erheblich und nicht erheblich, zwischen dauerhaft und nicht dauerhaft, zwischen gesundheitlichen und nicht gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf einer tragfähigen Basis beurteilt werden können. Die bereits vorliegenden Leitlinien und vor allem jene, welche nun speziell für die zur Diskussion stehenden Störungen erarbeitet werden, könnten eine solche wichtige Grundlage für den Rechtsanwender schaffen, geeignet, um aufgrund von breit akzeptierten medizinischen Kriterien einen Massstab festzusetzen, welcher den Beweisnotstand des Rechtsanwenders mindern würde. Daher scheint mir wichtig, einen gesamtschweizerischen Dialog hierüber zu führen, innerhalb der medizinischen Fachgebiete, innerhalb der Jurisprudenz, aber auch zwischen Medizin und Recht, wie wir das hier soeben gemacht haben.
Sehr geehrter Herr Professor Meyer, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. med. Gerhard Ebner.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Gerhard Ebner M.H.A
Medizinischer Leiter Rehaklinik
5454 Bellikon E-Mail: gerhard.ebner@hin.ch
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