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Konversionsstörungen: «Wer ist Herr im eigenen Hause?» – von Charcot zu DSM-5
FORTBILDUNG
An Konversionsstörungen leidende Patienten suchen potenziell Ärzte aller Fachgebiete auf. Beschrieben wurden diese Krankheitsbilder erstmals von bedeutenden Neurologen. Heute finden sie sich klassifikatorisch bei den psychiatrischen Erkrankungen. Es bleibt zu hoffen, dass die Verbindung aus historischer Herleitung und aktuellen Forschungsbefunden die Bedeutung psychoanalytischer Konzepte in der gesamten Medizin wieder erhöhen wird.
Klaus Hoffmann
von Klaus Hoffmann
D er Titel «Wer ist Herr im eigenen Hause?» zitiert Sigmund Freuds Aussage aus «Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse»: dass die Wissenschaft den Menschen kosmologisch (seit Nikolaus Kopernikus ist die Erde nicht mehr der Mittelpunkt der Welt), biologisch (seit Charles Darwin ist der Mensch «nichts anderes und nichts Besseres als die Tiere») und schliesslich psychologisch wesentlich kränke: «Aber die beiden Aufklärungen, dass das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist und dass die seelischen Vorgänge an sich unbewusst sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus. Sie stellen miteinander die dritte Kränkung der Eigenliebe dar, die ich die psychologische nennen möchte.» (GW XII: 11) Konversionsstörungen, die Betroffene und ihre Umgebung massiv beherrschen und ohnmächtig machen können, wurden erstmals als solche von Freud in seiner Arbeit «Die Abwehr-Neuropsychosen» (1894) definiert: «Bei der Hysterie erfolgt die Unschädlichmachung der unverträglichen Vorstellung dadurch, dass deren Erregungssumme ins Körperliche umgesetzt wird, wofür ich den Namen der Konversion vorschlagen möchte.» (GW I: 63) Konversionen sind in der psychiatrischen und psychoanalytischen Literatur seither eng verknüpft mit dem Krankheitsbild der Hysterie, das in den letzten 120 Jahren verschiedene Begriffsänderungen erlebte. Sie sind ferner seither verbunden mit der traumatologischen Ursache: «Die Konversion kann eine totale oder partielle sein und erfolgt auf jene motorische oder sensorische Intervention hin, die in einem innigen oder mehr lockeren Zusammenhang mit dem traumatischen Erlebnis steht. Das Ich hat damit erreicht, dass es widerspruchsfrei geworden ist, es hat sich aber dafür mit einem Erinnerungssymbol belastet, welches als unlösbare motorische Innervation oder als stets wiederkehrende halluzinatorische Sensation nach Art eines
Parasiten im Bewusstsein haust und welches bestehen bleibt, bis eine Konversion in umgekehrter Richtung stattfindet.» (GW I: 63f )
«Die Entdeckung des Unbewussten» von Charcot Jean-Marie Charcot, dem wir bis heute eindrucksvolle Beschreibungen hysterischer Zustände verdanken, leitete ab 1882 eine eigenständige neurologische Abteilung an der Pariser Universitätsklinik Salpétrière, es handelte sich um die erste in Europa. Freud arbeitete in den Jahren 1885 und 1886 bei ihm und erwähnte ihn häufig. In seiner grossen Monografie «Die Entdeckung des Unbewussten» (1970) widmete Henry E. Ellenberger Charcot ein Unterkapitel (2005: 143–161) und bezeichnete ihn als bedeutendsten Neurologen seiner Zeit, nach dem bis heute neurologische Krankheitsbilder benannt sind (Charcot-Fuss et al). Spektakulär waren seine Heilungserfolge bei den später von Freud als Konversionen bezeichneten Störungen wie den hysterischen Lähmungen. Charcot machte diese Krankheit zum Objekt wissenschaftlicher Forschung und heilte sie durch Suggestion. «In den Augen der Öffentlichkeit war Charcot der Mann, der die Abgründe der menschlichen Seele erforscht hatte, daher sein Spitzname: ‹Napoleon der Neurosen.›» (Ellenberger 2005: 151). Wegen seiner Erfolge wurde er einerseits angefeindet, anderseits scheint er zwar die Macht der Suggestion geschätzt, die Möglichkeiten der Täuschung aber zu wenig berücksichtigt zu haben. Freud veröffentlichte 1893 in der «Wiener Medizinischen Wochenschrift» einen Nachruf, in dem er unter anderem aus heutiger Sicht zutreffend anmerkte: «Es hiess, bei der Hysterie ist alles möglich, und den Hysterischen wollte man nichts glauben. Die Arbeit Charcots gab dem Thema zunächst seine Würde wieder; man gewöhnte sich allmählich das höhnische Lächeln ab, auf das die Kranke damals sicher rechnen konnte; sie musste nicht mehr eine Simulantin sein, da Charcot mit seiner vollen Autorität für die Echtheit und Objektivität der hysterischen Phänomene eintrat.» (GW I: 30).
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FORTBILDUNG
Der Begriff der Dissoziation Den in der aktuellen internationalen Klassifikation ICD-10 synonym verwandten Begriff der Dissoziation prägte 1889 der französische Philosoph, Psychiater und Psychotherapeut Pierre Janet, ein Schüler und Nachfolger Charcots. Seine Definition als Trennung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten samt den entsprechenden Folgen ist bis heute gültig. Freud griff Janets Konzepte nur rudimentär auf und kritisierte, dass dieser trotz seiner guten Beschreibungen nur rein biologische Ursachen anerkenne (z.B GW VIII: 230).
Konversion in DSM-IV (300.11) und -5 DSM-IV und DSM-5 folgen der von Freud und der Psychoanalyse geprägten Einordnung, führen im Unterschied zum ICD-10 die Konversionsstörungen als Unterkapitel der somatoformen Störungen und fassen sie wie folgt zusammen: A. Eines oder mehrere Symptome oder Ausfälle der
willkürlichen motorischen oder sensorischen Funktionen, die einen neurologischen oder sonstigen medizinischen Krankheitsfaktor nahelegen. B. Ein Zusammenhang zwischen psychischen Faktoren und dem Symptom oder Ausfall wird angenommen, da Konflikte oder andere Belastungsfaktoren dem Beginn oder der Exazerbation des Symptoms oder des Ausfalls vorausgehen. C. Das Symptom oder der Ausfall wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht. D. Das Symptom oder der Ausfall kann nach adäquater Untersuchung nicht vollständig durch einen medizinischen Krankheitsfaktor, durch die direkte Wirkung einer Substanz oder als kulturell sanktionierte Verhaltens- oder Erlebnisformen erklärt werden. E. Das Symptom oder der Ausfall verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen, oder es legitimiert eine medizinische Abklärung. F. Das Symptom oder der Ausfall ist nicht auf Schmerz oder eine sexuelle Funktionsstörung begrenzt, tritt nicht ausschliesslich im Verlauf einer Somatisierungsstörung auf und kann nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden.
Und weiter: «Konversionssymptome betreffen die willkürlichen motorischen oder sensorischen Funktionen und werden daher als ‹pseudoneurologisch› bezeichnet. Zu den motorischen Symptomen oder Ausfällen zählen Koordinations- oder Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen oder umschriebene Muskelschwäche, Aphonie, Schluckschwierigkeiten oder Klossgefühl im Hals sowie Harnverhaltung. Sensorische Symptome oder Ausfälle umfassen den Verlust der Berührungsoder Schmerzempfindung, das Sehen von Doppelbildern, Blindheit, Taubheit sowie Halluzinationen. (…) Je geringer das medizinische Wissen der betroffenen Person ist, desto weniger plausibel sind die auftretenden Symptome (…)» (517). In Übereinstimmung mit der psychoanalytischen Diskussion werden die dissoziativen Störungen in DSM-IV und DSM-5 unter 300.12 als eigenständige Entität benannt, unabhängig von den Konversionsstörungen. Das DSM-5 liegt bisher nur in der englischen Version vor.
Den Konversionen ist dort deutlich weniger Raum gewidmet als im DSM-IV. Auch fehlt jeder Hinweis auf die Kausalität der Symptome. Die Beschreibung: «Medically unexplained symptoms remain a key feature in conversion disorder (…) because it is possible to demonstrate definitely in such disorders that the symptoms are not consistent with medical pathophysiology» (2013: 310) ist missverständlich, zählen psychologische Erklärungen doch auch zu wissenschaftlichen Befunden und zeigen Konversionen doch auch in modernen bildgebenden Verfahren möglicherweise pathologische Veränderungen. Entsprechend kritisch schreibt Richard Majou im Editorial des «British Journal of Psychiatry» im Juni 2014: «DSM-5 is a modest improvement on DSM-IV, notably in abandoning the distinction between medically explained and unexplained symptoms, but problems remain. The chapter text is incoherent, contradicts the classification and will be clinically unhelpful.» (BrJP 2014 [204]: 418) «A more useful psychiatric classification would have neutrally named categories based on positive psychological criteria. It would also take account of very similar psychological and behavioural reactions to proven organic illness» (418). Es ist hier gefordert, ohne direkt auf Freud Bezug zu nehmen, endlich wieder psychologische und traumatologische Ursachen als wissenschaftlich seriös anzuerkennen und entsprechend zu benennen.
Konversion im ICD-10 F44 heisst im ICD-10 «Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)», die beiden Begriffe werden somit im Unterschied zum DSM-IV und -5 gleichgesetzt, der Begriff Dissoziation steht vor der Klammer, in der Beschreibung mischen sich die beiden im DSM-IV und -5 getrennten Krankheitsbilder, allerdings werden psychologische und traumatologische Ursachen gleich benannt: «Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder Konversionsstörungen besteht in teilweisem oder völligem Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen. Alle dissoziativen Störungen neigen nach einigen Wochen oder Monaten zur Remission, besonders wenn der Beginn mit einem traumatisierenden Lebensereignis verbunden war. Eher chronische Störungen, besonders Lähmungen und Gefühlsstörungen, entwickeln sich, wenn der Beginn mit unlösbaren Problemen oder interpersonellen Schwierigkeiten verbunden ist (…). Sie werden als ursächlich psychogen angesehen, in enger Verbindung mit traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen. Die Symptome verkörpern häufig das Konzept der betroffenen Person, wie sich eine körperliche Erkrankung manifestieren müsste (…).» Einleuchtend werden die diagnostischen Kriterien formuliert: «G 1. Kein Nachweis einer körperlichen Krankheit, welche die für diese Störung charakteristischen Symptome erklären könnte. G 2: Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den dissoziativen Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen.» Unter diese dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) fallen auch die dissoziative Amnesie (F44.0), die dissoziative Fugue (F44.1), der dissoziative Stupor
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(F44.2), Trance- und Besessenheitszustände (F44.3), dissoziative Bewegungsstörungen (F44.4), dissoziative Krampfanfälle (F44.5), dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6), dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) gemischt (F44.7). Zu den anderen dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) (F44.8) zählen das Ganser-Syndrom, die multiple Persönlichkeitsstörung, transitorische dissoziative Störungen sowie sonstige andere dissoziative Störungen.
Konversion in aktuellen psychotherapeutischen Diskussionen Wenngleich Freud selbst die Ubiquität traumatischer Erfahrungen bei der Entstehung von Neurosen später zugunsten einer Dynamik innerpsychischer Repräsentanzen aufgab, blieb die theoretische wie praktischklinische Arbeit mit an Konversionsstörung Leidenden eine wichtige Domäne der Psychoanalyse – gerade die heutige Neurobiologie zeigt ja die lange bekannte Dialektik zwischen äusserer Traumatisierung, innerer Bereitschaft und dem traumatophilen Wiederholungszwang mit eindrucksvollen Bildern, die die heutige Scientific Community bereitwilliger zu glauben scheint als die auf historisch-explorativem Weg entstehenden Befunde der Psychoanalyse. Immer wieder zeigen Untersuchungen, dass Konversionsstörungen mit der zunehmenden Modernisierung sozialer Strukturen abnehmen, wobei ziemlich parallel aktive Selbstschädigungen zunehmen (Paris 2000). Das aktuellste deutsche «Lehrbuch der Psychotraumatologie» von Gottfried Fischer und Peter Riedesser, 2009 in der vierten Auflage erschienen, verwendet den Begriff Konversion gar nicht und schildert auch keine entsprechenden klinischen Bilder. Es ist ausschliesslich von dissoziativen Störungen als Folge von Traumata und deren Diagnose und Behandlung die Rede. Vor allem die International Society for Psychological and Social Approaches to Psychoses (ISPS), die auch eine aktive schweizerische und deutsche Gruppe umfasst, greift im Zusammenhang mit entsprechenden neuen Forschungen die Traumatogenese psychotischer Erkrankungen auf, sozusagen als auch neurobiologisch sichtbare Konversion psychischer Traumata und Konflikte auf Gehirnstruktur und -funktion.
An Konversionsstörungen leidende Patienten suchen
potenziell Ärzte aller Fachgebiete auf, beschrieben wur-
den diese Krankheitsbilder erstmals von bedeutenden
Neurologen. Heute finden sie sich klassifikatorisch bei
den psychiatrischen Erkrankungen. Vielleicht kann die
Verbindung aus historischer Herleitung und aktuellen,
auch neurobiologischen Befunden die Bedeutung psy-
choanalytischer Konzepte in der gesamten Medizin
wieder befördern, nachdem sich in der Psychiatrie die
Anzeichen gemehrt haben, dass auf die «Decade of the
brain» eine «Decade of the mind» folgen könnte. G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Klaus Hoffmann
Med. Direktor Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Leiter Institut für Psychoanalyse, Zürich – Kreuzlingen
apl.-Professor, Universität Konstanz
Zentrum für Psychiatrie Reichenau
Feursteinstrasse 55
D-78479 Reichenau
Tel. 0049-(0)7531 977 418
E-Mail: k.hoffmann@zfp-reichenau.de
Literatur:
American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition (DSM-4). Washington DC 1994: American Psychiatric Publishing. Auf deutsch: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM IV. Deutsche Bearbeitung und Einführung von Henning Sass, Hans-Ulrich Wittchen und Michael Zaudig. Göttingen: Hogrefe, 1996 und 1998.
American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-5). Washington DC 2013: American Psychiatric Publishing.
Ellenberger HE: The Discovery oft he Unconscious – The History and Evolution of Dynamic Psychiatry. New York 1970: Basic Books. Auf Deutsch: Die Entdeckung des Unbewussten – Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Zürich: Diogenes, 2005.
Fischer G, Riedesser P.: Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. aktualisierte und erweiterte Auflage 2009. München, Basel: Reinhardt.
Freud S.: (1893) Charcot. GW I: 21–35.
Freud S (1894) Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzinatorischer Psychosen. GW I: 59–74.
Freud S (1911) Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. GW VIII: 230–238.
Freud S.: (1917) Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. GW XII: 3–12.
Majou R.: (2014) Is the DSM-5 chapter on somatic symptom disorder any better than DSM-IV somatoform disorder? British Journal of Psychiatry 204 (6): 418–419.
Paris J.: (2000) Soziale Faktoren der Borderline-Persönlichkeitsstörung. In: Kernberg OF, Dulz B, Sachsse U. Handbuch der Borderline-Störungen. Stuttgart: Schattauer: 811–817.
Weltgesundheitsorganisation (2010) Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Herausgegeben von Dilling H, Freyberger HJ. 5. überarbeitete Auflage unter Berücksichtigung der German Modification der ICD-10. Bern: Huber.
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