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5TH SWISS FORUM FOR MOOD AND ANXIETY DISORDERS (SFMAD)
Aktueller Forschungsstand, Therapieoptionen und zukünftige Trends in der Behandlung von Depression und Angststörungen
Zahlreiche Psychiater und Psychologen aus der ganzen Schweiz nahmen am 5. Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), dem Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD), teil. Die Fachtagung bot eine ausgezeichnete Möglichkeit, von renommierten Psychiatern ein umfassendes Update über aktuelle Forschungs- und Zukunftstrends im Bereich der Behandlung von Angststörungen und Depressionen zu erhalten.
Neues im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie
P rof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich, sprach über Neues auf dem Gebiet der Angststörungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen. Sie führte aus, dass Depressionen mit einer Häufigkeit von 1 bis 5 Prozent und Angststörungen mit einer Häufigkeit von 11,5 Prozent im Kindes- und Jugendalter relevante Krankheitsbilder sind. Sie bemängelte, dass zur Diagnose Fragebögen zur Verfügung stehen, welche aber in der Praxis nicht ausreichend sind. Für die Diagnosestellung müssen die Betroffenen auch in ihrem Umfeld begleitet und beobachtet werden. Die drei Säulen der Therapie von Depression und Angststörungen im Kindes- und Jugendalter sind laut Prof. Walitza die Edukation von Patient und Eltern, die kognitive Verhaltenstherapie beziehungsweise Psychotherapie und die medikamentöse Therapie. Evidenz I besteht für die kognitive Verhaltenstherapie von Angststörungen. Bei der Depression wird die Evidenz für diese Methode mit I/II angegeben. Die kognitive Verhaltenstherapie ist bei Kindern und Jugendlichen die erste Wahl. Ist dies nicht ausreichend oder behindern die Symptome die Durchführung der Therapie, kommen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zum Einsatz, wobei diese bei Angststörungen eine höhere Wirksamkeit zeigen als bei Depression. Trizyklische Antidepressiva und Benzodiazepine werden nicht empfohlen.
Aus der Forschung für die Praxis Die epidemiologische Forschung und deren Relevanz für die Praxis wurde von Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jules Angst, emeritierter Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, mit Daten einer repräsentativen Zürcher-Studie eindrücklich beleuchtet.
Basierend auf diesen Daten zeigt sich, dass Syndrome der Depression und Angst bezüglich Dauer stets ein Kontinuum bilden und dass sich kritische Untergruppen nicht in den SCL90 R Scores unterscheiden. Eine Ausnahme davon sind chronische Fälle. Prof. Angst hält fest, dass – basierend auf den Daten der Zürcher-Studie – die diagnostischen Kriterien von zwei Wochen für Major Depression sowie 3/6 Monate für die Generalisierte Angststörung (GAD) nicht valide sind. Er postuliert, als diagnostische Kriterien 4 Tage für Depression und 2 Wochen für die GAD einzuführen. Diese sollen mittels unabhängiger Studien validiert werden. Es ist bekannt, dass nur zirka 50 Prozent (31–72%) aller Betroffenen eine offizielle Diagnose erhalten und davon zirka 36 bis 50 Prozent behandelt werden. Daher empfiehlt Prof. Angst zur diagnostischen Erleichterung die Einführung fundierter subdiagnostischer Syndrome. In Bezug auf die Praxis erläuterte er zudem die Relevanz dichotomer Entscheidungen, welche zwar für die Forschung ungeeignet sind, da biologische Variablen wie beispielsweise Molekulargenetik nicht miteinander korrelieren, aber für die therapeutische Entscheidung nützlich sind. Daher werden heutzutage für die Diagnose vermehrt kontinuierliche Variablen entwickelt und verwendet, wie beispielsweise Kognition, Entzündungsparameter oder bildgebende Verfahren.
Praxisnahe Leitlinien Prof. Dr. med. Erich Seifritz, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, informierte über praxisrelevantes Wissen aus den Leitlinien DSM-5 und ICD-11. Im Fokus standen die Neuigkeiten im Bereich affektive Störungen. Die wichtigste Änderung ist dabei die Aufteilung in zwei Kapitel: depressive und bipolare Störungen sowie in zwei Bereiche: Ausmass der Angstsymptomatik und klini-
sche Dimension (Suizidalitäts-Skala). Im Vergleich zur vorigen Version, DSM-4, sind neu prämenstruelles dysphorisches Syndrom, affektive Dysregulation (DMDD; Disruptive Mood Dysregulation Disorder) im Kindes- und Jugendalter und die persistierende Depressive Störung (Dysthymie) hinzugekommen. Änderungen ergaben sich bei der Diagnose Major Depression, in dem das Ausschlusskriterium «einfache Trauer» eliminiert und die Schweregrade und psychotischen Symptome getrennt wurden. Die wichtigste Änderung bei Bipolaren Störungen ist, dass Bipolar I als gemischte Episode entfällt und die Diagnose Bipolar hypomane/ manische Episode nach antidepressiver Behandlung möglich ist.
Therapie in 10 Jahren
Einen Ausblick auf die zukünftige Therapie von
Angst und Depression in 10 Jahren gab Prof. Dr.
med. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Florian Holsboer,
Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie
in München (siehe auch Interview). Sein Blick
in die Zukunft ergab, dass im Jahr 2024 die Me-
dikamentenbehandlung auf Grundlage der in-
dividuellen Biosignatur «massgeschneidert»
sein wird. Man wird also davon wegkommen,
die Depression als eine kollektive Normabwei-
chung zu betrachten, und sie mit dem Ansatz
«one size fits all» zu behandeln. Stattdessen
wird die Medizin personalisiert. Basis dafür ist
die Tatsache, dass sich unter der Diagnose
Depression zusammengefasste Patientenpo-
pulationen hinsichtlich der krankheitsverursa-
chenden Pathologie auch genetisch unter-
scheiden. Biomarker und Gentest werden uns
in Zukunft die Aufteilung der Pathologie «De-
pression» in Untergruppen mit einheitlicher Pa-
thologie erlauben, für welche spezifische
Medikamente entwickelt werden können. Aber
kann die Gesellschaft das bezahlen? Diese
Frage beantwortete Prof. Holsboer mit einem
klaren Ja. Denn die personalisierte Medizin ist
bezüglich ihrer Kosten für die Medikamenten-
entwicklung wesentlich, das heisst bis zu 30
Prozent günstiger als die Therapie mit Block-
busters.
G
Quelle: Medienmappe zum 5th Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD) der PR-Schwegler AG
3/2014
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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5TH SWISS FORUM FOR MOOD AND ANXIETY DISORDERS (SFMAD)
One size fits all: Weg vom Einheitsdepressivum zur personalisierten Pille
Prof. Florian Holsboer ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Er forscht im Bereich der personalisierten Medizin und erhielt mehrere Auszeichnungen für seine Forschungstätigkeit. Am Symposium der SGAD sprach er über die Depressionstherapie der Zukunft.
Psychiatrie & Neurologie: «One-size fits all»: Sie sagen, davon müssen wir in der Behandlung der Depression wegkommen. Sind die heutigen Antidepressiva zu wenig wirksam? Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Florian Holsboer: Die heutigen Antidepressiva setzen an vielen unterschiedlichen Stellen im Stoffwechselprozess des Gehirns an, das heisst, sie wirken unspezifisch. Wir können das vergleichen mit der Einnahme von Breitbandantibiotika in der Behandlung einer Infektion, ohne den spezifischen Erreger der Infektion zu kennen. Der Entstehung einer Depression liegen ganz unterschiedliche Krankheitsmechanismen zugrunde. Wir müssten eigentlich erst die zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen kennen und dann behandeln. Stattdessen erhalten die Patienten heute ein Antidepressivum, das viel Zeit braucht, bis es wirkt, dann nicht zielgerichtet wirkt und Nebenwirkungen hat. Und sprechen Patienten auf das Antidepressivum an, dann ist die Wirkung auch noch unterschiedlich gut. Auch neue Antidepressiva, die in den letzten Jahren die Zulassung erhalten haben, sind nur quantitative Verschiebungen innerhalb der Gruppe der Antidepressiva, die von Jules Angst und Roland Kuhn in den 50er-Jahren entdeckt wurden. Die Leitlinien können sich nur am gegenwärtigen Stand des therapeutisch Möglichen orientieren, und dazu gehört die Behandlung mit Antidepressiva. Ändern sich die therapeutischen Optionen, sind dementsprechend auch die Leitlinien anzupassen.
Warum gibt es ein so kleines Portfolio an pharmazeutischen Innovationen im Bereich der antidepressiven Therapie? Florian Holsboer: Die Entdeckung der Antidepressiva durch Schweizer Kliniker hat einen Erfolg ausgelöst, der seinesgleichen in der Medizin sucht. Dieser Erfolg hat auch ökonomische Konsequenzen. Pro Jahr erwirtschaften Pharmafirmen weltweit rund 20 Milliarden US-Dollar mit der Verschreibung von Antidepressiva. Solch ein rentables Geschäftsmodell verlässt man nur ungern, obwohl viele Antidepressiva derzeit ihren Patentschutz verlieren und der Absatzmarkt zunehmend kleiner wird. Hinzu kommt, dass die akademische Forschung den Schulterschluss mit der pharma-
zeutischen Forschung noch immer nicht gelöst hat. Und zu lange wurde die Depression an Mausmodellen erforscht und nicht an die Bedürfnisse der an einer Depression erkrankten Menschen gedacht. Die Enttäuschungen der pharmazeutischen Industrie basieren zum grössten Teil auf negativen Forschungsergebnissen beispielsweise mit den CRH-Rezeptorblockern. Der CRH-Blocker ist aber kein Einheitsdepressivum. Viele Experimente stützen die Hypothese, dass CRH bei vielen Patienten ein wichtiger Kausalfaktor ist. Der CRH-Blocker wirkt aber nur bei Menschen, die das CRH-Hormon im Gehirn überproduzieren, und das können wir anhand von Biomarkern feststellen. Als bekennender Optimist habe ich im Rahmen des Vortrags das Jahr 2020 gewählt. Dieses Datum wünsche ich mir als Zeitpunkt für den tatsächlichen Erfolg von innovativen Medikamenten aufgrund von Biomarkern. Bereits jetzt gibt es Gentests, die dem Arzt helfen, das richtige Medikament auszuwählen. Der ABCB1-Genotyp des einzelnen Patienten sagt beispielsweise voraus, ob das Medikament die Blut-Hirn-Schranke passieren kann und in ausreichender Menge in das Gehirn eindringt. Wenn dies nicht der Fall ist, muss die Dosierung erhöht oder das Medikament gewechselt werden.
Ist die personalisierte Medizin denn überhaupt bezahlbar? Florian Holsboer: Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu denken, die personalisierte Medizin sei teurer. 85 Prozent der Entwicklungskosten eines Medikaments entfallen auf klinische Studien. Bei Patientenpopulationen mit ganz unterschiedlichen Kausalmechanismen brauchen sie sehr grosse Patientenzahlen, um nachzuweisen, ob das neue Medikament wirkt – und das kostet Geld. Bei der personalisierten Medizin, die Patienten mit Biomarkern und Gentests charakterisiert und spezifische Untergruppen bildet, braucht es wesentlich kleinere und damit auch wesentlich weniger kostenintensive Studien. Die Kosten für Forschung und Entwicklung mehrerer Medikamente nach dem Prinzip der personalisierten Medizin sind nicht höher als diejenigen für einen «Blockbuster». Volkswirtschaftlich sind personalisierte, also auf die «Biosignatur» des Individuums massgeschneiderte Medikamente ein Gewinn. Denn
sie wirken schneller und effizienter. Die Betroffenen sind weniger lange krank und können dementsprechend früher an den Arbeitsplatz zurückgehen. Wir wissen beispielsweise aus der Präventivmedizin, dass lange vor Ausbruch der Symptomatik der Krankheitsprozess aktiv ist. Bei Parkinson sind bereits 80 Prozent der dopaminergen Neurone in der Substantia nigra zerstört, bevor die Krankheitssymptome auftreten. Mit Gentests und Biomarkern könnten wir Entwicklungen schon viel früher erkennen und gezielt intervenieren. Schauen Sie die Behandlung bei Diabetes oder Hypertonie an: Dort nehmen die Betroffenen ein Medikament ein, ohne selbst von Symptomen belastet zu sein. Sie wissen aber, dass die Prävention vor Gefässschäden schützt. Das sollte analog auch im Rahmen der Depressionsbehandlung möglich sein.
Neue Behandlungsansätze sollen präventiv wirken. Machen denn bestimmte Krankheiten nicht auch Sinn, beispielsweise auch die Depression oder Angststörungen? Florian Holsboer: Krankheiten machen keinen Sinn – auch evolutionsbiologisch betrachtet nicht. Jedes Jahr sterben auf der Welt über eine Million an Suizid, was soll daran sinnvoll sein, ausser der Tatsache, dass die Evolution keine Krankheiten liebt?
Könnte die Diagnostik mit Biomarkern und Gentests zu Veränderungen im Bewusstsein von Psychiatern führen? Florian Holsboer: Wir müssen – wie in den anderen medizinischen Disziplinen auch – den ganzen Menschen betrachten. Kein Kardiologe würde auf die Idee kommen, bei einem Patienten mit Herzschmerzen nach dem Sinn dieser Schmerzen zu fragen. Stattdessen veranlasst dieser die Untersuchung von Blutwerten, führt bildgebende Verfahren durch, fährt also das ganze Spektrum der diagnostischen Möglichkeiten auf. Auch die Psychiatrie ist Teil der Medizin – auch wir müssen «Körpersäfte und Zellen» des Patienten anschauen, um eine Diagnose erhalten zu können, die uns erlaubt, massgeschneidert zu behandeln.
Das Interview führte Annegret Czernotta.
&32 3/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE