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FORTBILDUNG
Frühinterventionen bei Autismus-Spektrum-Störungen
Klaus Schmeck
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Autismus-Spektrum-Störungen* (ASS) zählen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Renommierte Kliniker und Forscher sprechen von der Möglichkeit, die autistische Kernsymptomatik durch sehr früh einsetzende intensive Interventionen so zu verändern, dass eine deutliche Besserung der Symptomatik erzielt werden kann. Die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie unterstützt die Früherkennung und intensive Frühintervention. Denn nur, wenn zu einem sehr frühen Zeitpunkt und in ausreichend hoher Intensität interveniert wird, ist nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahre die Möglichkeit einer grundlegenden Beeinflussung des Verlaufs dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gegeben.
von Klaus Schmeck, Wilhelm Felder, Evelyn Herbrecht
A utismus-Spektrum-Störungen (ASS), zu denen neben dem frühkindlichen Autismus auch das Asperger-Syndrom und der atypische Autismus gerechnet werden, zählen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, die durch einen frühen Beginn und – wenn nicht oder nicht ausreichend behandelt – durch einen chronischen Verlauf über die Lebensspanne hinweg gekennzeichnet sind (6). Als zentrales Merkmal von ASS gilt eine Trias von zentralen Einschränkungen, die eine Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion, Beeinträchtigungen von Sprache und Kommunikation sowie sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, zum Teil verbunden mit stark eingeschränkten Interessen und Aktivitäten, umfasst. Zusätzlich zur Kernsymptomatik leiden autistische Kinder auch verstärkt unter anderen Symptomen wie sensorischer Dysregulation, Schlafstörungen, selektivem Essverhalten und gastrointestinalen Problemen sowie einem erhöhten Risiko für epileptische Anfälle. Komorbide Störungen wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder Zwangsstörungen sind deutlich häufiger zu finden. Von allen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern haben ASS die stärkste genetische Ätiologie (Levy SE, Mandell DS, Schultz RT, 2009. Autism. Lancet 374 [9701]: 1627–1638), und es ist in den letzten beiden Jahrzehnten eine Vielzahl von Befunden publiziert worden, welche die biologischen Grundlagen der ASS beschreiben, ohne dass es bis jetzt zu einem allgemein akzeptierten Erklärungsmodell gekommen wäre (Levy et al., 2009). Über die Kernsymptomatik und die Diagno-
*Diesem Artikel liegt eine von Klaus Schmeck und Wilhelm Felder erarbeitete Stellungnahme der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (SGKJPP) zu Frühinterventionen bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zugrunde.
sekriterien von ASS besteht jedoch international seit Langem ein Konsens, und es hat sich ein standardisiertes Vorgehen bei der Diagnostik von ASS etabliert, bei dem konkrete Verhaltensbeobachtungen (ADOS: Autism Diagnostic Observation Schedule) und semistrukturierte Interviews (ADI-R: Autism Diagnostic Interview) eingesetzt werden. Diese Verfahren sind auch in der Schweiz eingeführt, sodass für die spezialisierten Zentren von einer einheitlichen und zuverlässigen Diagnostik der ASS ausgegangen werden kann. Erhebliche therapeutische Fortschritte der letzten beiden Jahrzehnte in Bezug auf intensive Frühinterventionen haben dazu geführt, dass im Gegensatz zu früheren Auffassungen, die in der Diagnose einer ASS ein unveränderbares Schicksal mit lebenslangen schweren Beeinträchtigungen sahen, inzwischen sogar von präventiven Ansätzen gesprochen wird, wenn Interventionen früh genug und ausreichend intensiv eingesetzt werden, um die bei Kleinkindern noch sehr grosse Neuroplastizität des Gehirns zu nutzen (4). Im Gegensatz zu heilpädagogisch ausgerichteten Frühfördermassnahmen besteht der Schwerpunkt der medizinisch-psychologisch basierten «Frühinterventionen» darin, gezielte störungsspezifische und evidenzbasierte Therapiemassnahmen einzusetzen, um die Kernsymptomatik autistischer Störungen zu beeinflussen. Nicht ausreichend entwickelte Fähigkeiten, vor allem im Bereich der sozialen Kompetenz und nonverbaler Kommunikation, werden auf- und störende Verhaltensweisen abgebaut. Dadurch können die Familien entlastet und kann die Integration autistischer Kinder in Regelkindergärten und -schulen ermöglicht werden, sodass sich langfristig die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe verbessern. Klinische Fortschritte in der Behandlung von Kindern mit autistischen Störungen haben inzwischen zum Konsens geführt ([4, 12]; Levy et al., 2009), dass therapeutische Interventionen möglichst früh nach der Diagnosestellung (d.h. möglichst in den ersten 4 Lebensjahren) und mit hoher Intensität (d.h. 20–40 Stunden pro
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Woche) durchgeführt werden sollten, um bedeutsame Veränderungen erzielen zu können, die den langfristigen Krankheitsverlauf nachhaltig positiv beeinflussen. Je früher solche Massnahmen einsetzen und je intensiver sie durchgeführt werden, desto eher lässt sich die Neuroplastizität des Gehirns ausnutzen, um dauerhafte Veränderungen anzustossen und damit den Outcome von allen Kindern mit ASS (im Verhältnis zum Schweregrad ihrer autistischen Störung) verbessern zu helfen (4). Oberstes Ziel ist neben der Verbesserung der autistischen Kernsymptomatik die Verbesserung der Fähigkeit der betroffenen Kinder zur Partizipation an alltäglichen Lebensbezügen (Kindergarten, Schule, später auch Berufstätigkeit) und zunehmend mehr auch die Befähigung der anderen Familienmitglieder, ihre eigenen Ressourcen zu stärken und den Behandlungsprozess des autistischen Kindes zu unterstützen. Bei intensiven und hochfrequenten Frühinterventionen werden kinderpsychiatrische und psychologische (und zum Teil auch heilpädagogische, psychomotorische oder logopädische) Konzepte zu einem einheitlichen Behandlungsansatz zusammengeführt. Verhaltensorientierte Frühinterventionen, die auf einer Modifikation der in der Applied-Behavior-Analysis (ABA) beschriebenen Grundprinzipien basieren, sind dabei am häufigsten vertreten.
Standardisiertes diagnostisches Vorgehen Zur standardisierten Erfassung der diagnoserelevanten Symptome gemäss den aktuellen ICD- und DSM-Kriterien haben sich die internationalen Goldstandardinstrumente ADOS und ADI-R bewährt. Das ADOS (14) erlaubt die Beobachtung, standardisierte Erfassung und Auswertung autistischer Symptome anhand von Spiel- und Gesprächssituationen (mit unterschiedlichen Schwerpunkten je nach Alter des Kindes). Ein diagnostischer Algorithmus erlaubt die Zuordnung gemäss ICD/DSMKriterien. Eine überarbeitete Version, das ADOS-2, ist 2012 in englischer Sprache erschienen und wird im Lauf des Jahres 2013 in deutscher Übersetzung erwartet (9). Das ADOS-2 ermöglicht erstmals die Untersuchung von sehr kleinen Kindern ab einem Entwicklungsalter von 12 Monaten mit dem Toddler-Modul und damit nach Diagnosestellung eine noch frühzeitigere Behandlung. Ergänzt wird diese direkte Verhaltensbeobachtung durch das semistrukturierte Interview mit den Eltern ADI-R (3), das neben den drei Hauptsymptombereichen auch die Entwicklungsgeschichte und den Verlauf der Symptomatik sowie zusätzliche Symptome wie aggressives Verhalten oder auch neurologische Auffälligkeiten erfasst. Als einfach zu handhabende Screeninginstrumente, die eine dann weiter zu differenzierende Verdachtsdiagnose ermöglichen, haben sich der FSK (2) ab 4 Jahren sowie der M-CHAT (10) ab 18 Monaten etabliert, der von den Eltern oder engen Bezugspersonen ausgefüllt wird, sowie die SRS (Soziale Reziprozitätsskala, [1]), ein Elternfragebogen zur Erfassung sozialer, kommunikativer und rigider Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen im Sinne einer dimensionalen Diagnostik autistischer Störungen. Zur Diagnostik gehört auch die Erfassung des Intelligenzniveaus beziehungsweise bei jungen Kindern des
Entwicklungsalters. Hierzu stehen verschiedene Tests, auch nicht sprachliche, zur Verfügung. Weiter ist eine neuropädiatrische Diagnostik empfehlenswert, um somatische Ursachen der ASS auszuschliessen beziehungsweise vorliegende neurologische Störungen wenn möglich zu behandeln.
Wirksamkeit der intensiven Frühinterventionen bei ASS Die Leitlinien der internationalen Fachgesellschaften zur Behandlung von autistischen Störungen (z.B. American Academy of Child and Adolescent Psychiatry: Practice Parameters for the Assessment and Treatment of Children, Adolescents, and Adults with Autism and other Pervasive Developmental Disorders, Stand 1999; Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Stand 2006) sind in wesentlichen Punkten veraltet und werden gegenwärtig überarbeitet. Die vom britischen National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) im Jahr 2011 vorgelegten Guidelines (Autism: recognition, referral and diagnosis of children and young people on the autism spectrum) beziehen keine Stellung zu Fragen der Behandlung. Von der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie sind bisher keine eigenen Leitlinien erarbeitet worden. Vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) wurde 2009 eine Expertise zu Frühinterventionen bei autistischen Kindern in Auftrag gegeben (17), die nach einer ausgiebigen Sichtung der verfügbaren Literatur zur Schlussfolgerung kommt, «dass Vorschulkinder mit Autismus durch verhaltensbasierte Interventionen mit einer Mindestintensität von 20 Stunden pro Woche Verbesserungen in kognitiven und funktionalen Bereichen (expressive Sprache, Sprachverständnis sowie Kommunikation) erreichen können. (…) In den Studien mit den besten Behandlungsergebnissen konnte bei bis zur Hälfte der Kinder eine deutliche Beschleunigung der Entwicklung erreicht werden, sodass diese Kinder in die Nähe der Normalwerte für altersentsprechende Kinder oder ganz in den Normwertbereich rückten.» (S. 99) Weiterhin wird festgehalten, dass die am besten empirisch abgesicherten intensiven Frühinterventionen auf verhaltensbasierten Kernelementen des ABA-Modells basieren und die Eltern in die Therapie einbeziehen. Gemäss dieser Analyse fallen die Effekte der Behandlung umso bescheidener aus, je geringer die Behandlungsintensität ist, und Programme, die an speziellen Zentren durchgeführt werden, erweisen sich gegenüber einer Routinebehandlung (TAU = Treatment as usual) als überlegen. Eine aktuelle Metaanalyse zur Wirksamkeit von intensiven Frühinterventionen bei sehr jungen Kindern mit ASS ist das Cochrane-Review «Early intensive behavioral intervention (EIBI) for young children with autism spectrum disorders (ASD)» von Reichow et al. (13). Kurz zusammengefasst zeigt sich, dass in allen überprüften Outcome-Massen die intensiven verhaltensorientierten Frühinterventionen den Standardbehandlungen (TAU) überlegen waren. In einer soeben abgeschlossenen Literaturrecherche in den medizinischen und psychologischen Datenbanken Pubmed, PsycInfo und Psyndex zur Frage der Wirksamkeit von Frühinterventionen bei Kindern mit ASS (unveröf-
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fentlichte Masterarbeit von J. Früh, Basel [5]), bei der Pilotstudien, Brief Reports, Fallstudien und Studien mit weniger als 10 Probanden aus der Analyse ausgeschlossen waren, fanden sich aus den Jahren 1987 bis 2012: G 31 Studien zu intensiven (mindestens 15 h/Woche)
Frühinterventionen bei autistischen Kindern unter 7 Jahren G sowie 8 Studien zu weniger intensiven (weniger als 15 h/Woche) Frühinterventionen. Ausserdem wurden seit 1999 15 systematische Reviews zu Frühinterventionen bei ASS publiziert; nicht mitgezählt ist dabei die grosse Zahl an unsystematischen Überblicksarbeiten und Reviews, bei denen die untersuchten Kinder älter als 10 Jahre waren. Der überwiegende Teil der Studien evaluierte verhaltenstherapeutische Intensivinterventionen, das heisst Therapieansätze, die auf dem ABA-Modell von Lovaas beruhen und mit wenigen Ausnahmen den Standardbehandlungen (TAU) signifikant überlegen waren. Trotz der positiven Evaluation der auf den Ansätzen von Lovaas beruhenden Behandlungsverfahren haben das stark verhaltensorientierte ABA-Modell und die in früheren Zeiten etwas starr wirkende Auslegung dieser Verhaltenstrainings in Fachkreisen auch Kritik hervorgerufen. Diese hat dazu geführt, dass einerseits die aktuellen Modifikationen der Programme (z.B. FIVTI in Zürich oder ESDM in Genf ) inzwischen einen deutlich spielerischeren Zugang zu den autistischen Kindern wählen, und dass andererseits intensive Frühinterventionen entwickelt wurden, die neben den verhaltensorientierten Interventionen den Schwerpunkt auf die Verbesserung der Beziehungsfähigkeit legen, das heisst sich vermehrt auf die sozialen und emotionalen Aspekte der ASS richten und ein weniger direktives therapeutisches Vorgehen empfehlen. Dazu zählen die Therapieansätze «Floor-Time» (in der praxisorientierten PLAY-Form), «Son-Rise» und «Mifne», das in der Schweiz zum Therapiemodell «FIAS» modifiziert wurde (7). Bei den eher heilpädagogisch ausgerichteten Behandlungsprogrammen (wie z.B. dem Therapieprogramm des ATZ in Basel/ Riehen) wurde die Intensität des Angebots im Vergleich zu Standardbehandlungen deutlich erhöht. Für alle wirksamen Frühinterventionen (auch diejenigen, deren Fokus nicht primär verhaltensorientiert ausgelegt ist) gilt, dass: a) die Familien in die Behandlung mit einbezogen werden müssen; b) die Intensität hoch sein muss (mindestens 20 Stunden pro Woche); c) die Behandlung individuell auf die spezifischen Bedürfnisse des autistischen Kindes und seiner Familie zugeschnitten sein muss und d) der Behandlungsverlauf kontinuierlich überprüft und angepasst werden muss (12). Wie in anderen psychotherapeutischen Behandlungsfeldern ist auch bei der intensiven Frühintervention von ASS eine einseitige Festlegung auf nur eine Behandlungsmethode weder aus klinischer noch aus wissenschaftlicher Sicht erwünscht. Bei psychotherapeutischen Methoden ist die Passung zwischen Therapeut und Methode genauso von Bedeutung wie die Passung von Patient und/oder Familie zur Methode, sodass unterschiedliche Behandlungsansätze auch weiterhin ihren Platz haben müssen, wenn sie empirisch abgesicherte
Wirksamkeitsnachweise erbringen beziehungsweise auf ASS abgestimmte empirisch abgesicherte Behandlungsprinzipien (individuelle Therapieplanung, Einbezug der Familien, Beachtung von konkretem Verhalten in der Behandlung, hohe Intensität und kontinuierliche Überprüfung) explizit einbeziehen. Aufgrund der Vielfältigkeit autistischer Symptome können die Schwerpunkte der Beeinträchtigungen individuell in unterschiedlichen Bereichen liegen. Dies erfordert ein therapeutisch auf die Bedürfnisse des Kindes und der Familie abgestimmtes Vorgehen und die individuelle Auswahl der für diese Familie geeigneten Behandlungsform. Unterschiedliche Schwerpunkte der Behandlung können zum Beispiel der Erwerb basaler alltagspraktischer Fertigkeiten wie sich anziehen oder selbstständiges Essen, die Sprachanbahnung oder die Verbesserung der sozialen Motivation und der Interaktionsmöglichkeiten mit Eltern und Geschwistern sein. Es besteht ein Bedarf an Evaluationsstudien unterschiedlicher Frühinterventionsformen, um herauszufinden, welche Faktoren den Therapieerfolg beeinflussen und damit auch, welche Therapie bei welchem Kind am besten wirkt (19). Gegenwärtig sind in der Schweiz die Möglichkeiten intensiver therapeutischer Interventionen bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen begrenzt und im Vergleich mit internationalen Standards unzureichend.
Kosten-Nutzen-Relation von intensiven Frühinterventionen bei Kindern mit ASS Bei intensiven Frühinterventionen für autistische Kinder und ihre Familien, die nur in spezialisierten Zentren angeboten werden können, handelt es sich um Behandlungsangebote, die mit 20 bis 40 Stunden pro Woche über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren eine sehr hohe Intensität aufweisen. Dadurch entstehen beträchtliche Kosten, die je nach Behandlungsangebot variieren können. In einer britischen Studie (Magiati I, Charman T, Howlin P. [2007]. A two-year prospective follow-up study of community-based early intensive behavioural intervention and specialist nursery provision for children with autism spectrum disorders. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 48, 803–812) werden die Kosten einer Frühintervention mit 15 000 bis 30 000 Pfund (zum damaligen Kurs entsprechend ca. 30 000 bis 60 000 Fr.) angegeben. In einer amerikanischen Studie (Butter EM, Wynn J, Mulick JA, 2003. Early intervention critical to autism treatment. Pediatr Ann. 32 [10]: 677–684) lagen die Kosten bei 60 000 Dollar (zum damaligen Kurs entsprechend ca. 75 000 Fr.). Solche Kostenschätzungen sind allerdings international nur schwer zu vergleichen, da zum Beispiel das unterschiedliche Lohnniveau berücksichtigt werden muss. Die Kosten für intensive Frühinterventionen in der Schweiz liegen in der Grössenordnung von zirka 50 000 bis 100 000 Franken pro Jahr. Verglichen werden müssen die Kosten für intensive Frühinterventionen mit den Kosten für andere Behandlungsansätze. In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie wird «Teilstationäre Behandlung» als die bevorzugte Therapieform am Beginn der Behandlung beschrieben (diese Behandlungsform entspricht etwa der Behandlungsintensität von intensiven Frühinterventionen). Die Kosten für eine teilstationäre Behandlung belaufen sich in der
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Schweiz zurzeit auf zirka 500 bis 600 Franken pro Tag. Bezogen auf einen Behandlungszeitraum von 200 Tagen (was für die Behandlung von ASS als sehr kurz angesehen werden muss) entstehen also Kosten von 100 000 bis 120 000 Franken. Diesen im Vergleich zu intensiven Frühinterventionen deutlich höheren Kosten steht eine geringere Behandlungseffektivität gegenüber, da nicht auf die spezifischen Bedürfnisse von autistischen Kindern zugeschnittene Behandlungsangebote nicht geeignet sind, die Kernsymptomatik von ASS positiv zu beeinflussen (s.o). Die bereits erwähnte DIMDI-Expertise (17) nimmt auch Stellung zu ökonomischen Aspekten von intensiven Frühinterventionen. Aufgrund der damaligen Studienlage (vor 2009) wird keine Aussage zur Kosteneffektivität von Frühinterventionen gemacht; die Autoren gehen aber davon aus, dass durch effektive Frühinterventionen die Gesamtkosten des Autismus langfristig reduziert werden könnten, «indem die anfallenden hohen anfänglichen Aufwendungen durch spätere Einsparungen überkompensiert werden, was z. B. aufgrund eines positiv beeinflussten Sozialverhaltens der Patienten oder mögliche preiswertere Behandlungen im weiteren Verlauf entstehen könnte. Das Ausmass dieser Einsparungen bleibt allerdings unklar.» (S. 100). In einer aktuellen niederländischen Studie (PetersScheffer N, Didden R, Korzilius H, Matson J, 2012. Cost comparison of early intensive behavioral intervention and treatment as usual for children with autism spectrum disorder in the Netherlands. Research in Developmental Disabilities 33, 1763–1772) wurde versucht, die Einsparungen als Folge intensiver Frühinterventionen numerisch zu schätzen. Verglichen wurden intensive Frühinterventionen (20 bis 40 Stunden pro Woche über einen Zeitraum von 3 Jahren) mit Standardbehandlungsprogrammen (TAU) bei der Behandlung von Kindern mit autistischen Störungen. Hochgerechnet wurden zukünftige Kosten (vom 3. bis zum 65. Lebensjahr) für spezielle Erziehungsmassnahmen, beschützte Arbeit und ausserhäusliche Unterbringung. Nach den Berechnungen der Autoren liegen die Einsparungen für autistische Kinder, die mit einer intensiven Frühintervention behandelt werden, über die Lebensspanne hinweg im Durchschnitt bei über 1,1 Millionen Euro. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entscheidung der amerikanischen Behörde U.S. Office of Personnel Management (Healthcare and Insurance) im Jahr 2012 zu sehen, die eine Empfehlung an Gesundheitsversicherer abgegeben hat, intensive Frühinterventionen nach dem ABA-Modell als medizinische Massnahmen zu klassifizieren und die Kosten dafür zu übernehmen: «The OPM Benefit Review Panel recently evaluated the status of Applied Behavior Analysis (ABA) for children with autism. Previously, ABA was considered to be an educational intervention and not covered under the FEHB Program. The Panel concluded that there is now sufficient evidence to categorize ABA as medical therapy. Accordingly, plans may propose benefit packages which include ABA.» (http://www.opm.gov/healthcareinsurance/healthcare/carriers/2012/2012-12a2.pdf, p.5)
Zusammenfassung
In den vergangenen 30 Jahren sind erhebliche For-
schungsanstrengungen zur Überprüfung der Wirksam-
keit von intensiven Frühinterventionen bei Kindern mit
ASS geleistet worden. Auch wenn es bisher nur wenige
randomisierte klinische Studien gibt (v.a. wegen grund-
sätzlicher technischer und ethischer Schwierigkeiten
bei der Durchführung von RCT bei Kindern mit ASS),
zeigt die überwiegende Zahl der bisher vorgelegten
Studien einen signifikant besseren Outcome bei der
Durchführung von intensiven Frühinterventionen im
Vergleich zu Standardbehandlungen (TAU), was auch in
einer erheblichen Zahl von Reviews zusammenfassend
bestätigt wird.
Die Wirksamkeit von intensiven Frühinterventionen für
die Behandlung von autistischen Kindern kann inzwi-
schen als so ausreichend gesichert angesehen werden
(siehe Cochrane-Review von Reichow et al., 2012), dass
es ethisch nicht als vertretbar erscheint, autistischen Kin-
dern diese Behandlungsmöglichkeit zu versagen (auch
wenn weitere Forschungsanstrengungen empfohlen
werden, um die Evidenz zusätzlich zu erhärten). Renom-
mierte Kliniker und Forscher wie zum Beispiel Geraldine
Dawson (2008) sprechen zum ersten Mal ernsthaft von
der Möglichkeit, die autistische Kernsymptomatik durch
sehr früh einsetzende intensive Interventionen so deut-
lich zu verändern, dass eine weitgehende Besserung der
Symptomatik erzielt werden kann.
Angesichts der in zahlreichen Studien gezeigten Wirk-
samkeit und der potenziellen präventiven Möglich-
keiten intensiver Frühinterventionen erscheinen die
Kosten, die durch solche Interventionen entstehen, ge-
rechtfertigt. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass
andere sonst indizierte medizinische Massnahmen wie
zum Beispiel kinderpsychiatrische tagesklinische Be-
handlungen im Vergleich noch kostenintensiver sind.
Für die Schweiz fehlen bisher gesundheitsökonomische
Untersuchungen im Zusammenhang mit intensiven
Frühinterventionen bei Kindern mit ASS. Studien aus an-
deren Ländern wie zum Beispiel den Niederlanden legen
jedoch nahe, dass rechtzeitig und ausreichend intensiv
durchgeführte Interventionen auf die Lebensspanne ge-
rechnet zu einer erheblichen Kostenersparnis führen
(ganz abgesehen von den immateriellen Vorteilen für die
betroffenen Kinder und ihre Familien). Es ist zu hoffen,
dass auch in der Schweiz der in den USA bereits umge-
setzte Schritt vollzogen wird, dass die Kosten für intensive
Frühinterventionen nicht mehr den Eltern der betroffe-
nen autistischen Kinder aufgeladen werden.
Die SGKJPP unterstützt die Früherkennung und inten-
sive Frühintervention bei Kindern mit Autismus-Spek-
trum-Störungen. Nur wenn zu einem sehr frühen
Zeitpunkt und in ausreichend hoher Intensität inter-
veniert wird, ist nach den wissenschaftlichen Erkennt-
nissen der letzten Jahre die Möglichkeit einer grundle-
genden Beeinflussung des Verlaufs dieser tiefgreifenden
Entwicklungsstörungen gegeben. Unabhängig von der
dringenden Notwendigkeit solcher intensiver Frühin-
terventionsangebote ist es allerdings aus Sicht der
SGKJPP eine Frage der Versorgungsgerechtigkeit, dass
weiterhin auch ältere Kinder oder Jugendliche mit ASS
und ihre Familien ein adäquates Behandlungsangebot
erhalten müssen und Anspruch auf umfassende Unter-
stützung haben.
G
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Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Klaus Schmeck
Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Schaffhauserrheinweg 55
4058 Basel
E-Mail: klaus.schmeck@upkbs.ch
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