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FORTBILDUNG
Teil 1: Suizidprävention im Alter
Besonderheiten der Suizidalität im Alter
Die Suizidrate ist bei älteren Menschen deutlich höher als in jüngeren Jahren – bei über 85-jährigen Männern (2010) ist sie sogar fünfmal höher als bei Adoleszenten. Unter Berücksichtigung der assistierten Suizide steigt diese Rate sogar auf das Siebenfache an (2008). Dennoch nimmt das die Gesellschaft hin, ohne die gleichen kritischen Fragen zu stellen, mit denen die Suizidrate in der Adoleszenz diskutiert wird. Warum ist das so? Wo liegen die Unterschiede und Besonderheiten? Denn solche muss es geben, wenn eine Gesellschaft sich zum gleichen Phänomen in verschiedenen Altersstufen so unterschiedlich verhält.
Gregor Harbauer Jacqueline Minder
3/2013
Von Gregor Harbauer und Jacqueline Minder
S uizidalität ist aus psychiatrischer Sicht in der Regel ein Symptom einer psychiatrischen Erkrankung, die behandelbar und auch behandlungsbedürftig ist. Suizidalität bei älteren Menschen ist demzufolge ein Phänomen, für das die Alterspsychiatrie zuständig ist, die aber als noch sehr junge Disziplin erst seit 2005 durch die Anerkennung als Schwerpunkt an Bedeutung zu gewinnen beginnt. Etwa zeitgleich hat die Sterbehilfeorganisation Exit ihr Moratorium aufgehoben und begonnen, im Sinne der Gleichbehandlung von somatisch und psychisch Kranken auch Letzteren Beihilfe zum Suizid zu gewähren. Hier geraten zwei einander konträr gegenüberstehende Positionen, die sich zeitgleich im Aufschwung befinden, zunehmend in die öffentliche Diskussion. Das ist gut so, denn damit wird das, was bisher in der Gesellschaft unreflektiert gelebt wurde, öffentlich kontrovers diskutiert, sodass die Gesellschaft eine Chance hat, eine reflektierte Haltung zur Suizidalität älterer Menschen zu entwickeln. Nur so kann der Rahmen geschaffen werden, indem im Einzelfall sorgfältig geprüft wird, ob es sich um einen Sterbewunsch aus freiem Willen («gesunder Suizid» nach Ringel) handelt oder um ein mögliches Symptom einer behandelbaren Erkrankung. Erst danach kann den Betroffenen die entsprechende und angemessene Hilfe angeboten werden. Insbesondere muss sorgfältig geprüft werden, ob der Sterbewunsch ● kein direkter oder indirekter Ausdruck einer psychi-
schen Störung ist ● nicht auf Druck von Dritten zustande gekommen ist ● nicht auf inadäquate Behandlung zurückzuführen
ist ● ob der Patient urteilsfähig und sein Entschluss
wohlüberlegt und dauerhaft ist.
Suizidalität ist kein seltenes Problem In der Schweiz, wie auch weltweit, suizidieren sich die meisten Menschen im höheren Lebensalter (Abbildung 1: WHO, 2002 (26); Abbildung 2: BFS, 2011). Im Jahr 2010 starben in der Schweiz 276 Menschen im Alter ab 65 Jahren durch Suizid. Das entspricht rund einem Drittel aller Suizide in diesem Jahr. Nicht mit eingerechnet sind hier die assistierten Suizide (passive Sterbehilfe). Suizide und assistierte Suizide werden seit 2009 getrennt erhoben und ausgewertet, was es ermöglicht, die Entwicklung der Suizidrate in der Schweiz differenzierter zu betrachten, was gleichzeitig jedoch auch ein Risiko birgt. Wie lässt sich verhindern, dass die erfassten assistierten Suizide nicht auch Todesfälle von Suizidenten enthalten, die durch gesellschaftlichen Druck als «Kostenfaktor alter Mensch» mit dem Leben abzuschliessen gedrängt werden? Seit etwa 2003 ist die Suizidrate konstant mit rund 1100 Fällen auf hohem Niveau, hingegen nimmt die Anzahl der Menschen kontinuierlich zu, die sich mit passiver Sterbehilfe für den Tod entscheiden (BFS, 2012 [3]). Verglichen mit anderen Ländern weist die Schweiz seit Jahren eine hohe Suizidrate auf (WHO, 2011 [27]). Knapp 300 Personen nahmen 2009 die Dienstleistung der Sterbehilfe in Anspruch. Diese Entwicklung nimmt, seit dem Beginn der statistischen Erfassung der Sterbehilfe 1998, stetig und eindeutig zu (Abbildung 2). Jede urteilsfähige Person kann in der Schweiz unabhängig von ihrem Alter und Erkrankung die Dienstleistung der Sterbehilfe in Anspruch nehmen. 90 Prozent der Menschen, die den assistierten Suizid wählten, um aus dem Leben zu scheiden, waren 55 Jahre oder älter. Ab dem 55. Lebensjahr sind es in absoluten Zahlen mehr Frauen als Männer. Die Zunahme der Selbsttötungen im Alter ab 65 Jahren ist offensichtlich und stimmt nachdenklich (Abbildung 3). Zu berücksichtigen bleibt zudem eine Dunkelziffer nicht erkannter Suizide wie beispielsweise infolge von selbstverur-
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Abbildung 1: Weltweite Verteilung der Suizidrate nach Alter und Geschlecht
Quelle: WHO, 2002 Internet: http://www.who.int/mental_health/prevention/suicide/suicide_rates_chart/ en/index.html
Abbildung 2: Suizid und Sterbehilfe in der Schweiz von 1995–2009
Quelle: BFS, 2012 (3)
Abbildung 3: Suizidrate (inkl. assistierte Suizide) nach Alter und Geschlecht
Quelle: BFS, 2012
sachten Unfällen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich Jahr für Jahr noch weitaus mehr Menschen suizidieren. Wie kann es sein, dass Menschen, insbesondere Männer, in diesem Alter sich so häufig das Leben nehmen? Was muss geschehen, dass dieser Weg in Erwägung gezogen wird? Wie kommt es zur Suizidalität? Niemand bringt sich gerne um. Auch für Menschen im Alter ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie ihrem Leben wohlüberlegt und im klaren Bewusstsein auf diese Art ein Ende setzen wollen. Sogenannte Bilanzsuizide bil-
den eine statistische Minderheit von zirka 10 Prozent aller Suizide (11). Hinweise dafür bieten Studien mit Überlebenden nach einem Suizidversuch. In einer wegweisenden Studie wurde untersucht, wie viele Menschen sich nachträglich suizidiert hatten, nachdem sie vom Sprung von der Golden Gate Bridge abgehalten worden waren. Wie viele von den 515 Menschen hatten sich tatsächlich zu einem späteren Zeitpunkt umgebracht? Es waren 25. Rund 95 Prozent haben sich auch Jahre und Jahrzehnte nach der «Rettung» vor dem Suizid nicht das Leben genommen (23). Sie wollten ihr Leben weiterleben. Wenn sich die meisten Menschen nicht gerne umbringen und ihr Leben leben möchten, weshalb töten sie sich dennoch? Was muss geschehen, damit jemand so weit geht, diesen Schritt zu vollziehen? Begleiten wir einen fiktiven Menschen auf dem «Weg in die Suizidalität», wie er häufig begangen wird. Am Anfang, weit vor der suizidalen Handlung, sehen sich die meisten Menschen subjektiv mit derart schwerwiegenden Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert, die sie auf bisher gewohnte Weise nicht zu bewältigen vermögen. Sie mobilisieren infolgedessen alle ihre zur Verfügung stehenden Ressourcen, aktivieren die Unterstützungsleistungen ihrer Netze und generieren neue Coping-Strategien, die sie entsprechend einsetzen. Nach unzähligen Bewältigungsversuchen über Wochen, Monate oder sogar Jahre hinweg stellen viele zermürbt und konsterniert fest, dass die Probleme immer noch persistieren und ihr Leidensausmass noch weiter ansteigt, bis ihre Ressourcen versiegen und das Belastungsausmass ihr gesamtes Bewältigungsvermögen übersteigt. Nun ist es eine Frage der Zeit, bis die betroffene Person in einen external und internal induzierten (Dauer-)Stresszustand gerät, aus dem sie, in ihrer Wahrnehmung, kaum mehr einen Ausweg sieht – zum Beispiel der Abbruch einer Beziehung und die subjektive Interpretation, die dadurch ausgelöste emotionale Belastung nicht aushalten zu können. In dieser Phase befinden sich Menschen im seelischen Ausnahmezustand. Sie erleben unerträglichen seelischen Schmerz (14) mit einem eklatant ausgeprägten Leidensausmass, den der Suizidologe Shneidman treffend als Psychache bezeichnete (19). Das eingeengte Erleben dieser kumulierten Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und inneren Aufgewühltheit kann in den sogenannten Suicidal Mode (20) führen, aus dem Betroffene fieberhaft nach einem Ausweg suchen: Der Schmerz muss beendet werden, um jeden Preis. Um dieses Ziel zu erreichen, sehen manche Menschen keinen anderen Weg mehr, als das eigene Leben zu beenden. Der Tod erscheint den gebeutelten Menschen in ihrem seelischen Ausnahmezustand als Ausweg, dem Schmerz und dem Leiden ein Ende zu bereiten. Endgültig. Nicht der Wunsch nach dem Tod steht für sie im Vordergrund, sondern der Wunsch nach Ruhe, Abstand und Erlösung vom nicht mehr ertragbaren Leid. Es gibt deutliche Hinweise, dass dieser suizidale Modus hirnorganische Veränderungen induziert und in den Köpfen sozusagen bleibende Spuren hinterlässt. Diese Spuren, oder besser Narben, bleiben ein Leben lang bestehen und erklären zumindest teilweise das massiv erhöhte Suizidrisiko nach einem vorhergehenden Suizidversuch, beziehungsweise nach dem Durchleben des sui-
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zidalen Modus. In jeder neu sich manifestierenden suizidalen Krise kann dieser suizidale Modus reaktiviert werden. Und damit werden die damals memorisierten Sinneseindrücke (z. B. die eigene Hilflosigkeit, die Auswegslosigkeit etc.) – ähnlich wie beim Erleben eines Psychotraumas – in all ihren Ausprägungen noch einmal durchlebt. In ihren verzweifelten Versuchen, die suizidale Krise zu bewältigen und einen Ausweg zu finden, manifestieren sich zwangsläufig Suizidgedanken, die inhaltlich häufig auf die konkrete Planung und Vorbereitung des Suizids fokussieren, um für den Fall der Fälle vorbereitet zu sein. Haben sich suizidale Menschen eine bestimmte Vorgehensweise zurechtgelegt, führt das in vielen Fällen zu einer nach aussen hin merklichen Reduktion des Belastungsausmasses, das heisst zu einer Symptomreduktion. Diese «Aufhellung» des klinischen Zustandsbildes wird leider immer wieder als Zustandsverbesserung fehlinterpretiert und kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass das Risiko einer bevorstehenden Suizidhandlung nicht adäquat erkannt wird. Der Prozess von der Planung bis zur suizidalen Verhaltensweise verläuft keineswegs linear, sondern kann durch verschiedene Phasen beschrieben werden, die die Betroffenen durchlaufen, auf die weiter unten näher eingegangen wird. Kurz vor der eigentlichen Suizidhandlung führt oder, dramatischer formuliert, «entlädt sich» die Kulmination des psychischen Schmerzes und des unerträglich gewordenen Leidens für den Betroffenen in einem dissoziativen Zustand. Heute geht man davon aus, dass die meisten Suizidhandlungen in einem dissoziativen Zustand vollzogen werden (17) und nicht bei klarem Bewusstsein mit dem vollumfänglich verfügbaren kognitiven und emotionalen Abwägungs- und Entscheidungsvermögen. Das unerträgliche Leiden wird abgespalten, und Patienten berichten, dass ein «Schalter» in ihnen umgelegt werde, der sie «wie automatisch» zur suizidalen Verhaltensweise hinführe. Die Vermutung liegt nahe, dass die Menschen, die vom Sprung von der Golden Gate Bridge abgehalten wurden, sich in einem dissoziierten Zustand befunden hatten. Die Intervention durch Dritte unterbrach diesen Zustand und führte die Suizidenten wieder aus der Dissoziation zurück. Somit konnte der Ablauf des ursprünglichen Suizidplanes rasch und wirksam verhindert und das Suizidrisiko durch die folgenden unterstützenden Massnahmen nachhaltig gesenkt werden.
Besonderheiten in Bezug auf die Hintergründe der Suizidalität im Alter Wert und Rolle des alten Menschen in der Gesellschaft Schon Blonski hat 1998 in seinem Buch «Neurotische Störungen im Alter» (4) darauf hingewiesen, dass die Haltung unserer westlichen Welt älteren Menschen gegenüber eine suizidfördernde sei. Auch Daniel Grob wies in seinem Artikel in der «Schweizerischen Ärztezeitung» 2012 darauf hin, dass Sterbewünsche von alten Menschen heute nicht selten begründet werden mit einer empfundenen Nutzlosigkeit, Wertlosigkeit, respektive Belastung für die Gesellschaft. Er schrieb: «Wenn alte Menschen sich lediglich noch als ‹Kosten-
faktor› erleben, ist dies wohl Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems.» Im klinischen Alltag gibt es immer wieder Beispiele für überforderte Angehörige, aber auch professionelle Helfer, die aus der eigenen Ohnmachtssituation heraus dem alten Menschen das Gefühl vermitteln, es wäre besser, wenn er nicht mehr da wäre. Es kommt auch vor, dass alte Menschen dann aktiv auf Sterbehilfeorganisationen aufmerksam gemacht werden. Wo ist dann die Grenze zwischen dem realen freien Willen und einem eher suggerierten bis aufgedrängten Wunsch, aus dem Leben scheiden zu wollen?
Negative Altersbilder – ignorierte Ressourcen Hier haben wir es mit dem Phänomen der negativen Altersbilder zu tun, die Menschen dem Alterungsprozess hilflos gegenüberstehen lassen, sie blockieren und damit auch genauere Abklärungen und Behandlung verhindern. Damit verbunden wird dem alten Menschen eine nutzlose, belastende Rolle in der Gesellschaft zugewiesen, und die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen werden ignoriert. Dabei konnten Studien zeigen, dass vorhandene Ressourcen negative Effekte des Alterns, wie zum Beispiel auch Ressourcenverluste, puffern können und dass die Einstellungen zum eigenen Altern die Ressourcen und damit den Verlauf des Alterungsprozesses beeinflussen (29, Baltes 1997, Levy 2002).
Narzisstische Kränkungen und Verluste Der Prozess des Älterwerdens ist mit Verlusten und narzisstischen Kränkungen (30) verbunden. Das lässt sich nicht leugnen, und Kumulationen solcher Verluste und Kränkungen sind dann oft auch nachvollziehbare Hintergründe, wenn ein älterer Mensch Suizidwünsche entwickelt.
Junge Therapeuten – gefangen in einer ungewohnten Gegenübertragung Im Unterschied zur Psychiatrie der jüngeren Erwachsenen gerät in der Alterspsychiatrie der in der Regel jüngere Therapeut nicht selten mit in die Sackgasse, gefangen in den eigenen negativ besetzten Vorstellungen vom Altwerden, kombiniert mit der im Vergleich zum lebenserfahreneren Gegenüber geringeren Kompetenz, Leben und insbesondere das Alter «erfahren» zu haben. Der Therapeut ist hier nicht per se der kompetente Fachmann, der sich mit eigener Lebenserfahrung und Fachwissen dem Klienten gegenüber in der Regel in der stärkeren Position befindet und sich in der Übertragung als Elternfigur anbietet. Er wird eher zum Sohn oder gar Enkel, der in der Gegenübertragung von Vater, Grossvater, Mutter oder Grossmutter Lebenserfahrung annehmen soll. Hier sind jüngere Therapeuten sehr gefordert, zum Teil überfordert (16). Das therapeutische Angebot ist entsprechend eingeschränkt.
Für ältere Menschen sind Suizidversuche gefährlicher Ältere Menschen machen weniger Suizidversuche, bevor sie sich «erfolgreich» suizidieren, als jüngere. Das liegt zum einen daran, dass sie die härteren Suizidmethoden wählen. Zum anderen scheinen sie aufgrund ihrer körperlichen Verfassung auch eine geringere Tole-
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Abbildung 4: Anzahl assistierte Suizide 1999–2010
Quelle: BFS
Abbildung 5: Suizidrate nach der Intervention durch das Bündnis gegen Depression (31)
ranz aufzuweisen, sodass bei ihnen auch Suizidversuche im Sinne eines Unfalls eher tödlich verlaufen als bei jüngeren Menschen, die die gleiche Methode anwenden, zum Beispiel beim Sprung aus dem ersten Stock. Daraus ergeben sich Forderungen an die Prävention. Die Helfer haben weniger «Chancen» als bei jüngeren suizidalen Patienten. Sie müssen schneller die Not erkennen und handeln – noch vor einem ersten Suizidversuch.
Besonderheiten in Diagnostik und Therapie Aus diesen Hintergründen heraus ergeben sich Konsequenzen für Diagnostik und Therapie der Suizidalität älterer Menschen.
Somatisierungsstörungen, Sucht und Depression Martin Hatzinger schreibt in seinem Review «Affektive Störungen im Alter» (10): «Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein deutlicher Anstieg der vollendeten Suizide für die Altersgruppe der über 70Jährigen, vor allem Männer, zu verzeichnen ist. Der oft zitierte Bilanzsuizid ist dabei äusserst selten. Suizidalität entwickelt sich am häufigsten im Zusammenhang mit der Depression.» Wie in allen anderen Altersgruppen auch muss man also zunächst einmal davon ausgehen, dass Suizidalität
auch bei älteren Menschen ein Symptom einer Depression ist. Diese stellt aber nach wie vor eine diagnostische Herausforderung dar, weil sie sich häufig hinter Somatisierung, Dysphorie, Demenz, Suchtproblematik unter anderem versteckt. In der noch jungen Fachrichtung der Alterspsychiatrie herrscht Einigkeit, dass die Depression häufig subsyndromal verläuft und daher verbunden mit Altersbildern vom «normalen» Rückzug des alten Menschen häufig übersehen wird. Dazu kommt, dass die heute älteren Menschen in einer Zeit sozialisiert sind, in der über Gefühle wenig gesprochen wurde. Häufig ist gar kein Wortschatz vorhanden, Gefühle zu benennen. Es war auch sozial nicht akzeptiert, psychische Probleme haben zu dürfen, körperliche Erkrankungen hingegen waren akzeptiert. So haben diese Menschen gelernt, Probleme über den Körper auszudrücken. Schmerzsyndrome aller Art werden so zum häufigen Ausdruck depressiver Erkrankungen älterer Menschen. Auch Selbstheilungsversuche durch Suchtmittel führen beim älteren Menschen schneller und eher zu somatischen Problemen als zum Beispiel zu sozialen. Nach Stürzen, unklaren Synkopen und anderen akuten Ereignissen landen sie auf den Notfallstationen, werden somatisch abgeklärt, ohne dass die Suchtproblematik und die dahinterstehende Depression erkannt werden.
Demenz und Depression Die Differenzialdiagnose der Demenz stellt eine weitere Herausforderung dar. Eine chronische Depression kann in eine Demenz übergehen, und Demenz kann mit einer Depression einhergehen. Kognitive Einbussen wie bei einer Demenz können bei einer Depression als Pseudodemenz imponieren. Das klinische Bild kann sehr ähnlich aussehen, auch neuropsychologisch ist nicht immer mit eindeutiger Sicherheit die Demenz von einer Depression zu unterscheiden. Hierfür braucht es längere Beobachtungszeiträume, in denen der weitere Prozess die Diagnose zeigt (siehe Artikel «Demenz und Depression» auf Seite 4).
Multimorbidität, Gebrechlichkeit und Depression Auch andere somatische Erkrankungen, vor allem Mehrfacherkrankungen, stellen einen Risikofaktor für ältere Menschen dar, an einer Depression zu erkranken. Zusätzlich erschweren Multimorbidität und Gebrechlichkeit den Zugang zu therapeutischen Angeboten.
Besonderheiten an der Schnittstelle zu somatischterminalen Erkrankungen Neuere Zahlen des Bundesamtes für Statistik weisen einen deutlichen Anstieg der begleiteten Suizide im Allgemeinen (Abbildung 4, schwarze Kurve) und im Altersbereich ab 65 Jahren im Besonderen aus (Kurve unter den assistierten Suiziden). Offensichtlich nehmen mehr Frauen als Männer die Hilfe von Sterbehilfeorganisationen in Anspruch. Gemäss der Richtlinie der SAMW «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» sind im Fall der Suizidbegleitung folgende Voraussetzungen zu prüfen: ● Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die An-
nahme, dass das Lebensende nahe ist.
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● Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit erwünscht auch eingesetzt.
● Der Patient ist urteilsfähig, der Wunsch ist wohlerwogen, ohne äusseren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muss.
Das legt die Vermutung nahe, dass ältere Menschen eher multimorbid und dem Lebensende nahe sind und damit der Suizidwunsch nachvollziehbar und nicht Ausdruck einer psychischen Erkrankung ist. In einem Bundesgerichtsentscheid von 2006 taucht diese Einschränkung «am Lebensende» nicht auf. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie viele dieser begleiteten Suizide auf einer nicht erkannten und nicht behandelten Depression basieren. In keinem anderen Altersbereich ist diese Schnittstelle so nah und damit die Diskussion über indizierte Hilfe einerseits und Akzeptanz der Endlichkeit des Lebens andererseits so notwendig wie heikel. Dass diese Abwägung sehr sorgfältig getroffen werden muss, zeigt eine Untersuchung aus Nürnberg, wo sich nach einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit durch das Bündnis gegen Depression (31) die Suizidalitätsrate vor allem im Altersbereich deutlich reduziert hat (Abbildung 5).
Das ethische Dilemma Im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Autonomie und dem auf Fürsorge ergibt sich das ethische Dilemma zwischen den Positionen: 1. Ein mehrfach kranker, alter Mensch hat das Recht,
selbstbestimmt den Zeitpunkt des Todes frei zu wählen, und dementsprechend dürfen Helfer, die nicht selbstsüchtig handeln, ihn dabei unterstützen. 2. Auch ein älterer Mensch hat das Recht auf Diagnose und Behandlung einer Depression. Da internationale Untersuchungen belegen, dass die Depression im Alter oft nicht erkannt und/oder nicht adäquat behandelt wird, muss man davon ausgehen, dass sich auch unter den assistierten Suiziden älterer Menschen unerkannte Depressionen befinden.
Besondere therapeutische
Herausforderung
Es kommt vor, dass psychiatrische Patienten mit einer
Sterbehilfeorganisation ihren assistierten Suizid planen
und parallel in psychiatrisch-psychotherapeutischer
Behandlung bleiben. Daraus ergeben sich komplexe
und sehr herausfordernde Situationen für das Helfer-
team, insbesondere dann, wenn in einer Lebenswelt
des Patienten therapeutisch an der Erweiterung des
Denkens und der Suche nach Alternativen gearbeitet
wird und in einem anderen Lebensbereich durch Vor-
bereitung des Suizids automatisch die Einengung des
Denkens auf den Suizid vorangetrieben wird, die aus
psychiatrischer Sicht ein Symptom der Erkrankung dar-
stellt.
Ein gutes Verständnis der mit der Suizidalität verbun-
denen Prozesse ist eine fundamentale Voraussetzung
für eine wirksame Prävention. Entwicklungsmodelle
bieten uns hilfreiche Möglichkeiten, zu verstehen und
nachzuvollziehen, wie sich Patienten in ihrer Suizida-
lität fühlen.
Dazu mehr in Teil 2, der in P&N, Ausgabe 4/2013, er-
scheinen wird.
●
Korrespondenzadresse:
lic. phil. Gregor Harbauer
Leitender Psychologe
Therapeutischer Leiter
Leiter Bildung + Standesfragen Psychologie
Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland
Erwachsenenpsychiatrie ERP
KIZ Kriseninterventionszentrum
E-Mail: Gregor.Harbauer@ipw.zh.ch
Bleichestrasse 9
Postfach 144
8408 Winterthur
Internet: www.ipw.zh.ch
Teil 2: Suizidalität im Alter Hilfreiche Erklärungsmodelle zur Suizidprävention erscheint in P&N, Ausgabe 4/2013.
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