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Schwangerschaft bei Multipler Sklerose
Untertitel
-
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Fallvignette: Mit 22 Jahren wird die Patientin erstmalig symptomatisch. Nach zwei Krankheits- schüben erfolgt die Behandlung mit einem Interferon. Sechs Jahre nach der Diagnose möchte die Patientin schwanger werden. Für die Schwangerschaftsplanung kommt sie in die MS-Sprechstunde am USZ.
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Serie: Multiple Sklerose Teil 5
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7340
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SERIE: MULTIPLE SKLEROSE TEIL 5
Lieber Leser, liebe Leserin Die Multiple Sklerose ist trotz neuer Medikamente und intensiver Forschungsbemühungen eine bis heute unheilbare und chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. In einer mehrteiligen Serie möchten wir Ihnen die vielfältigen Gesichter dieser Krankheit nahebringen. PD Dr. Michael Linnebank, Leitender Arzt, Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich (USZ), stellt Ihnen Fallbeispiele aus der Sprechstunde für die praxisorientierte Fortbildung vor.

Schwangerschaft bei Multipler Sklerose
Fallvignette: Mit 22 Jahren wird die Patientin erstmalig symptomatisch. Nach zwei Krankheitsschüben erfolgt die Behandlung mit einem Interferon. Sechs Jahre nach der Diagnose möchte die Patientin schwanger werden. Für die Schwangerschaftsplanung kommt sie in die MS-Sprechstunde am USZ.

I m Alter von 22 Jahren kommt es bei der Patientin zu einer Sehnerventzündung, die ohne spürbare Folgen bleibt. Etwa ein halbes Jahr später kommt es zu einer Gefühlsstörung des rechten Arms, und die Diagnose einer schubförmigen Multiplen Sklerose wird gestellt. Eine Basistherapie mit Interferon beta-1a s. c. wird begonnen. Unter der Behandlung kommt es zu einem weiteren Schub, dann stabilisiert sich die MS. Mit 28 Jahren kommt sie erstmals in die MS-Sprechstunde am USZ mit der Frage, wie eine Schwangerschaft zu planen sei. Nach eingehender Beratung entscheidet sich die Patientin, die Interferontherapie bis zum Beginn einer Schwangerschaft fortzuführen. Als diese eintritt, wird die Therapie unterbrochen. Schwangerschaft und Geburt verlaufen komplikationslos. Nach der normalen Entbindung stillt die Patientin nicht, sie nimmt die Basistherapie wieder auf. Bisher, knapp ein Jahr nach der Geburt, ist es zu keinem neuen Schub gekommen.

Kasten:
Schwangerschaft unter Fingolimod
Novartis hat die multinationale Beobachtungsstudie Gilenya Pregnancy Registry (www.gilenya pregnancyregistry.com; gpr@outcome.com) initiiert. Erfasst werden sollen weltweit zirka 500 Frauen, die während der Behandlung mit Fingolimod schwanger werden. Die Internetseite enthält auch wichtige Informationen für betroffene Patientinnen.

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SERIE: MULTIPLE SKLEROSE TEIL 5

«Manche Patientinnen sind besorgt, ob sie die zusätzliche Belastung durch ein Kind schaffen»

Michael Linnebank

Trotz Krankheit möchten Frauen mit einer Multiplen Sklerose schwanger werden. Hierzu müssen die

Patientinnen gut beraten werden und wichtige Entscheidungen treffen, sagt PD Dr. Michael Linne-

bank, Leitender Arzt Neurologie am Universitätsspital Zürich.

Psychiatrie & Neurologie: Erhöht eine Schwangerschaft das Risiko für Krankheitsschübe? PD Dr. Michael Linnebank: Die Krankheitsaktivität nimmt während einer Schwangerschaft sogar ab. Der genaue Grund ist unklar; aber offensichtlich ist das Immunsystem während der Schwangerschaft verändert. Die während der Schwangerschaft meist niedrige Krankheitsaktivität spricht dafür, MS-Medikamente in der Zeit der Schwangerschaft nicht zu geben. Bei Patientinnen mit grundsätzlicher hoher MS-Aktivität wäre zu überlegen, die Behandlung dennoch weiterzuführen. Die bei diesen Präparaten inzwischen umfangreichen Datensammlungen zu Schwangerschaften geben keine Hinweise, dass Beta-Interferone, Glatirameracetat oder Natalizumab zu einer erhöhten Fehlbildungsrate führen. Untersuchungen zu möglichen langfristigen Auswirkungen zum Beispiel auf das Immunsystem der Kinder liegen nicht vor, und aus grundsätzlichen Erwägungen möchte man Medikamentenexpositionen in utero natürlich möglichst vermeiden. Auch sind nicht alle MSMedikamente entsprechend zugelassen.
Wie sind Sie speziell beim Fallbeispiel vorgegangen? Michael Linnebank: Interferon beta-1a darf offiziell nach sorgfältiger individueller Abwägung auch bei Kinderwunsch und gegebenenfalls bei eingetretener Schwangerschaft weitergegeben werden. Die hier vorgestellte Patientin hat sich entschieden, die Behandlung bis zur Schwangerschaft fortzuführen, um nicht für einen zunächst ungewissen Zeitraum ohne Therapie zu sein, und dann die Behandlung zu unterbrechen. Leider ist die MS-Aktivität ungefähr in den ersten drei Monaten nach einer Geburt erhöht, sodass Läsionen oder Schübe, die während der Schwangerschaft seltener als durchschnittlich auftreten, oft «nachgeholt» werden. Hier hatte diese Patientin Glück. Auch aus Sorge vor der Krankheit entschied sie sich, nach der Geburt unmittelbar wieder mit der Therapie zu beginnen. Das bedeutet allerdings, dass sie nicht stillen sollte, da die Medikamente möglicherweise in die Muttermilch übergehen und nicht bekannt ist, ob dies Nachteile für das Kind ergeben könnte.
Schränken die Medikamente die Fertilität ein? Michael Linnebank: Für die Reproduktivität von Frauen und Männern sind die immunmodulierenden Therapien nicht relevant, jedoch die systemischen Immunsuppressiva wie Mitoxantron, welche die Fertilität häufig langfristig beeinträchtigen Die MS selbst hat häufig einen Ein-

fluss auf den Schwangerschaftswunsch. Manche Patientinnen sind zum Beispiel besorgt, ob sie die zusätzliche Belastung durch ein Kind schaffen. Für die Beratung betreffend einer möglichen Schwangerschaft kann es aus diesem Grund vorteilhaft sein, wenn beide Partner dabei sind.

Können Frauen ihr Kind nach der Geburt stillen? Michael Linnebank: Möglicherweise hat das Stillen einen positiven Einfluss auf die MS; die Daten hierzu sind jedoch nicht alle eindeutig. Während des Stillens sollen jedoch die MS-Medikamente nicht genommen werden.

Hat es genügend Wissen bezüglich der Teratogenität immunmodulierender Therapien? Michael Linnebank: Zu allen Medikamenten werden entsprechende Daten gesammelt. Während nach aktuellem Kenntnisstand die Spritzenpräparate und Natalizumab nicht mit Teratogenität assoziiert sind, ist das für Fingolimod weniger klar: Es hat Fälle von Fehlbildungen unter Fingolimodtherapie gegeben, und im Tierversuch hat es teratogenes Potenzial. Während der Behandlung muss eine zuverlässige Kontrakonzeption erfolgen. Mitoxantron, das nur in ausgesuchten Fällen zur Behandlung der MS eingesetzt wird, ist teratogen und verlangt eine sichere Kontrakonzeption. Eine Schwangerschaft ist erst nach einem Sicherheitsabstand von mindestens sechs Monaten nach der letzten Gabe empfohlen, möglicherweise besteht aber auch dann noch ein erhöhtes Risiko. Dieses Präparat kann zudem zur Infertilität von Frauen und Männern führen.

Wie wird behandelt, wenn es während der Schwangerschaft doch zu einem Krankheitsschub kommt? Michael Linnebank: Die Behandlung mittels Kortisonstoss ist während der Schwangerschaft grundsätzlich möglich. Wir ziehen meist die Gynäkologen hinzu. Prednisolon ist viel weniger plazentagängig als Dexamethason, aber auch gut wirksam, deshalb ist dieses Präparat zu bevorzugen.

Können Frauen mit MS normal entbinden?

Michael Linnebank: Eine Entbindung auf normalem

Weg ist möglich, auch können unter der Geburt alle üb-

lichen Medikamente gegeben werden.

Das Interview führte Annegret Czernotta.

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