Transkript
EDITORIAL
Natrium-Pentobarbital – kein OTC-Präparat!
Die Schweiz hat eine lange Tradition des Diskutierens um das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, auch auf assistierten Selbstmord mithilfe von Sterbehilfeorganisationen beziehungsweise eines assistierenden Arztes oder einer Ärztin. Die liberale Haltung hatte sich früh durchgesetzt, lange bevor man sich etwa in Deutschland dazu durchrang, vom paternalistischen Verbot der Hilfe zum Suizid abzurücken. In Frankreich ist passive Sterbehilfe noch immer nicht geregelt. Alain Delon etwa, 1935 geboren, seit dem Jahr 2000 Schweizer Bürger und heute in Frankreich und in der Schweiz lebend, hatte nach mehreren Schlaganfällen seit 2019 über seinen Sohn verlauten lassen, dass er alle Vorbereitungen für eine aktive Sterbehilfe in der Schweiz getroffen habe. Das vorderhand letzte Kapitel in der – zum Glück – immer weiter gehenden, weil notwendigen Diskussion schrieb man vor Kurzem in Deutschland. Zwei Männer – der eine an einer unheilbaren Krebserkrankung leidend, der andere infolge seiner Multiplen Sklerose vollständig gelähmt und zu hundert Prozent auf Hilfe angewiesen – hatten sich das Recht erstreiten wollen, die für einen Suizid notwendigen 15 Gramm Natrium-Pentobarbital zum von ihnen gewählten Zeitpunkt frei kaufen zu dürfen. Sie gelangten mit ihrer Forderung – nämlich das Präparat erstehen und bei sich zuhause aufbewahren zu dürfen bis zum Zeitpunkt ihres Ent-
scheids, sich zu töten, und dies ohne auf ärztliche
Unterstützung und Beihilfe angewiesen zu sein – bis
ans Bundesverwaltungsgericht. Wie schon das zuvor
angerufene BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte) lehnte das Bundesverwaltungs-
gericht die Klage unter Verweis auf das Betäubungs-
mittelgesetz ab. Letzteres diene, so die Begründung,
dem Schutz der Bevölkerung vor Missbrauch. Medika-
mente, die dem Betäubungsmittelgesetz unterstehen,
seien zur Linderung und Heilung von Krankheiten vor-
gesehen; der Zweck der Selbsttötung widerspreche
diametral dem Grundsatz des Gesetzes. Die mit dem
freien Verkauf einer potenziell tödlichen Substanz
verbundenen Risiken des Missbrauchs seien zudem für
die Allgemeinheit nicht akzeptabel. Es gebe andere
Mittel und Wege, dem eigenen Leben ein Ende zu set-
zen, etwa mithilfe von Ärzten oder Sterbeorganisatio-
nen. In Abwägung von Nutzen und Risiken sei es des-
halb Suizidwilligen zumutbar, diese wie die Richter
zugeben zweifellos gewichtige Einschränkung in Kauf
zu nehmen.
Enttäuscht äussersten sich nach dem Urteil die Kläger
und ihre Anwälte. Sie sprachen von einem «schwarzen
Tag für alle Suizidwilligen» und tragen sich mit dem
Gedanken, ans Bundesverfassungsgericht zu gelan-
gen.
Fazit: Bei aller Sympathie für den Wunsch der beiden
Männer und anderer Schwerstkranker und Unheil-
barer scheint die Grenze, die das Gericht hier gesetzt
hat, verhältnismässig. Nicht das Recht auf einen
selbstbestimmten Tod wird damit negiert, sondern
lediglich der eine, in der Tat nicht unproblematische
Weg über freie Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von
Natrium-Pentobarbital. Der Vorwurf der Kläger, von
Staat und Justiz bevormundet zu werden, ist nur be-
schränkt nachvollziehbar. Auch wenn der Hinweis der
Richter, es gebe andere, zumutbare Wege, selbstbe-
stimmt aus dem Leben zu scheiden, zynisch klingen
mag – eine in geringer Dosis tödliche Arznei fast wie
ein x-beliebiges OTC-Präparat zu behandeln, wäre es
auch. Das Bundesverwaltungsgericht konnte kaum
anders entscheiden.
s
Richard Altorfer
ARS MEDICI 23 | 2023
649