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Fatigue bei Multipler Sklerose
Untertitel
-
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Fallvignette: Der 43-jährige Patient wird erstmalig 2010 symptomatisch. Eine Therapie der Multiplen Sklerose verneint der Patient nach dem ersten Krankheitsschub. Allerdings schränken ihn die Symptome einer Fatigue stark ein. Der operativ tätige Arzt wird arbeitsunfähig.
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Serie: Multiple Sklerose Teil 4
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7327
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SERIE: MULTIPLE SKLEROSE TEIL 4
Lieber Leser, liebe Leserin Die Multiple Sklerose ist trotz neuer Medikamente und intensiver Forschungsbemühungen eine bis heute unheilbare und chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. In einer mehrteiligen Serie möchten wir Ihnen die vielfältigen Gesichter dieser Krankheit nahebringen. PD Dr. Michael Linnebank, Leitender Arzt, Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich (USZ), stellt Ihnen Fallbeispiele aus der Sprechstunde für die praxisorientierte Fortbildung vor.

Fatigue bei Multipler Sklerose
Fallvignette: Der 43-jährige Patient wird erstmalig 2010 symptomatisch. Eine Therapie der Multiplen Sklerose verneint der Patient nach dem ersten Krankheitsschub. Allerdings schränken ihn die Symptome einer Fatigue stark ein. Der operativ tätige Arzt wird arbeitsunfähig.

I m Alter von 43 Jahren erfährt der Patient erstmals MS-Symptome. Bei diesem ersten Schub treten eine Optikusneuritis und Kribbelparästhesien an beiden Beinen auf. Das MRI (Magnetresonanztomografie) zeigt mehrere zerebrale und spinale Läsionen; insgesamt vier nehmen Kontrastmittel auf. Die MS-Kriterien nach McDonald 2010 sind erfüllt (4). Die Symptome bilden sich nach einer Steroid-Stoss-Therapie vollständig zurück. Der Patient, ein operativ tätiger Arzt, möchte die Basistherapie der MS zu diesem Zeitpunkt nicht. Nach zwei Monaten ereignet sich ein neuer Schub mit einer Monoparese des rechten Arms. Auch diese bildet sich nach einer Steroid-Stoss-Therapie vollständig zurück. Der Patient beginnt eine Basistherapie. Bereits vor dem ersten Schub litt der Patient an körperlicher und psychischer Erschöpfung, der sogenannten Fatigue (Kasten). Diese verstärkt sich nach dem zweiten Schub stark und persistiert. Über mehrere Wochen ist der Patient arbeitsunfähig, danach beginnt er in einem 50-Prozent-Pensum mit jedoch reduzierter Leistungsfähigkeit. Es erfolgen Off-label-Therapieversuche mit einem Serotoninwiederaufnahme-Hemmer, Amantadin und schliesslich Modafinil in hoher Dosis. Diese sind erfolgreich, und die Arbeitsfähigkeit wird weitgehend wieder hergestellt. Jedoch muss der Patient die hohen Medikamentenkosten selber tragen.

Kasten:
Definition der Fatigue
Als MS-bedingte Fatigue wird die anhaltende, subjektive Empfindung von psychischer und/ oder physischer Erschöpfung im Zusammenhang mit Multipler Sklerose definiert (1). Die Symptome treten bei einem grossen Teil der MS-Patienten auf und schränken die psychische oder physische Leistungsfähigkeit ein (2, 3). Bei der physischen Fatigue kann körperliche Beanspruchung zu einer allgemeinen Schwäche oder einer deutlichen Zunahme körperlicher MSSymptome führen. Die psychische Fatigue führt zu einer übermässig raschen Abnahme der Leistungsfähigkeit bei geistiger Tätigkeit.

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SERIE: MULTIPLE SKLEROSE TEIL 4
Fatigue: Keine Therapie für eines der wichtigsten MS-Symptome

Gegen die MS-bedingte Fatigue ist bis heute kein Medikament zugelassen, und es existiert keine ausreichende Evidenz für eine solche Therapie. PD Dr. Michael Linnebank, Leitender Arzt Neurologie am Universitätsspital Zürich, erklärt im Interview Details hierzu.

Michael Linnebank

Psychiatrie & Neurologie: Wie häufig kommt es zur MSbedingten Fatigue? PD Dr. Micheal Linnebank: Die meisten von einer MS Betroffenen leiden bereits zu Beginn oder im Verlauf der Krankheit an einer physischen oder psychischen Fatigue. Diese ist eines der wichtigsten MS-Symptome und ein häufiger Grund für Arbeitsunfähigkeit. Die Symptome können fluktuieren, persistieren aber meist über einen längeren Zeitraum.
Was sind die Ursachen? Michael Linnebank: Zu den Ursachen gibt es nur Hypothesen. Möglicherweise sind zentral-endokrinologische Faktoren relevant; auch könnte die Fatigue Folge kontinuierlicher entzündlicher Aktivität im ZNS oder das Resultat multipler, zu einer partiellen Diskonnektion zentralnervöser Bahnen führender Demyelinisierungen und axonaler Schäden sein.
Wie lässt sich die Fatigue von einer Depression abgrenzen? Michael Linnebank: Fatigue und Depression sind nicht immer voneinander abgrenzbar und treten auch eher häufig gemeinsam auf. Oft jedoch kann eine gezielte neuropsychologische Untersuchung Fatigue von Depression unterscheiden.
Wie sieht die Behandlung aus? Michael Linnebank: Obwohl die Fatigue ein sehr wichtiges MS-Symptom ist, gibt es weder eine zugelassene Therapie noch ausreichende Evidenz für eine nicht zugelassene Therapie. Die vorhandenen Daten lassen jedoch annehmen, dass manche Patienten von aktivierenden Antidepressiva wie SSRI, von Fampridin, von Amantadin oder von Modafinil profitieren. Wir besprechen diese Medikamente mit betroffenen Patienten und vereinbaren manchmal ensprechende Off-labelTherapieversuche. Den Therapieerfolg untersuchen wir kurzfristig neuropsychologisch. Häufig erscheint dieser ausreichend gut, um ein Fortführen der Therapie medizinisch zu rechtfertigen. Der Aufwand dieser Off-labelTherapien ist jedoch hoch, da sie häufig nicht von den Krankenkassen finanziert werden und zudem juristische Hürden für die Ärzte nach sich ziehen. Aufgrund der unzureichenden Studienlage ist es schwer, Nutzen und Risiken dieser Medikamente für dieses Einsatzgebiet allgemein oder im Einzelfall abzuwägen.

Die Behandlung der MS wird immer diversifizierter. Hat es unter den zugelassenen Medikamenten solche, die auch gegen Fatigue wirken? Michael Linnebank: Fatigue war in keiner entsprechenden, grösseren Studie primärer Endpunkt. Anscheinend bessert sich bei manchen Patienten aber mit Beginn einer individuell gut wirksamen Basistherapie auch die Fatigue.

Wie sieht es mit Bewegung aus? Michael Linnebank: Manche Patienten profitieren von einem moderaten Ausdauertraining oder anderen körperlichen Betätigungen wie Yoga, ebenso wie von einer geordneten Tagesstruktur mit regelmässigem und ausreichendem Nachtschlaf und Ruhepausen während des Tages. Allerdings sind manche Patienten zu stark betroffen, um solche Programme durchhalten zu können.

Was müsste in der Forschung geschehen, damit man

die Fatigue behandeln könnte?

Michael Linnebank: Die Fatigue beeinträchtigt das pri-

vate und berufliche Leben der Betroffenen oft stark. Als

häufiger Grund für Arbeitsunfähigkeit ist Fatigue volks-

wirtschaftlich relevant. Studien, welche die manchmal

bereits off label eingesetzten oder neue Medikamente

aussagekräftig untersuchen, wären sehr wünschens-

wert. Vermutlich hätten viele Patienten Interesse, an

solchen Studien teilzunehmen. Solange keine derarti-

gen Studien verfügbar sind, muss in jedem Einzelfall

sehr sorgfältig überlegt und diskutiert werden, ob ein

Off-label-Therapieversuch gerechtfertigt ist.

Das Interview führte Annegret Czernotta.

Referenzen:
1. Schwid S, Covington M, Segal B, Goodman A.: Fatigue in multiple sclerosis: current understanding and future directions. J Rehabil Res Dev 2002; 39: 211–24.
2. Freal JE, Kraft GH, Coryell JK.: Symptomatic fatigue in multiple sclerosis. Arch Phys Med Rehabil 1984; 65: 135–8.
3. Fisk JD, Pontefract A, Ritvo PG, Archibald CJ, Murray TJ. The impact of fatigue on patients with multiple sclerosis. Can J NeurolSci 1994; 21: 9–14.
4. Polman CH, Stephen C., Rheingold PhD et al.: Diagnostic criteria for multiple sclerosis: 2010 Revisions to the McDonald criteria. Ann Neurol 2011; 69: 292–302.

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