Transkript
FORTBILDUNG
Chronische Schmerzen nach Sturz auf das Steissbein
Vorgehen bei Kokzygodynie
Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die Kokzygodynie, den Schmerz im Bereich des Steissbeins. Obwohl der Begriff der Kokzygodynie schon 1859 erstmals beschrieben wurde, gibt es nur wenige Behandelnde, die das Krankheitsbild ernst nehmen. Dadurch haben betroffene Patienten sehr häufig einen langen Leidensweg hinter sich, bevor sie an der richtigen Stelle landen und dann in der Regel zunächst konservativ, bei Bedarf auch operativ behandelt werden.
Achim Benditz
Simpson beschrieb 1859 den schmerzhaften Zustand beim Sitzen und Aufstehen als Kokzygodynie (15). Patrick Foye, der sich in den USA des Themas rund um das Steissbein angenommen hat, bezeichnet die Steissbeinschmerzen als die «tiefste» Stelle von Rückenschmerzen (4). Die Patienten berichten typischerweise alle über einen Schmerz im Sitzen direkt am Steissbein, der sich bei Lageänderung, vor allem beim Aufstehen bei zurückgeneigtem Sitzen, wie zum Beispiel im Auto oder auf dem Sofa, deutlich verstärkt. Wenn die Symptomatik einige Zeit besteht, können die Schmerzen um das Steissbein herum ausstrahlen. Abhängig von der Instabilität können auch Symptome bei der Defäkation beschrieben werden. Da nur wenige Ärzte mit diesem Krankheitsbild vertraut sind, haben die Patienten alle eine lange «Arzthistorie» hinter sich und müssen manchmal mehrere Jahren mit den Schmerzen leben. Häufig werden die Beschwerden mit einem Verweis auf die Psyche als Ursache abgetan (4).
Ätiologie und Anatomie
Die Inzidenz der Kokzygodynie wird immer mit 1 Prozent angegeben; jedoch ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Laut Literatur sind Frauen 4- bis 5-mal häufiger betroffen als Männer, was mit den natürlichen Geburten erklärt wird, Kinder dagegen eher selten (2). Als
MERKSÄTZE
� Alle Patienten mit Kokzygodynie nehmen eine nach vorne geneigte, häufig leicht seitliche Sitzposition ein.
� Diagnostischer Goldstandard sind Funktionsaufnahmen des Steissbeins im Stehen und Sitzen.
� Vor einer Operation sollten während mindestens 6 Monaten konservative Massnahmen versucht werden.
Ursache unterscheidet man die traumatische von der idiopathischen Kokzygodynie. Aus Sicht des Autors ist davon auszugehen, dass auch bei der idiopathischen Kokzygodynie in der Vergangenheit ein Trauma zu der initialen Instabilität geführt hat, die Schmerzen jedoch nicht sofort auftraten. Die Folgen eines direkten vertikalen Traumas können von einer Prellung bis hin zu Frakturdislokation des Steissbeins variieren. Eine traumatische oder nicht traumatische Beeinträchtigung der Steissbeinbänder kann zu einer dynamischen Instabilität des Steissbeins führen (übermässige Bewegung des Steissbeins während der Belastung oder beim Sitzen). In der Literatur werden Adipositas und schneller Gewichtsverlust als zusätzliche Risikofaktoren genannt (9, 10, 12). Als Differenzialdiagnosen kommen zum Beispiel Infektionen (inkl. Weichteilabszesse und Osteomyelitis), gynäkologische Gründe (Endometriose), urologische Ursachen (Prostatitis) oder Malignität (Chordom) in Betracht (14). Auch müssen Erkrankungen des unteren Gastrointestinaltrakts oder des Urogenitaltrakts ausgeschlossen werden (7). Anatomisch gesehen, besteht das «Steissbein» tatsächlich aus 2 bis 5 separaten Wirbelkörpern, mit erheblicher Variabilität in Bezug darauf, ob sie fusioniert sind oder nicht. Die Verbindung zum Kreuzbein ist das Sakrokokzygealgelenk. Trotz des Begriffs Gelenk ist dort eine faserknorpelige Bandscheibe enthalten. In Einzelfällen wurde auch eine Knorpelschicht wie in einem richtigen Gelenk gefunden (12). Biomechanisch kann das Steissbein neben den beiden Sitzbeinhöckern (Tuber ischiadicum) als Dreibein zur Stabilisierung der sitzenden Position betrachtet werden (8).
Der typische Patient
Anamnese Die typischen Beschwerden bei Kokzygodynie wurden von Thiele 1963 erstmals veröffentlicht (16). Als Symptome wurden scharfes Stechen in den unteren Kreuzbein- oder Steissbeinsegmenten, insbesondere beim Sitzen auf ebenen und harten Oberflächen, angegeben. Die Schwere der Schmerzen
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Tabelle:
10 Aussagen zur Kokzygodynie
Aussage 1 Aussage 2 Aussage 3 Aussage 4 Aussage 5 Aussage 6 Aussage 7 Aussage 8 Aussage 9 Aussage 10
Schmerzen seit ungefähr 1 Jahr oder länger Schmerzen im Bereich des Steissbeins Schmerzen vor allem beim Sitzen oder bei Lageänderung Mehr als 3 verschiedene Ärzte aufgesucht Darmspiegelung durchgeführt Steissbeinfistel abgeklärt Vom Orthopäden nicht ernst genommen Im Röntgen oder in der MRT wurde nichts festgestellt Schmerzen wurden auf «die Psyche» geschoben Urologische/gynäkologische Abklärung erfolgt
Wenn 6 der 10 Aussagen zutreffen und dabei Aussage 1 angekreuzt wurde, handelt es sich fast sicher um eine Kokzygodynie.
MRT: Magnetresonanztomografie
im Auto wird als extrem schmerzhaft beschrieben, obwohl in der Regel schon ein Ringsitzkissen eingesetzt wird. Die wenigsten haben Schmerzen beim Gehen und im Liegen. Der Grossteil bevorzugt weiche Sitzunterlagen. Der Schmerz kann als lokaler Schmerz im Bereich des Steissbeins angegeben werden. Viele Patienten berichten zudem, dass sie das Gefühl hätten, das Steissbein bewege sich bei Lageänderung, und berichten über Schmerzen bei der Defäkation. In der Tabelle sind die 10 häufigsten Aussagen der Patienten aufgelistet.
Klinische Untersuchung Bei der körperlichen Untersuchung sollte zunächst die typische Sitzhaltung des Patienten, welche nach vorne geneigt ist, beachtet werden. Danach wird die darüber liegende Haut im Bereich des Steissbeins palpiert. Dort können sich fokale Druckempfindlichkeiten zeigen (17). Es ist entscheidend, die schmerzhafte Steissbeinspitze zu palpieren und eine eventuell vorhandene Instabilität zu tasten. Es können die schmerzhaften kaudalen Anteile von den kranialen, weniger schmerzhaften Segmenten unterschieden werden (1). Eine rektal-digitale Untersuchung sollte zum Ausschluss anderer Ursachen durchgeführt werden, bringt aber für die Diagnose der Kokzygodynie keinen Mehrwert.
Abbildung: Kokzygodynie Typ III nach Benditz-König im Stehen und im Sitzen (© A. Benditz)
variiert. Aktivitäten, die zu einer erhöhten Belastung des M. levator ani führen, wie Stuhlgang und Geschlechtsverkehr, können bei solchen Patienten ebenfalls zu einer Verstärkung der Symptome führen. Da die nach hinten geneigte Sitzposition immer zu einer Schmerzverstärkung führt, fällt zuerst auf, dass alle Patienten im Sprechzimmer eine nach vorne geneigte, häufig leicht seitliche Sitzposition einnehmen. Ist dies nicht der Fall, liegt selten eine wirkliche Kokzygodynie vor. Anamnestisch berichten alle Patienten über eine «Arztodyssee» mit mehr als 3 erfolglosen Konsultationen über mehrere Jahre. Viele haben eine koloskopische, urologische und gynäkologische Abklärung ohne Ergebnis hinter sich. Manche sind zudem erfolglos an einer Sinus pilonidalis operiert. Der grösste Teil wird schmerztherapeutisch und psychologisch mit der Diagnose einer chronischen Schmerzstörung betreut. Durchgeführte Bildgebungen, meist eine Magnetresonanztomografie (MRT), blieben ebenfalls unauffällig. Klinisch berichten die Betroffenen über den Hauptschmerz im Sitzen mit einer Verstärkung bei Reklination und bei Lageänderung, vor allem beim Aufstehen. Gerade die Sitzposition
Bildgebung Maigne et al. veröffentlichten bereits 1994 die Technik der dynamischen Funktionsaufnahmen des Steissbeins in seitlich stehender und sitzender Position des Steissbeins (11, 13). Dabei wird zunächst eine Aufnahme im Stehen und nach 5-minütigem Sitzen in schmerzhafter, reklinierter Position angefertigt. Danach werden die Folien der Aufnahmen übereinandergelegt. Eine Winkelbeweglichkeit von mehr als 25° oder weniger als 5° wurde als abnormal beschrieben. Aus Sicht des Autors sind diese Funktionsaufnahmen der Goldstandard in der Diagnosestellung, da in der MRT, welche im Liegen durchgeführt wird, keine Instabilitäten zu erkennen sind. Der Autor veröffentlichte 2021 die Benditz-König-Klassifikation, um eine schnelle Einschätzung des digitalen Röntgenbildes zu ermöglichen (7). Es werden 4 Typen unterschieden. Bei Typ I handelt es sich um ein langes Segment, das nach ventral mehr als 15° abkippt, bei Typ II um mehrere Segmente. Typ II war der häufigste Typ. Typ III und IV beschreiben Subluxationen nach dorsal, wobei mehr als 50 Prozent der Typ-IV-Patienten operiert wurden, was im Vergleich zu Typ I und II signifikant erhöht ist. In der Abbildung sieht man das Beispiel eines Typ III.
Therapie
Vor einer Operation sollte die konservative Therapie über mindestens 6 Monate ausgeschöpft werden (3). In der Literatur ist eine Vielzahl von konservativen Möglichkeiten, jedoch lediglich in kleinen Fallzahlen, mit positivem Effekt beschrieben. In der Akutphase stehen nicht steroidale entzündungshemmende Medikamente in Kombination mit einem Ringsitzkissen oder Keilkissen zur Druckentlastung an erster Stelle. Beckenbodenphysiotherapie kann bei Patienten hilfreich sein, die eher Muskelschmerzen in den angrenzenden Muskeln um das Steissbein oder eine stark angespannte Beckenbodenmuskulatur haben (5). Sollten diese nicht invasiven Behandlungsmethoden nicht zum Erfolg führen, sollten In-
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jektionen mit Lokalanästhetikum und Steroiden zum Einsatz kommen. Dabei hat die Lokalanästhetikagabe auch eine diagnostische Funktion, um ein mögliches operatives Ergebnis abzuschätzen. In der Literatur werden bildwandlergestützte, computertomografiegesteuerte oder Freihandinjektionen beschrieben. Ziel ist dabei die Umflutung des schmerzhaften Areals (6, 8). Es gibt auch eine Studie, die den positiven Effekt der extrakorporalen Stosswellentherapie (ESWT) zeigt.
Eigenes Vorgehen Da die meisten Patienten schon etliche konservative Vortherapien haben, erfolgt die Testinfiltration meist beim ersten Kontakt. Durch die schnelle Wirkung des Lokalanästhetikums kann eine erste Einschätzung nach wenigen Minuten erfolgen, indem sich der Patient nun mit deutlich reduziertem Schmerz im Sitzen nach hinten lehnen kann. Sollten die ersten beiden Infiltrationen nicht ausreichen, können diese in regelmässigen Abständen von 4 bis 6 Monaten wiederholt werden. Bei Patienten mit nur kurzfristiger Wirkung kann eine Kokzygektomie besprochen werden. Die eigene Quote der operierten Patienten liegt aktuell bei 16 Prozent. Aus eigener Erfahrung brauchen die Patienten etwa 3 bis 4 Monate, um deutlich schmerzreduziert und zufrieden zu sein. Zwar ändert sich postoperativ der Schmerzcharakter sofort, jedoch dauert es, bis sich die Narbe in der Tiefe an alle Alltagsbewegungen und Sitzpositionen adaptiert hat. Daher ist es wichtig, die Patienten im Vorfeld gut zu informieren, um falsche Erwartungshaltungen zu vermeiden.
Fazit für die Praxis
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Kokzygodynie
ein häufig unterschätztes Beschwerdebild ist, das die Lebens-
qualität der Patienten maximal einschränkt. Daher sollten
betroffene Patienten frühzeitig ernst genommen und der rich-
tigen Behandlung zugeführt werden.
s
Prof. Dr. med. Achim Benditz MHBA, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Facharzt für Allgemeinchirurgie Klinikum Fichtelgebirge D-95615 Marktredwitz
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 5/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. Benditz A: Kokzygodynie – ein häufig unterschätztes Krankheitsbild. Z
Rheumatol. 2023;82(1):25-30. 2. Benditz A, König MA: Therapieresistente Kokzygodynie sollte nicht län-
ger als Mythos angesehen werden: der chirurgische Zugang. Der Orthopäde. 2019;48(1):92-95. 3. Fogel GR et al.: Coccygodynia: evaluation and management. J Am Acad Orthop Surg. 2004;12(1):49-54. 4. Foye PM: Stigma against patients with coccyx pain. Pain Med. 2010;11(12):1872. 5. Foye PM: Coccydynia: tailbone Pain. Phys Med Rehabil Clin N Am. 2017;28(3):539-549. 6. Garg B, Ahuja K: Coccydynia – a comprehensive review on etiology, radiological features and management options. J Clin Orthop Trauma. 2021;12(1):123-129. 7. König MA et al.: A novel radiological classification for displaced os coccyx: the Benditz-König classification. Eur Spine J. 2022;31(1):10-17. 8. Lirette LS et al.: Coccydynia: an overview of the anatomy, etiology, and treatment of coccyx pain. Ochsner J. 2014;14(1):84-87. 9. Mabrouk A et al.: Coccyx pain. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing, 2023. 10. Maigne JY et al.: Causes and mechanisms of common coccydynia: role of body mass index and coccygeal trauma. Spine (Phila Pa 1976). 2000;25(23):3072-3079. 11. Maigne JY et al.: Idiopathic coccygodynia: lateral roentgenograms in the sitting position and coccygeal discography. Spine (Phila Pa 1976). 1994;19(8):930-934. 12. Maigne JY et al.: Instability of the coccyx in coccydynia. J Bone Joint Surg Br. 2000;82(7):1038-1041. 13. Maigne JY, Tamalet B: Standardized radiologic protocol for the study of common coccygodynia and characteristics of the lesions observed in the sitting position: clinical elements differentiating luxation, hypermobility, and normal mobility. Spine (Phila Pa 1976). 1996;21(22):2588-2593. 14. Patijn J et al.: 14. Coccygodynia. Pain Pract. 2010;10(6):554-559. 15. Simpson J: Coccygodynia and disseases and deformities of the coccyx. Med Times Gaz. 1859;40:1-7. 16. Thiele GH: Coccygodynia: cause and treatment. Dis Colon Rectum. 1963;6:422-436. 17. White WD et al.: The interdisciplinary management of coccydynia: a narrative review. PM R. 2022;14(9):1143-1154.
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