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SCHWERPUNKT
Wenn chronisch kranke Jugendliche erwachsen werden
Chronisch kranke Jugendliche haben eine doppelte Problematik zu bewältigen: erwachsen werden und dabei eine chronische Krankheit integrieren. Dies ist auch eine Herausforderung für die medizinische Betreuung dieser Jugendlichen. Es wird zunehmend deutlich, dass Transition weit mehr bedeutet als nur den einfachen Arztwechsel. Sie umfasst den gesamten Prozess des Erwachsenwerdens, der Stärkung von Autonomie und Eigenverantwortung sowie eine effiziente Nutzung der zur Verfügung stehenden Strukturen des Versorgungsnetzes.
Von Marianne Caflisch
A ls Kinderarzt gilt es sich stets vor Augen zu halten, dass chronisch kranke Kinder auch erwachsen werden und es unsere Aufgabe ist, sie dabei zu begleiten, insbesondere während der oft etwas turbulenten Phase der Adoleszenz. Chronisch kranke Jugendliche haben nämlich eine doppelte Problematik zu bewältigen: einerseits die «Adoleszenz», andererseits «die chronische Krankheit». Die Abbildung soll dies veranschaulichen: Die Ärzte haben die chronische Krankheit (gelber Balken) im Fokus, für den Jugendlichen stehen die Bedürfnisse der Adoleszenz (roter Balken) im Vordergrund, dabei kommt es zu einer Überschneidung. Die zentrale Frage, die sich nun ergibt, lautet: Welche Farbe im Überlappungsviereck erregt unsere
Aufmerksamkeit am stärksten? Die chronische Krankheit ist in diesem Zusammenhang definiert als ein Gesundheitszustand, der eine langjährige Behandlung erfordert oder bei dem eine Heilung oft nicht möglich ist. Die Symptomatik kann konstant, zunehmend sich verschlechternd oder durch wiederkehrende Krankheitsphasen gekennzeichnet sein, mit einem langfristigen Verlauf oft bis zum Lebensende (1).
Wie viele Jugendliche
sind betroffen?
Abbildung: Chronisch kranke Jugendliche haben in der Adoleszenz eine doppelte Belastung, die von ihnen, ihren Ärzten und ihrem Umfeld unterschiedlich wahrgenommen wird.
Die schweizerische Gesundheitsbefragung von 2007 ergab, dass mehr als jeder zehnte Jugendliche in der Schweiz an einem dauerhaften gesundheitlichen Problem leidet, ge-
schätzte 19 Prozent der Gesamtbevölkerung
sind wegen einer chronischen Krankheit in
regelmässiger medizinischer Betreuung (2). Diese Da-
ten stimmen mit denjenigen einer 2006 erschienenen
Studie der WHO überein, deren Autoren ebenfalls von
10 Prozent chronischer Beeinträchtigungen in der Bevölkerung berichten. Zu erwähnen ist dabei, dass psychische Behinderungen oder Komorbiditäten wie Lernschwierigkeiten kaum in die Statistik chronischer Krankheiten einfliessen; das Gleiche gilt für das Problem der Adipositas, welche seit einiger Zeit ebenfalls zu den chronischen Erkrankungen gezählt wird. Zu den häufigeren chronischen Erkrankungen im Jugendalter zählen Typ-1-Diabetes, Asthma und Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, seltener sind angeborenen Fehlbildungen (z.B. Herzfehler) und noch seltener Krankheiten aus dem Bereich der Stoffwechselstörungen (3). In den letzten 20 Jahren sind gewisse Krankheitsbilder seltener geworden. Dank pränataler Diagnostik und genetischer Beratung ist dies der Fall für Erkrankungen wie zystische Fibrose oder Trisomie 21. Andererseits erreichen Kinder mit schweren Pathologien dank einer besseren medizinischen Versorgung nun vermehrt das Erwachsenenalter, zum Beispiel nach Organtransplantation, Operationen komplizierter Herzvitien oder den Folgen der Frühgeburtlichkeit. Zudem führen soziologische Veränderungen zu neuen Krankheitsbildern, man denke dabei an den Typ-2-Diabetes bei Übergewichtigen.
Vielfältige psychosoziale Belastungen
Die schweizerische Gesundheitsbefragung von 2007 hält zudem fest, dass die psychosozialen Belastungen, die mit einer chronischen körperlichen Erkrankung einhergehen, sehr vielfältig sind. Neben Krankheitssymptomen und Behandlungsnebenwirkungen können sich existenzielle Fragen aufdrängen, Schwierigkeiten im Umgang mit dem medizinischen System ergeben, familiäre, soziale, finanzielle und berufliche Belastungen sowie emotionale und psychische Probleme entwickeln (2). Auch im Jugendalter kann man
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eine chronische Krankheit nicht losgelöst vom Kontext der Entwicklungsaufgaben angehen, die jeder Adoleszente zu bewältigen hat (4–6). Die normalen Entwicklungsschritte, die ein Jugendlicher durchlaufen muss, um erwachsen zu werden, sind in der Tabelle 1 zusammengefasst. Man erahnt unschwer, dass chronisch kranke oder behinderte Jugendliche bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein können.
Ein neues Körperbild
Die Pubertätsentwicklung und die Integration eines neuen Körperbildes verlangt von jedem Jugendlichen, den sich verändernden Körper zu akzeptieren. Chronisch kranke Jugendlichen sind oft durch diesen Körper wegen seiner Unzulänglichkeiten enttäuscht worden. Schmerzerfahrungen können dazugehören, und ihr Körper mag den Idealvorstellungen wenig entsprechen. Diesen Vorgang der Integration des «chronisch Krankseins» können wir einer Trauerreaktion gleichstellen mit den bekannten, teilweise widersprüchlichen Gefühlen von Verleugnung, Wut und Schuldgefühl bis hin zu Anpassung und Akzeptanz. Die Jugendlichen müssen Verantwortung für die lebenslange Behandlung ihrer Erkrankung übernehmen und sich dafür die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen.
Die Rolle der Eltern
Die Eltern, die in der Regel über viele Jahre die Verantwortung für die Krankheit übernommen haben und von den Pflegenden intensiv mit in die Betreuung involviert wurden, müssen umgekehrt lernen, sich zurückzuziehen und die Verantwortung abzugeben. Dieser Prozess stellt für das gesamte familiäre Gefüge eine grosse Herausforderung dar.
Sich von den Eltern loszulösen, fällt chronisch kranken Jugendlichen besonders schwer, da die Bindungen, verstärkt durch die langjährige Abhängigkeit, oft sehr eng sind. Bei körperbehinderten Jugendlichen kann dies noch schwerer sein, wenn eine effektive körperliche Abhängigkeit besteht.
Vorbilder und Peergroup
Während der Entwicklung einer eigenen Identität suchen sich Jugendliche oft Vorbilder aus der Welt der Medien oder des Sports. Auch chronisch kranke Jugendliche brauchen Vorbilder, an denen sie sich messen können – Selbsthilfegruppen können hier eine wichtige Rolle spielen. Während dieser Phase der Identitätssuche gibt es Momente der Krankheitsverleugnung. Diese Phasen sind oft unabdingbar zur Erhaltung eines psychischen Gleichgewichtes. Die chronisch kranken Jugendlichen wollen nämlich nicht «von der Norm abweichen», sie haben Angst, dass das Anderssein sie stigmatisieren könnte. Die Akzeptanz durch die Peergroup ist ein wichtiger Baustein für das Selbstwertgefühl eines jeden Jugendlichen; sie stehen oft unter einem grossen Konformitätsdruck, nicht anders erleben es die chronisch kranken Adoleszenten. Auf der Suche nach Bestätigung versuchen sie, ihr Verhalten demjenigen der Gleichaltrigen anzupassen, dabei vernachlässigen sie oft ihre Behandlungen, was zu Complianceproblemen führt. Betreffend Risikoverhalten tun sich Eltern und Pflegende oft schwer, sich vorzustellen, dass chronisch kranke Jugendliche ähnliche Risiken eingehen wie ihre Altersgenossen – als ob die Grundkrankheit vor Risikoverhalten schützen könnte. In verschiedenen Studien zeigte sich sogar das Gegenteil: Chronisch kranke Jugendliche gehen vermehrt Risiken ein, da sie sehr wahrscheinlich dadurch den Anschluss zur Peergroup suchen (7).
Tabelle 1: Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz und Erschwernisse bei chronischen Erkrankungen
Entwicklungsaufgaben biologische Veränderungen, Körperwahrnehmung
emotionale Veränderungen, Identitätsfindung
soziale Veränderungen
Loslösung vom Elternhaus
kognitive Veränderungen
Normale Entwicklungsschritte der Adoleszenz
• Pubertät • Besorgnis um die pubertätsbedingten Veränderungen
bis zur Akzeptanz des eigenen Körpers • Übernahme der Geschlechterrolle
• Selbsterforschung, Stärkung des Selbstbildes, Identitätsfindung oft gekennzeichnet durch eine Phase der Omnipotenz und Unfehlbarkeitshaltung
• Experimentier- und Risikoverhalten
• Intensivierung der Beziehungen zur Peergroup mit zunehmend individuellen intimeren Bindungen und sozial verantwortlichem Verhalten
• Definieren von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, zunehmende Auseindersetzung mit den Eltern und emotionale Loslösung bis hin zu einem neuen Rollenverständnis der Ebenbürtigkeit
• zunehmend abstrakteres Denken und Einbezug von Moral und zukunftsgerichteten Plänen
Erschwernisse bei chronischen Erkrankungen • verzögerte oder verfrühte Pubertätsentwicklung:
Auseinanderklaffen zwischen psychischer und physischer Entwicklung • Verneinung des eigenen Körpers • Trauerreaktion • Selbstwertgefühl beeinträchtigt, Angst und depressive Problematik • fehlende Modellvorstellungen • Wechselwirkungen zwischen Krankheit und Experimentierverhalten • Complianceprobleme • Nichtakzeptanz durch die Peergroup
• starkes Abhängigkeitsverhältnis durch jahrelange Pflege
• Einschränkungen zukunftsgerichteter Pläne
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SCHWERPUNKT
Über Risiken aufklären!
Obschon chronisch kranke Jugendliche meistens eine intensive medizinische Betreuung beanspruchen, erhalten sie leider weniger Informationen (= weniger Prävention) über die Konsequenzen risikoreichen Verhaltens als ihre Altersgenossen. In Bezug auf spezifische riskante Verhaltensweisen (Alkoholintoxikation, Nikotin und Cannabisabusus, Sexualverhalten) müssen die Jugendlichen vermehrt über mögliche Wechselwirkungen zwischen ihrem Verhalten, der Krankheit und von deren Behandlungsmodalitäten aufgeklärt werden, sie brauchen hierfür spezifische Informationen. Als Beispiel denke man an die Gefahr der Unterzuckerung im Falle von Alkoholabusus bei Diabetikern. Bei der Betreuung Jugendlicher gilt es stets auch die Ressourcen zu erforschen: Individuelle und familiäre Faktoren spielen dabei eine wichtige Rolle, genügend Autonomie und ein gutes Selbstwertgefühl sind deren Stützpfeiler (5).
Zukunftsperspektiven ausloten
Auch wenn sich die kognitive Entwicklung bei chronisch kranken Jugendlichen wenig von derjenigen der Gleichaltrigen unterscheidet (mit Ausnahme von Jugendlichen, die an einer geistigen Behinderung, gewissen neurologischen oder psychiatrischen Symptomen leiden), nimmt die Krankheit eine zentrale Stelle in der Zukunftsplanung ein, da sie dabei mit gewissen Einschränkungen konfrontiert sein werden. Die Be-
rufsplanung der Invalidenversicherung kann sehr hilfreich sein, da die Fachleute dort die spezifischen Schulungsmöglichkeiten und Berufsaussichten besser kennen und beurteilen können.
Complianceprobleme
Die Compliance während der Adoleszenz bereitet den Ärzten oft grosse Schwierigkeiten (8). Allgemein versteht man unter Compliance den Grad, in dem das Verhalten des Patienten – in Bezug auf die Einnahme eines Medikaments, das Befolgen einer Diät oder anderer therapeutischer Massnahmen sowie eventuelle Veränderungen des Lebensstils – mit dem ärztlichen Rat übereinstimmt. Zu erwähnen sei vorab, dass die Compliance während der Adoleszenz sich wenig von derjenigen Erwachsener unterscheidet, jedoch eindeutig schlechter ist als diejenige bei der Behandlung von Kindern, wobei es sich bei Letzteren weit mehr um die Compliance der Eltern handelt. In der Tabelle 2 ist zusammengefasst, welchen Faktoren in der Literatur ein positiver oder negativer (oder auch kein) Einfluss auf die Compliance zugesprochen wird. Diese Faktoren gilt es zu erfragen, möchte man bei Complianceproblemen Veränderung herbeiführen. Eine fehlende Compliance darf nicht als Lüge, Verrat, Manipulation oder Betrug verstanden werden, sondern weit eher als Suche nach Autonomie oder Moment der Revolte; sie kann Schuldgefühl oder Krankheitsleugnung in sich bergen.
Tabelle 2: Faktoren, von denen die Compliance abhängt
Faktoren persönliche, patientenassozierte Faktoren
familiäre Faktoren
krankheitsassoziierte Faktoren
ärztliche Faktoren
keinen Einfluss haben hingegen
Positiver Einfluss
• positive Wahrnehmung der Heilungschance • Einfachheit der Behandlung • keine Beeinträchtigung des Tagesablaufs
(Möglichkeit, ein «normales Leben» führen zu können) • gutes Selbstwertgefühl, Autonomie
Negativer Einfluss
• depressive Verstimmung • Verhaltensauffälligkeiten • Wahrnehmung der Behandlung als Beeinträchtigung für
die Sozialisierung • weltanschauliche Gründe • Stigmatisierung
• unterstützende, positive Haltung der Eltern • Präsenz der Eltern (u.a. Erinnern an Medikamenten-
einnahme) • Einbezug der Angehörigen in die diagnostischen und
therapeutischen Massnahmen
• dysfunktionale Familien • grössere Umstellungen der Familienstruktur infolge der Erkrankung • Misstrauen gegenüber der Schulmedizin • Ideologien
• teilweise vorhersehbarer Krankheitsverlauf • Glauben an die Wirksamkeit der Therapie • Abstimmung der Therapie auf den Tagesrhythmus
des Patienten, Behandlungsmodalitäten: Anzahl Medikamenteneinnahmen/Tag (maximal 2) • umsetzbare Therapieziele
• fehlende Krankheitsakzeptanz • unerwünschte Nebenwirkungen • fehlende spürbare Behandlungserfolge • Abhängigkeitsängte • Notwendigkeit massiver Verhaltensänderungen • sekundärer Krankheitsgewinn
• regelmässige Termine • Überwachung der Behandlung • Konstanz des Arztes, emotionale Bindung • Zufriedenheit mit der medizinischen Behandlung • Einbezug der Erwartungen und Bedürfnisse
des Patienten
• wiederholte Spitalaufenthalte • häufiger Arztwechsel • mangelndes Vertrauen • Vielzahl von Untersuchungen • Anhäufung von Verordnungen
sozioökonomische Situation, Wissensstand bezüglich Krankheit, initiale Schulung, Schweregrad der Krankheit, ethnischer Hintergrund, Geschlecht
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Transition – eine besonders heikle Phase
Wie bereits erwähnt, ist der Übergang des Jugendlichen von der Kinder- und Jugendmedizin in die Erwachsenenmedizin eine besonders heikle Phase. Dieser Übergang wird als Transition bezeichnet und darf nicht mit dem Transfer verwechselt werden. Die Transition ist oft ein längerer Prozess und nur in den seltensten Fällen ein punktuelles Geschehen. Der Transfer ist der Moment des Überganges (somit eine Komponente der Transition). Die Transition ist ein multidimensionaler und multidisziplinärer Prozess. Der junge Patient muss Schritt für Schritt in die neue Situation begleitet werden. Nebst medizinischen Bedürfnissen der Jugendlichen müssen psychosoziale, schulische und berufliche Aspekte einbezogen werden. Angesichts verbesserter Behandlungsmöglichkeiten und der damit steigenden Lebenserwartung gewinnt das Thema Transition chronisch kranker Jugendlicher zunehmend an Bedeutung (9, 10). Wie können wir diesen Übergang organisieren und sowohl für den Jugendlichen, seine Eltern und die Pflegenden so gestalten, dass nicht nur medizinische Überlegungen, sondern auch psychosoziale und ethische Aspekte berücksichtigt werden? Die Organisation der Transition ist besonders schwierig, wenn es sich um Patienten mit speziellen, sehr komplexen und in der Erwachsenenmedizin kaum bekannten Krankheitsbildern handelt. Im Falle gewisser
Tabelle 3: Kinder- und Erwachsenenmedizin – zwei unterschiedliche Kulturen
Kinder- und Jugendmedizin • familienfokussiert
• paternalistisch • Einbezug der Eltern
• Zustimmung des Patienten (Consent) • Multidisziplinarität • entwicklungsorientiert
Einbezug von Präventionsaspekten
Erwachsenenmedizin • klientenorientiert mit Schwerpunkt auf
Selbstbestimmung des Patienten, Erhalten des Erworbenen • autonomiezentriert • wichtige Themen: Berufsintegration, Fortpflanzung • Informationstransfer • Bezugsarzt und Hausarzt • aufgebaut nach Abklärungsschritten
Tabelle 4: Ängste und Schwierigkeiten bei der Transition
Jugendliche
Eltern Kinderärzte
Schwierigkeiten und Ängste • Angst vor dem Unbekannten • Verlustängste • Verlust einer mütterlich behütenden Umgebung • Angst, seine Privilegiertenstellung zu verlieren • Angst, vom Erwachsenenmediziner nicht genügend ernst genommen zu werden • Angst vor der Begegnung mit chronisch kranken erwachsenen Patienten • Angst, ihre Beschützerrolle zu verlieren • Angst, ihr Kind könnte nicht genügend ernstgenommen werden • Angst, zu wenig in die Behandlung einbezogen zu werden • Verlust enger Bindungen • Bedenken, die Krankheitsentwicklung nicht mehr genügend mitverfolgen zu können • wissenschaftliches Interesse am Verlauf
komplizierter Erkrankungen haben bis anhin kurze Lebenserwartungen dazu geführt, dass in der Erwachsenenmedizin entsprechendes Wissen und Erfahrungen fehlen, was einen erheblichen Fortbildungsbedarf nach sich zieht. Die Kinderärzte haben oft in enger Zusammenarbeit mit den Eltern dieser Patienten besondere Kompetenzen im Verständnis der Erkrankung und in der Organisation der medizinischen und psychosozialen Betreuung erworben. Es bestehen dabei oft enge, fast familiäre Beziehungen. Die Eltern wollen auch nach dem Übergang in die Erwachsenenmedizin in ihrer «Expertenrolle» respektiert werden und behalten oft weit über die Volljährigkeit des Jugendlichen eine Position als Mitverantwortliche. Viele Studien haben aufgezeigt, dass durch eine gute Transition mit adäquater medizinischer Betreuung, die oft durch psychosoziale Angebote ergänzt werden muss, Folgeschäden vermieden werden können. Es ist wichtig, dass man den jungen Patienten den Wechsel der Versorgungsstrukturen aktiv mitgestalten lässt. Mangelnde Koordination der Prozesse wurde als grösstes Hindernis beim Übergang von der pädiatrischen in die Erwachsenenversorgung festgehalten, mit nachteiligen Folgen wie vermehrte Therapieabbrüche oder zunehmende Complianceschwierigkeiten. Dies kann für den Einzelnen fatale gesundheitliche Folgen haben, die zum Teil auch ökonomisch, gesundheitspolitisch und gesellschaftlich von hoher Relevanz sind. Faktoren, die die Transition beeinflussen, sind in der unterschiedlichen Organisation der Versorgung zu sehen, im pädiatrischen Bereich eher ganzheitlich und familienorientiert, im Erwachsenenalter eher organspezifisch und personenbezogen. Damit verbunden sind auch verschiedene Behandlungsstile: im Kindesalter eher paternalistisch und die enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen suchend (triangulär), im Erwachsenenalter eher die Autonomie des Einzelnen betonend (Tabelle 3). Es ist nicht selten, dass die Transition in die Erwachsenenversorgung ungeplant verläuft, zum Teil im Rahmen von Notfallsituationen ohne die nötige Zeit für eine koordinierte Begleitung der jungen Erwachsenen. Die Pädiater ihrerseits haben Mühe, sich von ihren langjährigen Patienten zu trennen und die Jugendlichen selbst und deren Eltern hängen oft noch sehr am Kinderarzt. In Notfallsituationen sind es oft logistische Aspekte (Grenzalter der Pädiatrie), die eine Loslösung herausfordern. Wie bereits erwähnt, sollte der Patient über den Zeitpunkt des Übergangs (mit-)entscheiden können, und die Transitionsplanung sollte Teil aller klinischen Programme für Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf sein. In der Literatur findet man verschiedene interessante Ansätze zu Transitionsmodellen (direkt, sequenziell, entwicklungsorientiert, von allgemeiner Gültigkeit zu mehr individuellen Angeboten). Doppelt geführte Übergangssprechstunden mit dem übernehmenden Arzt und dem Kinderarzt sind ein gutes Modell, um eine erfolgreiche, kontinuierliche und nachhaltige Behandlung zu garantieren. Der Prozess der Loslösung sollte aktiv stattfinden, mit Einbezug der jeweiligen Familienstruktur, der Bedürf-
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nisse der Familien und der Jugendlichen. Die häufigsten Ängste, Hürden und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Transition vonseiten des Patienten, der Familie oder des Kinderarztes sind in Tabelle 4 kurz zusammengefasst. Man stellt oft fest, dass chronisch kranke Jugendliche allgemeinmedizinisch (Impfungen, Prävention) schlechter versorgt sind als gesunde Gleichaltrige, auch dieser Tatsache muss Rechnung getragen werden. Der Übergang ins Erwachsenenalter ist ein guter Zeitpunkt, die Familien aufzufordern, einen Hausarzt ins Versorgungsnetz einzubeziehen, denn die Spezialisten werden allgemeine medizinische Probleme nicht mehr übernehmen können. Nationale Transitionsprogramme wie in Australien, Grossbritannien oder den USA fehlen bis heute in der Schweiz, es gibt sie jedoch bereits für gewisse Spezialgebiete. Für die Kinderkardiologie, -rheumatologie oder -pneumologie existieren einige regionale Lösungsansätze mit gemeinsamen Sprechstunden und interdisziplinär geführten Programmen. Es fehlen jedoch allgemein gültige nationale Leitlinien und Anweisungen für die Evaluation für den Aufbau strukturierter Transitionsprogramme. Dazu ist auch eine Intensivierung des Vernetzungsgrades aller beteiligten Institutionen und eine bessere Koordination und Kooperation des stationären und ambulanten Sektors sowie die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen notwendig.
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Marianne Caflisch
Poliklinik für Adoleszentenmedizin
Hôpital des Enfants de Genève – Kinderspital Genf
Département de l’Enfant et de l’Adolescent
6 Rue Willy-Donzé, 1205 Genève
E-Mail: marianne.caflisch@hcuge.ch
Literatur: 1. Schüssler G. Bewältigung chronischer Krankheiten. Konzepte und Ergebnisse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1993. 2. Schweizerische Gesundheitsbefragung 2007; www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/infothek/erhebungen_quellen/blank/blank/ess/04.html 3. Yeo M, Sawyer SM. Chronic illness and disability. BMJ 2005; 330; 721–723. 4. Suris JC, Michaud PA, Viner R. The adolescent with a chronic condition. Part 1: Developmental issues. Arch Dis Child 2004; 89: 938–942. 5. Sawyer SM, Drew S, Yeo MS, Britto MT. Adolescents with a chronic condition: challenges living, challenges treating. Lancet 2007: 369; 1481–1489. 6. Stachow R. Chronisch kranke Jugendliche – eine Herausforderung an die interdisziplinäre medizinische Versorgung. Wissenschaft und Praxis 2004. www.sozialmediziner.de/fortbildung/mat/2004-04-Stachow.pdf 7. Suris JC, Michaud PA, Akre C, Sawyer SM. Health risk behaviors in adolescents with chronic conditions. Pediatrics 2008; 122: 1113–1118. 8. Kyngas H, Kroll T, Duffy M. Compliance in adolescents with chronic diseases: a review. J Adolesc Health 2000; 26: 379–388. 9. Kennedy A, Sawyer S. Transition from pediatric to adult services: are we getting it right? Curr Opin Pediatr 2008; 20 (4): 403–409. 10. Sal P. Transition for youth with chronic conditions: primary care physicians’ approaches. Pediatrics 2002; 110: 1315–1321.
VERANSTALTUNGSHINWEIS
Adoleszentenmedizin
Turbulente Zeiten mit zusätzlichen Stolpersteinen
Mini-Symposium Donnerstag 30. Mai 2013, 16.00 bis 19.00 Uhr Kursraum 1, EG, Kinderklinik, Inselspital Bern Credits: 2,5
Das Symposium widmet sich rechtlichen Aspekten und psychiatrischen Diagnosen. Für diese Veranstaltung werden 2,5 Credits vergeben.
16.00 Uhr 16.05 Uhr 16.50 Uhr
17.35 Uhr 18.20 Uhr
Begrüssung Früherkennung von Psychosen am Übergang zwischen Jugend- und jungem Erwachsenenalter; Prof. Dr. med. Benno Schimmelmann Rechte und Pflichten Jugendlicher und ihrer Eltern im Spital: ein Überblick. Entscheidrechte über medizinische Massnahmen, Informationsrechte und Schweigepflicht, Zwangsmassnahmen, fürsorgerische Unterbringung und Kindesschutzmassnahmen; Prof. Peter Mösch Payot ADHS in der Adoleszenz: Klinik, Diagnose und Therapie; Dr. phil. Markus Stucki Diskussion
Anmeldung bis 24. Mai 2013 bei: Céline Moser, Chefarzt-Sekretariat, Universitätsklinik für Kinderheilkunde Tel. 031-632 94 86, Fax +031-632 92 29, E-Mail: celine.moser@insel.ch
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