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SCHWERPUNKT
«Guidelines sind aufgearbeitete Evidenz»
Interview mit Dr. med. Felix Huber, Ärztenetzwerk mediX
In den mediX-Ärztenetzwerken werden Guidelines für die Praxis entwickelt, verfasst und allen Ärzten zur Verfügung gestellt. Wir sprachen mit Dr. med. Felix Huber, dem Präsidenten von mediX, über die klassischen Vorbehalte gegenüber Guidelines und welche Kriterien für die Praxis wichtig sind.
Dr. med. Felix Huber
Das ärztliche Handeln ist unglaublich heterogen, darum braucht es Guidelines.
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P ÄDIATRIE: Herr Dr. Huber, mit welchen Argumenten entkräften Sie den klassischen Praktikereinwand «Meine Erfahrung sagt mir, was die beste Therapie für meinen individuellen Patienten ist!»? Dr. med. Felix Huber: Es meint natürlich jeder, dass er die beste Therapie macht. Dass dem nicht so ist, merkt man ja erst beim Vergleich mit anderen. Solange die Ärzte alleine für sich arbeiten, sind sie davon überzeugt, genau das Richtige und das Gleiche zu machen wie ihre Kollegen. Doch das ärztliche Handeln ist unglaublich heterogen. Genau aus diesem Grund braucht es eben Guidelines. Sie sind sozusagen aufgearbeitete Evidenz. Natürlich braucht es auch die Erfahrung, denn im Einzelfall hält man sich oft nicht strikt an die Guidelines. Sie sind Handlungsempfehlungen und keine Vorschriften – aber ein enorm hilfreiches Instrument, um wirklich ein gut fundiertes ärztliches Handeln zu erreichen.
Gut, aber die Evidenz wird durch Studien ermittelt, und hier setzt der zweite klassische Praktikereinwand an: «Meine Patienten sind nicht so wie die handverlesenen Patienten in den Studien, darum treffen die Guidelines für meine Patienten sowieso nicht zu.» Wie sehen Sie das? Huber: Wir erarbeiten unsere Guidelines auch aus diesem Grund aus der Praxis heraus, das heisst aus der Sicht der Grundversorger. Wir weichen oft ab von den Empfehlungen der Fachgesellschaften, um einen Bezug zur Praxis zu haben. In der Tat kann man viele Resultate aus den Studien nicht eins zu eins auf die Bevölkerung übertragen, weil die Auswahl der Studienpatienten nach engen Kriterien erfolgt. In der Praxis muss man jeden Einzelfall prüfen. Wie gesagt: Guidelines sind keine Handlungsanleitung, sondern eine Empfehlung. Die meisten unserer Ärzte schätzen diese Empfehlungen für die Praxis sehr.
Bleibt noch der dritte Klassiker, wenn das Guidelinekonforme Handeln in der Praxis nicht klappt: «Guidelines sind zu kompliziert!» Was sagen Sie dazu? Huber: Natürlich sind die Guidelines der Fachgesellschaften zu kompliziert für die Praxis. Schauen Sie
zum Beispiel die europäischen Guidelines zum Diabetes an. Allein die Executive Summary hat 49 Seiten, das ist viel zu lang. Diese Guideline ist überdies industrielastig, wie viele andere Guidelines von Fachgesellschaften auch. Man merkt, dass die Industrie hier mitgewirkt, gesponsert und Personal zur Verfügung gestellt hat. Da werden beispielsweise Blutzucker-, Blutdruck- und Cholesterinwerte gefordert, für die es nur Hochrechnungen, aber keine Evidenz gibt – das dient eher der Absatzsteigerung der Pharmaindustrie. Solche Guidelines wollen wir natürlich nicht, weder inhaltlich noch im Umfang. Unsere Guidelines umfassen nur wenige Seiten. Wenn sie doch mehr als drei, vier Seiten lang sein muss, gibt es eine Zusammenfassung, die nicht länger als zwei Seiten lang sein darf. Unser Anspruch ist, dass man mit dieser Zusammenfassung in der Sprechstunde arbeiten kann. Ich mache das selbst jeden Tag in meiner Praxis. Das ist übrigens auch ein ganz entscheidender Punkt: Wenn man Guidelines schreiben will für die Praktikerseite, muss man aus der Praxis heraus arbeiten.
Aber die Autoren von Fachgesellschaften sind ja auch Ärzte und behandeln Patienten; sie sind überdies Spezialisten und wissen am meisten über das jeweilige Gebiet. Warum sollen Praktiker ihre Guidelines da auch noch selbst schreiben? Huber: Der grosse Unterschied zwischen der Grundversorgung und den Zentren der Spitzenmedizin ist: Die universitären Zentren haben weitgehend Gewissheit über das, was sie tun. Und wenn sie das nicht haben, dann klären sie ab, bis sie entweder Gewissheit haben oder praktisch alles ausgeschlossen haben. Genau das können wir in der Praxis nicht tun. Wir müssen ständig mit Wahrscheinlichkeiten und Häufigkeiten umgehen. Wir sind ständig unsicher. Wir wissen nie ganz genau, ob wir recht haben oder nicht. Das muss man aushalten können. Das ist extrem anspruchsvoll, und darum sind Entscheidungshilfen so wichtig. Es ist viel einfacher, eine komplette Abklärungsmedizin zu machen, zum Beispiel Colon irritabile als Ausschlussdiagnose. Wir können aber nicht bei jedem Patienten eine Koloskopie machen, wenn er Bauchschmerzen hat.
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SCHWERPUNKT
Sie sagten, dass Guidelines nur Empfehlungen und keine Vorschriften seien. Aber fürchtet man nicht doch, als Arzt juristisch belangt zu werden, wenn man sich nicht an die Guidelines der Fachgesellschaften hält? Und ist diese Angst nun begründet oder nicht? Huber: Nun, wenn wirklich etwas schiefgeht und man sich als Arzt nicht an vorhandene Guidelines gehalten hat, ist es natürlich heikel. Aber unsere Guidelines entlasten die Praktiker eher, denn wir sind in der Regel zurückhaltender als die Fachgesellschaften. Zum Beispiel sagen wir bereits seit 14 Jahren, dass man das PSA-Screening nicht machen soll. Das war eine Entlastung für die Praktiker, denn ohne unsere Guidelines hätten fast alle ständig das PSA bestimmt – aus Angst vor juristischen Problemen, falls ein Patient ein Karzinom bekommen hätte und mit Berufung auf Pro-Screening-Guidelines von Fachgesellschaften vor Gericht gezogen wäre. Weil wir in einer mediXGuideline aber gut begründen konnten, dass das PSAScreening eben keinen Nutzen bringt, war das eine Entlastung für die Ärzte. Mittlerweile empfehlen die internationalen Fachgesellschaften das PSA-Screening sowieso nicht mehr. Ein anderes Beispiel ist die Cholesterinsenkung in der Primärprävention. Hier weichen wir wesentlich ab von der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie und deren Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose, weil wir sagen, dass Statine in der Primärprävention praktisch keinen Nutzen haben und man darum hier sehr zurückhaltend sein kann.
det. Wir sagen bei vielen Empfehlungen, dass man zusammen mit dem Patienten einen Weg finden muss, wenn die Evidenz für das eine oder andere Vorgehen nicht so ganz klar ist. Letztlich spielen Erwartungshaltung und Einstellung des Patienten eine grosse Rolle. Wir kennen doch alle die Bandbreite der Patienten von «Ich will sowieso keine Medikamente nehmen» bis «Lieber etwas nehmen, ich möchte mich absichern».
Aber wo setzen Sie denn nun die Grenze? Ab wann gilt das Handeln eines Arztes in Ihrem Netzwerk nicht mehr als Guideline-konform? Huber: Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Zur Cholesterinsenkung sind alle Statine im Grunde gleichwertig. Es gibt keinen klinischen Vorteil einer bestimmten Substanz, sodass man zu den Generika und nicht zu den teuren Originalprodukten greifen soll. Aber es gibt auch bei uns einzelne Ärzte, die da nicht mitmachen.
Und was passiert diesen Ärzten in Ihrem Netzwerk? Huber: Nichts. Es gibt bei uns keine Vorschriften und keine Sanktionen. Allerdings steht er dann ein bisschen am Pranger, denn in den Qualitätszirkeln machen wir Quervergleiche. Das hat mitunter zu Austritten aus dem Netzwerk geführt, weil manche es nicht aushielten, als Einzige an irgendeiner nicht empfohlenen Behandlung festzuhalten, aus welchen Gründen auch immer. Insofern geschieht natürlich doch etwas, denn in den Qualitätszirkeln gibt es eine gewisse soziale Kontrolle im Hinblick auf das ärztliche Handeln in der Praxis.
Gibt es auch ein Beispiel aus der Pädiatrie? Huber: Ja, beim Harnwegsinfekt bei Kindern wurde noch bis vor zwei, drei Jahren in den universitär geprägten Guidelines der Kinderspitäler vorgeschrieben, dass man Kinder im Vorschulalter mit einem febrilen Harnwegsinfekt stationär behandelt. Dann wurden gute Studien publiziert, die gezeigt haben, dass das nicht notwendig ist, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. In diesem Fall kann man diese Kinder ambulant behandeln, das richtige Antibiotikum geben und die notwendigen Nachkontrollen veranlassen. Wir haben das in unserer mediX-Guideline «Harnwegsinfekte bei Kindern» sofort aufgenommen. Die Kinderkliniken sehen das mit einiger Verspätung jetzt übrigens auch so.
Nun möchte ich noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen, und zwar, dass man «halt irgendwas machen» möchte oder der Patient sich etwas wünscht, was nicht Guideline-konform ist. Darf man das? Huber: Ja, das darf man im Einzelfall schon. Das klassische Beispiel ist die Sinusitis. Zwar heisst es immer und überall, dass man nur bei wirklich schweren Verläufen antibiotisch behandeln sollte, aber im Alltag wird das trotzdem viel häufiger gemacht – nicht zuletzt weil es hier kein dichotomes Ja-Nein-Entscheidungskriterium gibt. Wir schreiben in unseren Guidelines, dass man nach einer Woche bei stark leidenden Patienten das Antibiotikum in Erwägung ziehen kann und dass man es mit dem Patienten zusammen entschei-
Wird denn die Therapie durch Guidelines per se wirklich besser, oder sind nicht der Fortbildungseffekt und die Diskussion unter den Ärzten das eigentlich Entscheidende? Huber: Sicher sind Guidelines ein Fortbildungsinstrument, aber die entscheidende Frage ist, wie Guidelines implementiert werden. Es nützt überhaupt nichts, Guidelines einfach zu schreiben, sie zu verteilen und ihre Umsetzung sozusagen zu befehlen. Guidelines müssen diskutiert werden. Wir haben bei uns ein ziemlich kompliziertes Vernehmlassungsverfahren: Jede Guideline wird im Entwurf allen Qualitätszirkeln vorgelegt und dort ausführlich diskutiert; das sind insgesamt 30 Qualitätszirkel. Nach der Vernehmlassung erfolgt die Schlussredaktion. Da müssen wir manchmal ein Machtwort sprechen, weil es oft noch Kontroversen gibt oder ausführlichere Besprechungen gewünscht werden oder Kürzungen. Es ist klar, dass man es niemals allen recht machen kann. Aber den Nutzen für die Patienten würde ich trotzdem als sehr gross bezeichnen, weil das bereits eingangs besprochene, erschreckend heterogene Handeln so zumindest hinterfragt und ein gewisser, gut begründeter Konsens gefunden wird. Der Vergleich mit den Kollegen ist entscheidend. Wenn man sein ärztliches Handeln überhaupt nie mit demjenigen von Kollegen vergleichen kann, leidet unter Umständen die medizinische Qualität.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
Die Guidelines von mediX finden Sie unter: www.medix.ch
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Guidelines der Fachgesellschaften sind zu kompliziert für die Praxis und häufig auch industrielastig.
Wir weichen oft ab von den Empfehlungen der Fachgesellschaften, um einen Bezug zur Praxis zu haben.
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