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Titel
Arsenicum: Der fordernde Hausarzt
Untertitel
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Lead
N ur vor einer Aktivität in der Praxis drücke ich mich: dem Inkasso. Als Hausarzt muss man eklige und schockierende Sachen sehen, hören, riechen und tun. Das macht mir wenig aus. Doch das Inkasso widerstrebt mir. «Einzug von Forderungen», definieren es die Betriebswirte. Das Stellen von Forderungen macht mir hingegen nichts aus. Denn ich fordere meine PatientInnen täglich (heraus). Meist zu Verhaltensänderungen, häufig zum Erdulden nicht immer angenehmer diagnostischer und therapeutischer Prozeduren. Aber die Freiwilligkeit ist dabei immer gewährt. Doch beim Geld? Da muss die Forderung erfüllt werden.
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arsenicum
N ur vor einer Aktivität in der Praxis drücke ich mich: dem Inkasso. Als Hausarzt muss man eklige und schockierende Sachen sehen, hören, riechen und tun. Das macht mir wenig aus. Doch das Inkasso widerstrebt mir. «Einzug von Forderungen», definieren es die Betriebswirte. Das Stellen von Forderungen macht mir hingegen nichts aus. Denn ich fordere meine PatientInnen täglich (heraus). Meist zu Verhaltensänderungen, häufig zum Erdulden nicht immer angenehmer diagnostischer und therapeutischer Prozeduren. Aber die Freiwilligkeit ist dabei immer gewährt. Doch beim Geld? Da muss die Forderung erfüllt werden. Da soll ich zu Dagobert Duck mutieren. Sonst rebelliert meine Familie. «Die kriegen doch alles von der Krankenversicherung zurück!», regt sich meine Frau auf, wenn ich wieder einmal Entschuldigungen für säumige Zahler murmle. «Und für Drogen, Alk, Designerklamotten, Autos und Ferien reicht es ihnen immer!» Nun ja, sie hat ja recht. Und nimmt es auch mal in die eigene Hand. «Kriegen Sie in der Beiz das Bier gratis?», faucht sie im Empfangsraum einen notorischen Nichtzahler an, der wieder notfallmässig wegen einer Bagatellle kommt. «Sie schulden uns noch 534 Franken. Geld her, oder wir machen gar nichts!» Ich eile zu ihr, um die Nötigung zu stoppen. Und sehe, wie der Patient sechs Hunderter aus dem prall gefüllten Portemonnaie knübelt. «Nüt für unguet!», sagt er heiter. Nichtzahler können in drei Kategorien eingeteilt werden: Wenige gehören zu den Zerstreuten, viele zu den Kriminellen und die meisten zu den «armen Schweinen». Der geniale Mathematiker und Messie, der international die schwierigsten IT-Aufträge löst – er vergisst zu essen, die Socken zu wechseln und zu zahlen. Seine rührende Nachbarin räumt ihm einmal im Monat seine Wohnhöhle auf, inklusive Poststapel unter dem Bett. Erschreckend viele Leute haben alternative Vorstellungen von Eigentum und Besitz. Vielleicht fühlen sie sich wie Robin Hood, wenn sie umverteilen? Der reiche (!) Doktor braucht das Geld sicher weniger als sie. Darum machen sie eine richtig grosse Rechnung, kassieren die Rückvergütung der Krankenversicherung ein und nutzen dieses Geld für schöne Ferien. Da schwarze Listen illegal sind, treiben sie dieses Spiel auch bei allen anderen Ärzten. Es handelt sich bei solchen Schuldnern keineswegs nur um Menschen aus ungünstigem sozialen Umfeld. Unvergesslich ist mir der promovierte Ban-

ker, der wusste, dass meist nur bei Beträgen ab 100 Franken betrieben wird und der daher meine Honorarforderung über 40 Franken nicht beglich. Das machte mich so zornig, dass ich ihn betrieb, obwohl dies einen finanziellen Verlust bedeutete. Solche Typen sollen merken, dass es neben Geld noch andere Werte gibt. Dieses Vergnügen, sein Erstaunen und Entsetzen, waren mir das Geld wert. Doch oft ist das Ergebnis von Betreibungen ein Verlustschein, denn die meisten meiner nicht zahlenden Patienten sind «arme Schweine». Ihnen gelingt nichts mehr im Leben. Kaputtes Seelenleben, keine geregelte berufliche Tätigkeit, alle Beziehungen sind chaotisch bis nicht existent. Oft ist der Hausarzt die einzige verlässliche Verbindung zur Welt. Denn das Heer von Helfern, das unser Sozialstaat ihnen zur Seite stellt, resigniert irgendwann. RAV-Berater und Sozialarbeiter haben noch andere Klienten, müssen Vorgaben erfüllen, sich an Zeitlimiten halten und den «Fall» aufgeben oder hastig verwalten. Nur der Hausarzt kann es sich als Selbstständiger erlauben, seine Zeit und Arbeitskraft so einzusetzen, wie es ihm passt. Er kann es sich leisten, das Leid des Patienten anzuhören, ihn ab und zu zusammenzustauchen, immer wieder zu ermutigen, zu trösten, zu beraten. «Ja, bist du denn der Pestalozzi?», grummelt meine Frau. Tja, vermutlich schon ein bisschen. Unter anderem deshalb bin ich Arzt geworden. Klar werde ich langfristig nichts ändern, kann ich diesen Patienten nicht glücklich machen oder ihn zum «gutbürgerlichen Leben» zurückführen. Aber schon kurze Erfolge sind ein Aufsteller für uns beide. Ein halbes Jahr lang gute Laune und Erwerbstätigkeit, wenn der Patient sein Antidepressivum nimmt und nicht trinkt. 20 Minuten Sprechzeit, an deren Ende der Patient lacht und sich bedankt: «Merci, jetzt isch mir scho wöhler.» Vielleicht bringt er sich doch noch irgendwann um. Aber zumindest habe ich es ein wenig hinausgeschoben, ein Lächeln mehr erreicht in einem mühseligen Leben. Und das ist mir mein Geld wert, dafür investiere ich meine Zeit. Für das Inkasso sorgt ein Profi, den ich für den «geschäftsmässigen Einzug fremder Forderungen» bezahle. Ist ja schliesslich nur Geld …

Der fordernde Hausarzt

470 ARS MEDICI 12 ■ 2010