Transkript
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Trinkverhalten Frühgeborener
In der Klinik und nach der Entlassung
Frühgeborene können bis über ihren errechneten Geburtstermin hinaus ein unreifes Trinkverhalten aufweisen. Das Wissen um und das Bewusstsein über die besonderen Herausforderungen der Trinkentwicklung Frühgeborener sind für Betreuende unabdingbar. In diesem Beitrag werden die wichtigsten Aspekte mit Beispielen zur Anwendung bestimmter Füttertechniken erläutert.
Von Nicole Hübl1 und Nicole Kaufmann2
Frühgeborene stehen nach der zu frühen Geburt vor vielfältigen Herausforderungen. Eine davon ist es, so trinken zu können, dass das Trinken sicher, also ohne Aspiration gelingt, und zum anderen mit so viel Volumen erfolgt, dass eine zusätzliche Gabe von Nahrung über eine Magensonde nicht oder nur kurzzeitig notwendig ist (1). Mit der Entlassung aus dem Spital besteht zumeist noch kein normalisiertes Trinkverhalten und damit ein deutlich erhöhtes Risiko für anhaltende Fütterstörungen in den ersten Lebensjahren (2–4). Das familiäre System kann durch ein solches Problem empfindlich belastet werden. Es ist unabdingbar, dass alle Beteiligten (auch medizinisches und therapeutisches Fachpersonal) mehr Bewusstsein und Wissen über die spezifischen Herausforderungen im Trinklernprozess und der Ernährungsentwicklung Frühgeborener besitzen, um so früh wie möglich präventiv tätig werden zu können (5, 6). Die Entwicklung von Frühgeborenen ist aufgrund der Unreife aller Organfunktionen und möglicher peri- und postnataler Komplikationen sehr komplex, individuell geprägt und multidisziplinär zu behandeln. Die (orale) Ernährung von Frühgeborenen muss immer im Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung gesehen und beurteilt werden.
Schluck ermöglicht mögliche Milchreste, die vor dem Eingang zum Kehlkopf stehen, von diesem wegzuatmen. So findet ein natürlicher Schutz vor Aspiration statt (Abbildung 1). Das Frühgeborene trinkt an der Brust und/oder aus der Flasche schon weit vor Erreichen seines errechneten Geburtszeitpunkts. Trinkversuche an der Flasche werden zumeist in einem korrigierten Alter von 32 bis 34 SSW in Abhängigkeit von der Reifung der Koordination von Saugen und Schlucken begonnen (7, 8). Erste Brusterfahrungen können bereits deutlich davor im Rahmen des Hautzu-Haut-Kontakts bei der Mutter erfolgt sein (9). Somit startet das Frühgeborene mit Trinkversuchen, bevor es einen vergleichbaren Reifezustand wie ein reifes Neugeborenes erreicht hat. Es hat neuro- und sensomotorische Besonderheiten, die den Trinklernprozess für das Kind so herausfordernd machen.
Atem-, Saug- und Schluckfähigkeiten von Frühgeborenen
Beim Saugen wird die Fähigkeit, Unterdruck aufzubauen und diesen beim Trinken konstant zu halten, erst mit zunehmender neurologischer Reifung besser. Ein adäquater und konstanter Unterdruck ist wichtig, damit das Trinken aus der Flasche effektiv gelingen kann (1). An der Brust
1 Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie, Universitätsklinikum Düsseldorf 2 Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
Besonderheiten des Trinkverhaltens Frühgeborener
Das Trinkverhalten Frühgeborener unterscheidet sich von dem Reifgeborener vor allem in den Einzelfunktionen Saugen, Schlucken und Atmen, der Koordination der drei Funktionen, dem Muskeltonus, der Ausdauer, der Vigilanz sowie der kardiorespiratorischen Stabilität (6). Das Neugeborene reguliert Hunger und Sättigung normalerweise selbst. Es verfügt über stabile orale Reflexe und Reaktionen und zeigt ein effizientes und anpassungsfähiges Saug- und Trinkverhalten (1). Zusätzlich weist es einen stabilen Muskeltonus auf, der Saugen, Schlucken und Atmung unterstützt. Der Schluck findet während eines kurzen Atemstopps statt, zumeist nach einem Einatmen und vor der Ausatmung (7). Die Ausatmung nach dem
Wesentliches für die Praxis
• Frühgeborene können bis über ihren errechneten Geburtstermin hinaus ein unreifes Trinkverhalten aufweisen.
• Die Prävalenz von Fütterstörungen ehemaliger Frühgeborener ist erhöht und bedarf einer Prävention ab der Geburt.
• Ein signalorientierter und co-regulierter Ernährungsansatz kann Eltern und ihren Frühgeborenen in einer sicheren, stressfreieren und interaktiven Nahrungsaufnahme unterstützen.
• Das Wissen um und das Bewusstsein über die besonderen Herausforderungen der Trinkentwicklung Frühgeborener sind für Betreuende (medizinisches und therapeutisches Fachpersonal) unabdingbar.
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Die Atmung ist bei vielen Frühgeborenen durch ihre Unreife belastet, es kann eine Atemunterstützung temporär notwendig werden, insbesondere unter Anstrengung. Das Trinken stellt eine solche Anstrengung dar, die Funktionen Saugen, Schlucken und Atmen für sich und in Koordination kosten Kraft. Die Atmung verändert sich beim Trinken, es kann beispielsweise zu flacher Atmung, frustranen Atemzügen oder längeren Atempausen (Apnoephasen) kommen (7, 10).
Abbildung 1: Normale Trinkkoordination
Abbildung 2: Separation der Trinkfunktionen
ist der Unterdruck essenziell, um das korrekte Anlegen an der Brust zu gewährleisten (9). Das Schlucken ist beim Frühgeborenen zumeist nicht regelmässig genug. So muss das Frühgeborene häufig eine ansteigende Milchmenge durch mehrfache Schlucke hintereinander bewältigen (1, 7, 8). Mehrfache Schlucke hintereinander verlängern die notwendige Atempause, sodass eine Ermüdung frühzeitig einsetzt.
Kasten 1:
Symptome der unreifen Atem-, Saug- und Schluckkoordination
• Mimisch: Nasenflügelweiten, Augenbrauen hochziehen/verengen, Augenflattern, Kopf überstrecken
• Akustisch: festes Schlucken, japsende Einatmung, gurgeliges Atemgeräusch, Atempausen, Husten und Verschlucken
• Veränderungen des Hautkolorits • Veränderungen im Wachheitszustand und Muskeltonus
Kasten 2:
Typische Beispiele für die Anwendung der Füttertechnik Pacing
Fallbeispiel 1 Das Frühgeborene saugt und schluckt regelmässig, hält aber über mehrere Sekunden die Atmung an oder atmet sehr flach, sodass die Sauerstoffsättigung fällt. Die Gefahr eines unkontrollierten Einatmens nach einer langen Atempause, unabhängig davon, ob noch Milch am Kehlkopf steht oder nicht, ist erhöht und somit die Gefahr der Aspiration von Milch. Durch Unterbrechung des Saugens und Schluckens erhält das Frühgeborene die Möglichkeit und den Impuls, zu atmen und sich zu erholen.
Fallbeispiel 2: Pacing mit Co-Regulation Das Frühgeborene saugt mehrmals hintereinander, schluckt aber nicht. Es sammelt sich damit Milch in Höhe der Kehlkopfebene und gefährdet damit die Atmung. Die Wahrscheinlichkeit, sich zu verschlucken, erhöht sich stetig. Eine Unterbrechung vom Saugen ermöglicht, die gesaugte Milch vollständig zu schlucken, bevor das Frühgeborene weitersaugen kann.
Trinkkoordination von Frühgeborenen
Die Funktionen Saugen, Schlucken und Atmen und deren Koordination verbessern sich mit zunehmender Reife. Dieser Prozess verläuft jedoch nicht synchron (1). Frühgeborenen gelingt es zu Beginn des Trinklernprozesses zumeist nicht, Saugen und Atmen zu integrieren und Saugen und Schlucken aufeinander abzustimmen (Abbildung 2). Die Funktionen werden voneinander getrennt (7). Die Atmung wird angehalten, während mehrfach hintereinander ein Saugen erfolgt. Dann wird hintereinander Milch geschluckt und dabei weiterhin die Atmung angehalten, um nicht zu aspirieren. Können Saugen und Schlucken schon aufeinander abgestimmt werden, bleibt nicht selten die Atmung noch flach und somit unzureichend für eine adäquate Sauerstoffsättigung oder die Luft wird angehalten (10). Die beschriebene unzureichende Koordination führt zu einer erhöhten Gefahr einer Penetration oder Aspiration sowie zu einer Überforderung von Kind (und Eltern) mit einer frühzeitigen Ermüdung. In der Folge kommt es zu einer unzureichenden Volumenaufnahme und damit zu einer unzureichenden Gewichtszunahme. Während der Trinkversuche geben Frühgeborene Signale, die anzeigen, ob die Koordination gelingt oder misslingt. Das können akustische Signale, mimische Reaktionen sowie Veränderungen im Muskeltonus, Wachheitszustand und Hautkolorit sein (Kasten 1) (6, 10). Eltern müssen durch Fachpersonal in den betreuenden Kliniken im Erkennen dieser spezifischen Signale und Reaktionen angelernt werden, um darauf reagieren zu können.
Ansatz eines signalorientiertes und co-regulierten Trinkens
Mit dem Wissen um die besonderen Anforderungen an den Trinklernprozess stellt sich die Frage, wie man Frühgeborenen und ihren Eltern unterstützend und präventiv begegnen kann. Der Trinklernprozess wird in erster Linie von der neurologischen Reife des Frühgeborenen bestimmt und unterliegt nicht der Maxime: Je früher und häufiger das Frühgeborene übt zu trinken, desto besser wird es (11). In der Ernährungsentwicklung Frühgeborener haben sich die Konzepte der entwicklungsfördernden Pflege und der familienzentrierten Betreuung durchgesetzt. Zentral sind hier drei Massnahmen: • der frühe Haut-zu-Haut-Kontakt • die Versorgung mit Muttermilch/Frauenmilch/Stillen • das signalorientierte und co-regulierte Füttern (12).
Ein früher Haut-zu-Haut-Kontakt kann die elterliche Bindung fördern, die Laktation unterstützen und den Stress bei Kind und Mutter reduzieren. Der Stellenwert von Muttermilch/Frauenmilch zur Prävention von Infektionen und
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Erkrankungen ist bekannt, und die Ver-
sorgung der Kinder in den Kliniken damit
hat in den letzten 10 Jahren deutlich zu-
genommen.
Das signalorientierte und co-regulierte
Füttern basiert auf der Synaktivitätstheo-
rie von Heidelise Als (13) und wurde von
zahlreichen Autoren für das Stillen/Füt-
tern konkretisiert (z. B. [6, 14]). Es bein-
haltet das Konzept der Co-Regulation bei
noch nicht ausgereifter Selbstregulati-
onskompetenz des Kindes bis diese vor-
handen ist. Im Trinklernprozess – oder
genauer gesagt «Trinkreifungsprozess»
– gilt es, die aktuellen Fähigkeiten (und Schwierigkeiten) der Frühgeborenen zu identifizieren, indem der Trinkprozess ge-
Abbildung 3: Positionierung in erhöhter Seitenlage. A: Stillen im Rückengriff; B, C: Füttern mit der Flasche in erhöhter Seitenlage
nau beobachtet wird (Kasten 1), um die
noch fehlenden Fähigkeiten so auszu-
gleichen, dass der Trinkprozess ruhig und ohne Überfor- (15). Bei Anwendung der Füttertechnik Pacing wird die
derung oder Gefährdung erfolgen kann (6, 14). Eltern unzureichende Koordination von Saugen, Schlucken und
und ihre Kinder lernen so von Anfang an, dass die orale Atmen durch das regelmässige Setzen von Pausen wäh-
Ernährung ein interaktiver Prozess ist, bei denen die Kin- rend des Trinkprozesses ausgeglichen. Dabei wird der
der Signale senden und Eltern diese erkennen und darauf Sauger im Mund des Kindes leicht abgekippt, somit der
reagieren. Es sollte in keinem Fall ein einseitiger Prozess Kontakt des Saugers zur Zunge gelöst, sodass keine Milch
sein, bei dem Eltern dazu angehalten werden, ihrem Kind mehr aus dem Sauger fliessen beziehungsweise keine
möglichst früh möglichst viel Milch zu «füttern». Diese Milch mehr aus dem Sauger gesaugt werden kann. Man
Erfahrung ist für beide essenziell für die weitere orale kann auch den Sauger vollständig aus dem Mund ent-
Ernährungsentwicklung – auch als Prävention von lang- fernen (16, 17). Das Pacing wird meist beim Füttern mit
fristigen Fütter- und Ernährungsstörungen (5).
der Flasche eingesetzt, kann in modifizierter Form aber
auch beim Stillen angewendet werden. Oft ist dies an der
Stillen als Grundlage
Brust aber nicht notwendig, da die Trinkkoordination
Müttern und Frühgeborenen muss so früh wie möglich beim Stillen häufig schon deutlich besser gelingt als beim
und ausreichend Raum und Zeit für das Stillen mit wert- Trinken aus einer Flasche (15).
schätzender, kontinuierlicher und professioneller Stillbe- Typische Beispiele für die Anwendung der Füttertechnik
ratung gegeben werden. «Stillen» startet bereits vor dem Pacing sind im Kasten 2 aufgeführt.
eigentlichen Trinken an der Brust, nämlich mit dem frühen Wird über Pacing eine Pause in den Saug- und/oder
Mund-Brust-Kontakt während des Haut-zu-Haut-Kon- Schluckprozess eingefügt, beobachtet man, wann das
takts. Hier machen Frühgeborene erste sensorische, ol- Frühgeborene ausreichend geschluckt/geatmet/sich er-
faktorische und oral-motorische Erfahrungen mit der holt hat. Erst dann darf es kontrolliert weitertrinken. Die-
Mutterbrust und der Muttermilch. Es ist ein hochgradig ser Vorgang ist die beschriebene Co-Regulation (14). Sie
interaktiver Prozess zwischen Mutter und Kind und kann ermöglicht dem Frühgeborenen ein ruhiges Trinken, ohne
die Grundlage legen, Signale des Kindes zu erkennen und Überforderung und daraus folgender Gefährdung. Durch
darauf zu reagieren. Beim frühen Mund-Brust-Kontakt die Gewährleistung einer regelmässigen Atmung und der
besteht nicht der Anspruch viel zu trinken, sondern posi- Kontrolle des regelmässigen Schluckablaufs in Koordina-
tive Erfahrung zu vermitteln. Ein effizientes Trinken an der tion mit dem Saugen wird einer frühzeitigen Erschöpfung
Brust gelingt zumeist erst mit zunehmend konstantem vorgebeugt. Häufig kann klinisch beobachten werden,
Sogaufbau. Brusterfahrung, auch mit dem Schlucken von
Muttermilchtropfen sollten idealerweise vor einer Trinkerfahrung an der Flasche liegen. Fachpersonal kann mit den Beteiligten ein stillfreundliches Zufüttern an der Brust
Kasten 3:
Symptome nach der Entlassung aus dem Spital
erarbeiten und auf diesem Weg das (zusätzliche) Trinken
aus der Flasche überflüssig machen (9).
• Würgen, Verschlucken und Husten beim Trinken
Füttertechnik «Pacing»
In den meisten deutschsprachigen Kliniken, ist ein ausschliessliches Stillen von Frühgeborenen noch nicht Alltag und eine Flaschenernährung ein relevanter Teil der Betreuung. Das Trinken an der Flasche ist aus Sicht der Saug-Atem-Schluck-Koordination deutlich herausfordernder für den Säugling, da eine konstante (und meist hohe) Flussrate an Flüssigkeit vorhanden ist und der Fluss
• Saugschwäche nach zuvor normalem Saugverhalten • Probleme in der Sauginitiierung • Besseres Trinkverhalten im Halbschlaf oder Schlaf • Zunehmende Verweigerung der Nahrungsaufnahme mit Weinen, Wegdrehen,
Anschreien von Brust oder Flasche • Mahlzeitendauer von über 45 min • Erbrechen • Unzureichende Gewichtszunahme
mehr von der fütternden Person gesteuert werden muss
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dass über qualitativ besseres Trinken (mit entsprechender Co-Regulation) quantitativ mehr getrunken werden kann, ohne dass dies das primäre Ziel der Intervention war.
Positionierung in erhöhter Seitenlage
Werden Säuglinge gestillt, werden sie in modifizierter Wiegehaltung oder im Rückengriff, also jeweils in einer Seitenlage, positioniert (Abbildung 3a). Beim Füttern mit der Flasche wird das Kind klassischerweise in einer Wiegehaltung auf dem Rücken liegend im Arm der Eltern positioniert. Bei Schwierigkeiten in der Trinkkoordination empfiehlt es sich auch beim Trinken aus einer Flasche zumindest temporär eine Positionierung des Kindes zu wählen, die der physiologischen Trinkposition beim Stillen ähnlich ist: die erhöhte Seitenlage (Abbildung 3b und 3c) (9, 18, 19). Die erhöhte Seitenlage hat entscheidende Vorteile. Die Wahrscheinlichkeit eines Verschluckens sinkt, weil in der Seitenlage die Milch nicht über die Zungenmitte in Richtung Kehlkopf läuft, sondern über die Rachenseitenwand über die Valleculae in die Sinus piriformes läuft, also seitlich neben den Kehlkopf. Dort kann die Milch bei nicht regelmässigem Schlucken kurz verweilen oder gegebenenfalls ohne Schlucken ablaufen. Ein weiterer Vorteil ist, dass der Winkel der Flasche flacher ist als in der Rückenlage, womit der Milchfluss geringer und damit die Trinkkoordination erleichtert wird (18, 19). Die klinische Erfahrung bestätigt ein reduziertes Risiko für eine Penetration oder Aspiration. Es lässt sich ruhigeres und gleichmässigeres Trinken in der Seitenlage beobachten. Sowohl der Einsatz der Füttertechnik Pacing als auch die Positionierung in erhöhter Seitenlage stellen Interventionen dar, die bei zunehmend gesicherter Trinkkoordination nicht mehr benötigt werden. Es hat sich jedoch gezeigt, dass einige Frühgeborene deutlich über ihren errechneten Geburtszeitraum hinaus Probleme in der Trinkkoordination zeigen und längerfristig zum Teil auch in ihrer gesamten Trinkentwicklung auf diese Interventionen angewiesen sind.
Trinkverhalten Frühgeborener nach der Entlassung
Zum Zeitpunkt der Entlassung gleicht das Trinkverhalten Frühgeborener zumeist noch nicht dem reifer Neugeborener. Das Trinken kann noch viele Wochen nach der Entlassung unkoordiniert und anstrengend bleiben (2). Schwierigkeiten in der Ernährungsentwicklung sind dynamisch und können sich mit zunehmendem Alter auch in neuen Symptomen äussern und sich schliesslich als Fütterstörung manifestieren (Kasten 3) (3, 4). Einer besonderen Beachtung bedarf die korrigierte Altersspanne zwischen 2 bis 4 Monaten, in der ein Übergang vom reaktiven zum willentlichen Saugen und Trinken stattfindet und sich posttraumatische Fütterstörungen mit oraler Aversion und Trinkverweigerung erstmals manifestieren können. Welche Belastung die anhaltenden Ernährungsprobleme für Eltern darstellen kann, lässt sich
sehr eindrücklich in einer Elternumfrage des Bundesverbands «Das frühgeborene Kind e. V.» aus dem Jahr 2018 nachlesen (20). Der gesamte Tagesablauf dreht sich nicht selten um das Füttern des Kindes mit permanenten stressbeladenen Situationen und grösster Sorge der Eltern um die Gesundheit des Kindes. Trotz dieser grossen Belastung erleben wir in der Begleitung der Eltern immer wieder, dass erst spät professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Fachwissen um die spezifischen Schwierigkeiten in der Ernährungsentwicklung Frühgeborener noch zu wenig verbreitet ist. Gleichzeitig fehlen wohnortnah häufig Fachleute, die professionelle Unterstützung anbieten können (Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Stillund Laktationsberatung usw.).
Fazit
Die Erfahrungen, die Frühgeborene im Spital beim Trinken machen und die Art und Weise, wie Eltern lernen, ihre Frühgeborenen zu ernähren, sind die Grundlage der weiteren Ernährungsentwicklung. Vieles, was Frühgeborene an (oralen) Erfahrungen während der notwendigen intensivmedizinischen Betreuung erleben, lässt sich trotz grösstmöglicher Sorgfalt bei allen Beteiligten nicht verhindern. Gerade aus diesem Grund muss darauf geachtet werden, dass die Trinkerfahrung von Kindern und Eltern von Anfang an positiv sind. Mit einem signalorientierten und co-regulierten Ansatz der Ernährung lassen sich Trinkerfahrungen positiv und sicher gestalten und gleichzeitig die Trinkmengen physiologisch steigern. Ein entscheidender Beitrag zur Prävention von Fütterstörungen kann durch co-reguliertes Trinken gelegt werden. Auch nach der Entlassung muss die Ernährungsentwicklung weiter beobachtet werden, um Probleme frühzeitig zu erkennen und durch präventive Massnahmen zu verhindern oder professionell zu behandeln.
Korrespondenzadresse: Dr. rer. medic. Nicole Hübl Dipl. Logopädin Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie Sozialpädiatrisches Zentrum Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstrasse 5 D-40225 Düsseldorf E-Mail: nicole.huebl@med.uni-duesseldorf.de Tel.: 02 11/8 11 65 14
Interessenlage: Die Autorinnen geben an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Kinderärztliche Praxis 3/2023. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung des korrespondierenden Autorin und des Verlags Kirchheim.
Literatur auf www.ch-paediatrie.ch abrufbar.
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