Transkript
Schwerpunkt
Zu viel – zu wenig?
Klinischen Befunden vertrauen, unnötige Diagnostik vermeiden
Foto: RBO
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In der Praxis sind Fälle, bei denen man sich nicht so sicher ist, ob weitere Abklärungen oder die Zuweisung ans Spital nicht doch angebracht wäre, nicht so selten. An der Session der Kinderärzte Schweiz am Jahreskongress von pädiatrie schweiz empfahlen Dr. med. Sergio Stocker und Dr. med. Marc Sidler anhand von Fallbeispielen, klinischen Befunden und der eigenen Erfahrung stärker zu vertrauen, um überflüssige diagnostische Massnahmen zu vermeiden.
Dr. med. Sergio Stocker Dr. med. Marc Sidler 4
Wer viel misst …
Eine Mutter bringt ihre 18 Monate alte Tochter in die Praxis. Das Kind hat seit zwei Tagen Fieber, eine leichte Rhinitis und eine Otitis media rechts. Es ist ansonsten gesund, geimpft und normal entwickelt. Eigentlich sei das ein einfacher Fall, bei dem es keine zusätzliche Laboruntersuchung brauche, sagte Dr. med. Sergio Stocker. Trotzdem wurde von dem behandelnden Kinderarzt ein Blutbild erstellt, weil die Mutter befürchtete, ihr Kind könne eine Leukämie haben. «Damit startete er eine Kaskade weiterer, unnötiger Abklärungen, die er hätte verhindern können», sagte Dr. med. Marc Sidler. Stattdessen hätte dieser Arzt der Mutter erklären können, dass nichts auf eine Leukämie hindeute und ein Blutbild zum jetzigen Zeitpunkt sinnlos sei, weil die Blutwerte wegen des akuten Infekts sowieso nicht den Normwerten entsprechen würden. Aber so kam es nicht und die Laboruntersuchung lieferte wie zu erwarten abnorme Werte (CRP 81 mg/l; Leukozyten 40 000/µl). «Wer viel misst, misst viel Mist», kommentierte ein Zuhörer im Auditorium das Vorgehen dieses Kinderarztes. Doch nun, mit diesen Messwerten schwarz auf weiss, wagte es dieser Kinderarzt nicht mehr, lediglich die akuten Beschwerden zu behandeln und zunächst abzuwarten – obwohl das Kind in einem guten Allgemeinzustand war, keinerlei Atemprobleme hatte und der Auskultationsbefund normal war. Er überwies das Kind wegen der Laborwerte an die Notfallambulanz des nächstgelegenen Spitals, wo man alle möglichen Untersuchungen durchführte, inklusive Thoraxröntgen und Abdomensonografie – ohne Befund. All das sei völlig unnötig gewesen und leider kein Einzelfall, sagte Dr. med. Sergio Stocker. Weil man im Spital kaum den Mut habe, nichts zu tun, gerate ein Kind allzu rasch in die diagnostische Mühle, obwohl das vielleicht gar nicht nötig sei. «Wir müssen auf die Klinik vertrauen. Macht keine unnötigen Untersuchungen, weil ihr nicht an eure klinischen Untersuchungsfähigkeiten glaubt!», forderte Stocker. Ihn selbst störten abnorme Laborwerte zunächst einmal nicht, wenn es dem Kind gut gehe. Vielmehr würde er dann lediglich die akute Erkrankung behandeln und schauen, wie sich der Krankheitsverlauf entwickle.
Behandlungsbedürftige Gedeihstörung?
Eine Mutter stellt sich mit ihrer bis anhin unauffällig und gut entwickelten 10-monatigen Tochter in der Praxis vor. Das Kind erscheint erstmals dystroph. Die Wachstumskurve knickt ab, das Gewicht liegt deutlich unter der 3. Perzentile und der Kopfumfang entwickelt sich ebenfalls nicht normal. Kinder mit Gedeihstörungen würden oft zum Gastroenterologen oder Endokrinologen überwiesen, aber das sei häufig zunächst einmal gar nicht nötig, sagte Sidler und erläuterte das empfohlene Vorgehen aus der Sicht der Guidelines. Die «Gedeihstörung» sei keine Diagnose, sondern ein rein deskriptiver Begriff, der folgendermassen definiert wird: • Unterschreitung der 3. Perzentile für Körpergewicht
und eventuell auch der Körperlänge • Abfall des Körpergewichts um mehr als 2 Hauptperzen-
tilen • vermindertes Längensollgewicht oder BMI unter der
3. Perzentile. Was über Wachstumskurven und Laborwerten oft vergessen werde, sei überdies der Aspekt von «good health and happiness», der ebenfalls ein wichtiger Faktor für das Gedeihen sei, so Sidler. Eine Gedeihstörung entwickelt sich entweder bei unzureichender Nahrungsaufnahme, gestörter intestinaler Aufnahme der Nährstoffe (intestinale Malabsorption z. B. bei Zöliakie) oder einem erhöhten Bedarf an Nährstoffen (z. B. Herzerkrankungen, atopisches Ekzem, Lungenerkrankungen). Auch eine Kombination aus den drei genannten Gruppen ist möglich, wie bei der zystischen Fibrose (gestörte intestinale Aufnahme und erhöhter Bedarf an Nährstoffen). Typische Probleme, die zu einer unzureichenden Nahrungsaufnahme führen, sind Appetitlosigkeit, Schluck- und Kaustörungen sowie Motilitätsstörungen des Ösophagus. Leitsymptome der Malabsorption sind chronische Diarrhö (mehr als 4-mal Stuhlgang/ Tag über mehr als 4 Wochen) sowie Fettstühle. Kurzatmigkeit ist ein Anzeichen für Herz- und Lungenprobleme. Eine ausführliche Übersicht über mögliche Differenzialdiagnosen bei Gedeihstörungen ist im Kasten zusammengestellt. Angesichts dieser langen Liste stellt sich die
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Frage, welche Abklärungen man tatsächlich ins Auge
fassen sollte.
«Das Schöne in der Praxis ist, dass wir die Kinder und
Familien über eine lange Zeit begleiten und dann ein biss-
chen pragmatischer arbeiten als im Spital», sagte Stocker.
Weil das Mädchen trotzdem gesund wirkte und bei seinen
Geschwistern im Säuglingsalter ähnli-
Zusätzliche Abklärungen müssen zu den klinischen Befunden passen.
che Phänomene auftraten, die verschwanden, sobald die Mutter mehr zufütterte, entschied sich Stocker für das Zuwarten. Und siehe da: Es funktio-
nierte. Ab dem Zeitpunkt, an dem das
Kind anfing, gut zu essen, nahm es wie gewünscht zu.
«Ich habe einfach nichts gemacht. Keinen Test, nichts. Ich
habe die Familie gekannt und darauf vertraut, dass es gut
kommt», so Stocker.
Keine Gliadin-Antikörper bestimmen!
Im Zusammenhang mit dem letztgenannten Fall wies Sidler auf eine obsolete Laboruntersuchung hin: Bei Verdacht auf eine Zöliakie werden die Gewebetransglutaminase-IgA-Antikörper (tTG-IgA) und das Gesamt-IgA (Ausschluss IgA-Mangel) bestimmt, aber nicht mehr die Gliadin-Antikörper (1). «Die Gliadin-Antik örper sind zu unspezifisch», sagte Sidler. Sie könnten häufig grenzwertig erhöht sein, auch
Kasten:
Häufige Grunderkrankungen bei Gedeihstörungen
Neugeborene: • Kurzdarm nach nekrotisierender
Enterokolitis • Volvulus und Darmresektionen • kongenitale Resorptionsdefekte und
Defekte der Dünndarmstruktur • unzureichende Nahrungszufuhr
Säuglinge (2 bis 8 Monate): • unzureichende Nahrungszufuhr • Vernachlässigung • intestinale Kuhmilchprotein-Allergie • Ösophagitis bei gastro-ösophagealem
Reflux • zystische Fibrose • Essstörungen und/oder erhöhter
Bedarf bei kardiologischer, neurologischer, onkologischer oder renaler Grunderkrankung • Zöliakie • chronische Diarrhö bei Immundefekten • Autoimmunenteropathie • Postenteritis-Syndrom und Malabsorptions-Syndrome • Münchhausen-by-proxy-Syndrom
Kleinkinder (9 bis 36 Monate): • unzureichende Nahrungszufuhr • Vernachlässigung • Zöliakie • zystische Fibrose • Essstörungen und/oder erhöhter
Bedarf bei kardiologischer, neurologischer, onkologischer oder renaler Grunderkrankung • chronische Diarrhö bei Immundefekten • Münchhausen-by-proxy-Syndrom
Kinder (3 bis 16 Jahre): • unzureichende Nahrungszufuhr • Vernachlässigung • psychiatrische Erkrankungen,
insbesondere Anorexia nervosa • chronisch-entzündliche Darm
erkrankungen • Zöliakie • zystische Fibrose • Essstörungen und/oder erhöhter
Bedarf bei kardiologischer, neuro logischer, onkologischer oder renaler Grunderkrankung • chronische Diarrhö bei Immundefekten • Lambliasis und andere chronische Darminfektionen
Quelle: nach (2)
wenn das tTG-IgA (bei normalem Gesamt-IgA) negativ ist, sodass in der Gastroenterologie sehr oft angefragt werde, was dann zu tun sei. «Gar nichts!», empfahl Sidler: «Bestimmen Sie diese Antikörper nicht! Die Gliadin-Antikörper haben keinen Stellenwert in der primären Diagnostik bei Zöliakieverdacht.»
Klinische Untersuchung entscheidend
Während es bei den genannten Fällen eher um das Vermeiden einer Überdiagnostik ging, schilderten die beiden Referenten auch zwei Fälle, in denen zum einen trotz zahlreicher Untersuchungen das Wesentliche übersehen wurde und zum anderen ein Symptom zu einer etwas vorschnellen Diagnose führte. Ein Jugendlicher geht mit Schmerzen im rechten Unterbauch, aber ohne Fieber, Erbrechen oder Durchfall zu einer Notfallambulanz für Erwachsene. Dort untersucht man das Abdomen, ermittelt Laborwerte und führt sogar ein CT durch. Das Genitale wird jedoch nicht untersucht und man entlässt ihn mit der Diagnose einer selbstlimitierenden «Lymphadenitis mesenterialis» nach Hause. Vier Tage später meldet sich der Jugendliche mit starken Bauchschmerzen bei seinem Kinderarzt, der eine Hodentorsion entdeckt, nachdem er den Jungen davon überzeugen konnte, sich am Genital untersuchen zu lassen. Eventuell habe man, weil sich der Junge vor der Untersuchung zierte, auf der Notfallambulanz nicht so genau nachgeschaut und «nur am Bauch herumgedrückt, aber nicht das Genital untersucht», sagte Stocker und betonte anhand dieses Beispiels, wie wichtig eine wirklich gründliche klinische Untersuchung sei. Ein 8-jähriges Mädchen wird von seinen Eltern spät an einem Sonntagabend mit rezidivierendem Erbrechen in die Notfallaufnahme gebracht. Der Allgemeinzustand des Kindes ist nur leicht reduziert. Das Mädchen kann kein Wasser lösen, sodass keine Urinuntersuchung erfolgt. Nach einem Einlauf entleert sie etwas harten Stuhl und wird mit der Diagnose «Obstipation und Verdacht auf HWI» mit der Empfehlung entlassen, am nächsten Morgen zum Kinderarzt zu gehen. Am nächsten Tag fällt dem Kinderarzt auf, dass das Kind in den letzten Monaten über 1 kg abgenommen hat. Die Urinuntersuchung ergibt erhöhte Glukose- und Ketonwerte (Erstmanifestation eines Diabetes mellitus). Dieser Fallbericht sei «kein Vorwurf an irgendjemand», sagte Sidler. Er solle lediglich illustrieren, dass die Obstipation zwar eine sehr häufige pädiatrische Diagnose sei, man bei Vorliegen von möglichen «red flags», wie zum Beispiel bei Erbrechen, Gewichtsverlust oder einem reduzierten Allgemeinzustand, weitere Abklärungen gezielt durchführen solle. Zum Dauerbrenner «Bauchschmerzen» gab Sidler am Ende der Session noch einige Literaturtipps (3, 4).
Renate Bonifer
Dr. med. Marc Sidler und Dr. med. Sergio Stocker an der Session: Kinderärzte Schweiz: «From Bench to Praxis» – Alltag und Notfall in Spital und Praxis. Jahresversammlung pädiatrie schweiz am 16. Juni 2023 in Interlaken.
Literatur auf www.ch-paediatrie.ch abrufbar
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Literatur: 1. Sidler M, Posovszky C: Vorgehen ohne Biopsie – Paradigmenwechsel bei der Zöliakie-Diagnostik. Erkennen der Zöliakie bei Kindern und Jugendlichen – ein Update. Prim Hosp Care. 2023;23(3):90–93. 2. Nützenadel W: Failure to thrive in childhood. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(38): 642–649. https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=106177. 3. Egger S, Heinz-Erian P, Fankhauser M, Müller T (2010) Akutes Abdomen aus pädiatrischer Sicht. Monatsschr Kinderheilkd 158: 695–704. 4. Bufler P et al.: Chronische Bauchschmerzen bei Kindern und Jugendlichen. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(17): 295–304.
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