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Frühes Eingreifen bremst den atopischen Marsch
Schon mit der Behandlung der atopischen Dermatitis die Weichen stellen
Eine sehr früh im Leben einsetzende atopische Dermatitis ist häufig der erste Schritt im atopischen Marsch; als nächste Schritte folgen bei einem Teil der Betroffenen das Asthma und die allergische Rhinitis. Je früher man eingreift, desto grösser ist offenbar die Chance, diesen Marsch aufzuhalten.
I ch denke, das ist wirklich das Problem, mit dem die meisten von uns in der Praxis konfrontiert sind», betonte Prof. Dr. med. Thomas Bieber aus Bonn auf dem EADV-Kongress in Amsterdam. Diese Konfrontation findet dabei bereits oft sehr früh statt, wenn die Patienten noch Säuglinge sind und die typischen Hauteffloreszenzen einer atopischen Dermatitis (AD) aufweisen. Oft werden sie damit bereits in einem Alter von wenigen Wochen dem Arzt vorgestellt. Ihre AD werden zwar die meisten dieser Patienten innerhalb der nächsten 5 bis 7 Jahre wieder verlieren, allerdings in der Zwischenzeit andere Erkrankungen des atopischen Formenkreises entwickeln, ja im schlimmsten Fall sogar an allen atopischen Erkrankungen gleichzeitig leiden. Etwa 45 Prozent aller AD-Fälle beginnen innerhalb der ersten 6 Lebensmonate, 60 Prozent im 1. Lebensjahr und 85 Prozent innerhalb der ersten 5 Lebensjahre (1). Indes werden nicht alle Betroffenen die Erkrankung bis zum Erwachsenenalter behalten, denn bei 70 Prozent kommt es vor Erreichen des Erwachsenenalters zu einer spontanen Remission (1). Doch die restlichen 30 Prozent der Kinder, die über viele Jahre an ihrer AD leiden, würden mit grosser Wahrscheinlichkeit auch den atopischen Marsch einschlagen, gab Bieber zu bedenken. Diese Beobachtung wird mittlerweile durch viele epidemiologische Studien aus verschiedenen Ländern und Kontinenten bestätigt. So hat beispielsweise eine Studie gezeigt: Wenn ein Kind sowohl eine AD als auch eine allergische Rhinitis hat, dann ist sein Risiko, ein Asthma zu entwickeln, um das 7- bis 11-Fache erhöht. Diese Daten machten deutlich, wie wichtig eine gute dermatologische Versorgung der Säuglinge und Kleinkinder mit atopischer Dermatitis ist, betonte Bieber: «Wenn wir diese kleinen Kinder in einem sehr frühen Stadium der Erkrankung sehen, dann ist es wichtig, die Eltern richtig aufzuklären, um langfristig die Situation zu verbessern.» Denn diese stellt sich folgendermassen dar: Die Erkrankung selbst beginnt typischerweise als IgE-negative infantile Dermatitis – also als intrinsische Form. Im weiteren Verlauf der chronischen Entzündung in der Haut entwickeln die Patienten IgE-getriggerte Sensibilisierungen (Abbildung). Man geht heute davon aus, dass die atopische Entzündungsreaktion in der Haut entscheidend ist, um in den betroffenen Patienten Sensibilisierungen gegen verschiedene Allergene aus der Umwelt zu induzieren. «Ich denke, das Verständnis dieses Verlaufs ist in der täglichen Praxis sehr wichtig. Wenn Sie also einen Säugling bereits sehr früh im Krankheitsverlauf sehen, dann haben Sie die Chance, auch sehr früh einzugrei-
fen, um möglicherweise diesen entscheidenden Schritt der Sensibilisierung zu verhindern.»
Ist der atopische Marsch umkehrbar? Ist aber der atopische Marsch bereits im Gange und sind Sensibilisierungen nachweisbar, stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung noch umkehrbar ist. Dass dies vermutlich noch möglich ist, wurde mittlerweile in mehreren Studien gezeigt. Selbst bei Patienten, die bereits alle Zeichen von AD, Asthma und Rhinitis aufweisen – was auch das «dermorespiratorische Syndrom» genannt wird –, scheint eine Umkehr möglich. Wenn man bei solchen Patienten topisch die Hauterkrankung behandelte – Bieber präsentierte als Beispiel eine Studie mit Tacrolimus-Salbe –, konnte man beobachten, dass sich bei vielen nicht nur die Hautreaktionen besserten, sondern auch das Serum-IgE abnahm und eine Besserung der respiratorischen Erkrankungen nachweisbar war, auch wenn man die Behandlung des Asthmas und der Rhinitis nicht veränderte (2). «Es gibt bis jetzt noch sehr wenige solche Studien, aber sie lassen vermuten, dass es in der Tat möglich ist, den atopischen Marsch auch dann noch umzukehren, wenn er bereits im Gange ist – allein durch eine gute Behandlung der Hautveränderungen», so Bieber. Offenbar beeinflusst die Behandlung der Entzündung in der Haut auch die systemische Entzündungsreaktion einer chronischen atopischen Erkrankung. «Das ist, wie ich meine, eine wichtige Information für uns, wenn wir Patienten sehen, die an dieser Form der atopischen Dermatitis mit einem atopischen Marsch leiden», betonte Bieber.
Jonathan, Amelie und Petra – typische Kasuistiken aus der Praxis Welches Kind den atopischen Marsch einschlägt, entscheidet sich schon sehr früh im Leben. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Bieber machte dies an drei typischen Kasuistiken deutlich: Jonathan, Amelie und Petra. Alle drei wurden etwa im gleichen Säuglingsalter mit den typischen, sehr ähnlichen Dermatitiserscheinungen an ihrer Haut vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt wies keines der Kinder irgendeine nachweisbare Sensibilisierung auf. Petra (Patient 1 in der Abbildung) hatte grosses Glück – bei ihr verlor sich die Erkrankung nach einigen Jahren, ohne dass es zu Sensibilisierungen gekommen wäre, und sie entwickelte sich zu einem gesunden Kind. Im Gegensatz dazu persistierte die Erkrankung bei Jonathan und Amelie über die folgenden Jahre, und sie entwickelten Sensibilisierungen. Doch auch hier
Dermatologie • Januar 2015
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Epigenetische Regulation Mensch
Individuum
Umwelt Pruritus/Gewebeschaden
Umweltfaktoren Allergene Mikrobiom
Autoallergische AD (Patient 3)
IgE-neg
infantile AD
IgE-
(Patient 1) Sensibilisierung
IgE-Sensibilisierung Autoantigene
IgE-pos AD (Patient 2)
+/-
Allerg. Rhinitis Asthma
Epidermale Gene «Immunologische» Gene Genetik
Abbildung: Atopische Dermatitis (AD), Komplexität in der Pathophysiologie (modifiziert nach Bieber [1])
zeigten sich Unterschiede: Bei Amelie (Patient 2) blieb es bei der AD, ohne dass sie eine allergische Rhinitis oder ein Asthma entwickelt hätte. Am schlimmsten traf es Jonathan (Patient 3), der das Vollbild eines atopischen Marsches durchlebte: Er gehörte zu den eingangs erwähnten 30 Prozent, die nicht nur sehr lange an ihrer AD leiden, sondern die zudem ihr Spektrum an allergischen Sensibilisierungen immer mehr erweitern und zusätzlich eine allergische Rhinitis sowie ein Asthma bronchiale entwickeln. Wenn der Dermatologe oder der Pädiater diese Kinder zu einem sehr frühen Zeitpunkt sieht, dann ist das vermutlich exakt in dem kritischen Zeitfenster, in dem durch eine adäquate Therapie das Atopikerschicksal, wie es sich bei Jonathan weiter darstellte, verhindert werden kann, wie Bieber betonte. Das Problem besteht momentan darin, dass zu diesem kritischen Zeitpunkt einer möglichen therapeutischen Einflussnahme auf das drohende Atopikerschicksal noch nicht festgestellt werden kann, welchen natürlichen Verlauf die Krankheit in jedem individuellen Fall nehmen wird. Hier kommt die personalisierte Medizin ins Spiel: Derzeit wird daran geforscht, die Unterschiede zwischen diesen Kindern zu identifizieren und zu verstehen, woran es liegt, dass die atopische Dermatitis bei manchen Kindern einen selbstlimitierenden Verlauf nimmt, während sie bei anderen den atopischen Marsch in gekürzter oder eben in voller Ausprägung
Take Home Messages
• Beim atopischen Marsch ist die Entzündungsreaktion in der Haut entscheidend, um in den betroffenen Patienten Sensibilisierungen gegen verschiedene Allergene aus der Umwelt zu induzieren und so den atopischen Marsch in Gang zu setzen.
• Sehr früh im Leben des Atopikers existiert vermutlich ein kritisches Zeitfenster, in dem durch eine adäquate antientzündliche Therapie der Hautveränderungen das klassische Schicksal eines atopischen Marsches verhindert werden kann.
• Derzeit wird nach Biomarkern gesucht, um bei Säuglingen mit atopischer Dermatitis das individuelle Risiko für den atopischen Marsch besser vorhersagen zu können.
auslöst. Daher wird nach möglichen Biomarkern gesucht, mit denen sich das individuelle Risiko des einzelnen Kindes mit atopischer Dermatitis besser vorhersagen lässt. Es gibt allerdings noch viel zu erforschen, um die Heterogenität dieser Patientengruppe besser zu verstehen und Subtypen identifizieren zu können. Erst dann wird eine individualisierte und risikoadaptierte Behandlung der Kinder mit AD möglich sein.
Zukunftsvisionen einer personalisierten Medizin «Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren eine völlig neue Sicht auf die atopische Dermatitis entwickeln», resümierte Bieber: «Hier entwickeln wir uns genau in die Richtung dessen, was wir als personalisierte Medizin bezeichnen.» Geht man also davon aus, dass der atopische Marsch bereits sehr früh im Leben startet, indem durch die entzündlichen Reaktionen in der Säuglingshaut eine allergische Sensibilisierung begünstigt wird und die intrinsische in eine extrinsische Form übergeht, dann sollte man diese Phase der atopischen Erkrankung auch als «window of opportunity», also als das Zeitfenster mit der besten Chance einer therapeutischen Beeinflussung ansehen. Und dann ist es auch sinnvoll, möglichst schon in diesem Zeitfenster durch eine adäquate antientzündliche Therapie zu intervenieren. «Wenn Sie diese Kinder frühzeitig sehen, versuchen Sie bitte, die Eltern dahingehend zu schulen, dass die bestmögliche Compliance in der von Ihnen verordneten Therapie erzielt wird.» Wie wird also das Management der AD bei solchen Kindern in Zukunft aussehen? Bei Patienten mit dem schlimmsten Szenario – wie bei Jonathan – wird man, wenn man sie erst einmal identifizieren kann, die Intervention intensivieren. Dazu gehören sowohl eine intensive Schulung und Aufklärung der Eltern, die Propagierung einer möglichst langen Stillzeit sowie vermutlich auch eine prophylaktische Therapie, die auch die Prophylaxe von Infektionen enthält. Denn die betroffenen Kinder haben erfahrungsgemäss oft schwere und weitflächige Hautinfektionen mit pathogenen Hautkeimen wie Staphylokokken, oder auch generalisierte Herpesinfektionen im Sinne eines Eczema herpeticatum. Die anderen Kinder – wie Amelie und Petra – werden vermutlich diese intensivierte Intervention nicht benötigen, ja nicht einmal von ihr profitieren. Hier könnte in Zukunft vermutlich eine Genotypisierung hilfreich sein, die das persönliche Risiko besser eingrenzt. Bieber geht davon aus, dass es schon bald möglich sein wird, die diesen äusserlich nicht unterscheidbaren «Exophänotypen» zugrunde liegenden «Endophänotypen» zu unterscheiden und verschiedene Subgruppen der AD zu definieren. «Entsprechend diesen unterschiedlichen Subgruppen werden wir die Art und Weise, wie wir die Erkrankung dieser Kinder managen, komplett überdenken müssen – insbesondere in Bezug auf den atopischen Marsch», so die Einschätzung von Bieber. Das ist ein völlig neues Feld in der dermatologischen Therapie. Die Therapie der atopischen Dermatitis wird sich damit zunehmend von einer kurativen zu einer eher präventiven und von einer kollektiven zu einer individualisierten Therapie entwickeln.
Carola Weiss
Quelle: Symposium «Atopic dermatitis management in special situations», 23. Kongress der European Academy of Allergology and Venereology (EADV), Amsterdam, 8. bis 12. Oktober 2014.
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Referenzen: 1. Bieber T. Mechanisms of disease: Atopic Dermatitis. N Engl J Med 2008; 358 (14): 1483–1494. 2.Virtanen H et al. Topical tacrolimus in the treatment of atopic dermatitis – does it benefit the airways? J Allergy Clin Immunol 2007; 120: 1464–1466.
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