Transkript
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5 Jahre RE-LY
Das Gesicht der Antikoagulation hat sich verändert
Vor genau fünf Jahren läuteten die Ergebnisse der RE-LY-Studie mit Dabigatran die Ära der neuen oralen Antikoagulanzien ein, die die Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern weitreichend veränderten. Ein guter Zeitpunkt also, um Rückschau über den damaligen Paradigmenwechsel zu halten, einen Überblick über aktuelle Strategien bei Blutungen unter NOAC zu bieten und ausserdem auf zukünftige Einsatzgebiete des innovativen Wirkstoffs hinzuweisen.
A m ESC-Kongress 2009 stellte Prof. Dr. med. Stuart Connolly – ebenfalls in Barcelona – die Ergebnisse der RE-LY-Studie vor, in die mehr als 18 000 Patienten aus 951 Zentren in 44 Ländern eingeschlossen waren (1). Verglichen wurde darin der Vitamin-K-Antagonist (VKA) Warfarin mit dem direkten Thrombinhemmer Dabigatran (150 mg und 110 mg, je 2-mal täglich). «Der Studienaufbau hatte zum Ziel, möglichst stark die klinische Praxis zu widerspiegeln: 50 Prozent der Patienten waren VKA-naiv, und es gab eine breite Abdeckung möglicher CHADS2-Scores», kommentierte Connolly. Die Ergebnisse waren selbst für die Studienautoren überraschend: «Die Studie war auf Nichtunterlegenheit ausgerichtet. Stattdessen zeigte sich eine Überlegenheit von Dabigatran 150 mg vs. VKA: 35 Prozent Verminderung von Schlaganfall oder systemischer Embolie, 25 Prozent Reduktion von ischämischem Insult, eine knapp 75-prozentige Verminderung des hämorrhagischen Insults, eine Verminderung der vaskulären Mortalität um 15 Prozent und ein sehr starker Trend zur Verminderung der Gesamtmortalität, der die statistische Signifikanz nur um wenige Patienten verpasste.»
Daten aus dem echten Leben
Real-Life-Daten sollen den klinischen Alltag eins zu eins wiedergeben und umfassen daher auch Patienten mit schlechter Compliance, nicht kontrollierten Komorbiditäten oder eingeschränkter Nierenfunktion. Eine solche «lebensgetreue», unabhängige Auswertung der US-Arzneimittelbehörde FDA analysierte Daten der staatlichen Krankenversicherung von 134 000 Patienten über 65 Jahre mit neu diagnostiziertem, nicht valvulärem Vorhofflimmern, deren Antikoagulation mit Dabigatran oder Warfarin durchgeführt wurde; der Beobachtungszeitraum war 2010 bis 2012, entsprechend 37 500 Patientenjahren Follow-up (11). Die Untersuchung bestätigte den Nutzen von Dabigatran auch in der klinischen Praxis: • signifikante Verminderung des Risikos für ischämischen Schlaganfall von
20 Prozent (angepasste HR 0,80) • zwei Drittel weniger intrakranielle Blutungen (HR 0,34) • ähnliche Myokardinfarktrate (HR 0,92) • sowie eine signifikant verringerte Mortalität (HR 0,86) • leichte, aber signifikante Erhöhung für schwere GI-Blutungen (HR 1,28). Die Analyse bestätigte die Zulassungsstudie, und die FDA bescheinigte Dabigatran damit insgesamt ein positives Nutzen-Risiko-Profil.
Die Blutungsraten waren unter Dabigatran in beiden Dosierungen niedriger als unter Warfarin (statistisch signifikant in der niedrigeren Dosierung); unter Dabigatran 150 mg 2-mal täglich trat eine erhöhte gastrointestinale Blutungsrate auf, die Rate intrakranieller Blutungen (ICH) war in beiden Dosierungen signifikant vermindert.
In einer Vielzahl von Publikationen weiter untersucht Mittlerweile ist Dabigatran in mehr als 20 Publikationen unter einer Vielzahl unterschiedlicher Aspekte detailliert analysiert worden. Beispielsweise: CHADS2-Score: Der Effekt von Dabigatran auf Insult/Systemische Embolien (SE) und schwere Blutungen war konsistent für Niedrig-, Intermediär- und Hochrisikopatienten unabhängig vom zugrunde liegenden Score (2). Nierenfunktion: Unter Dabigatran vs. Warfarin zeigt sich der Nutzen der Reduktion von Insult/SE über alle Subtypen der Niereninsuffizienz hinweg (3). Kardioversion: In RE-LY waren 2000 Patienten eingeschlossen, bei denen eine Kardioversion erfolgte. Die Insultrate lag in dieser Patientengruppe in allen drei Behandlungsarmen bei unter einem Prozent, ohne statistisch signifikante Unterschiede. «Diese sehr niedrigen Raten verweisen auf die Sicherheit der Kardioversion unter Dabigatran oder Warfarin.»
Langzeitdaten bestätigen Wirksamkeit und Sicherheit Zudem liegen aus der RELY-ABLE-Studie auch Daten zur langfristigen Behandlung vor (4). Das Follow-up von bis zu 6,7 Jahren bestätigt die RE-LY-Ergebnisse und brachte keine neuen Hinweise bezüglich der Sicherheit: «Beide Dosierungen von Dabigatran sind klinisch wirksam und haben ein günstiges Sicherheitsprofil in der langfristigen Schlaganfallprophylaxe bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern», schloss Connolly.
Vorgehen bei geplanter Chirurgie … Praktische Anleitungen für das Vorgehen mit NOAC in besonderen Situationen gab nachfolgend Prof. Dr. med. Pieter Willem Kamphuisen, University Medical Center Groningen in den Niederlanden. Ein Fall aus der Praxis: eine 76-jährige Frau, Vorhofflimmern (VHF) seit 8 Jahren, Insult, seit 2 Jahren Dabigatran 150 mg 2-mal täglich. Komedikation: Ramipril, Me-
30 Kardiologie • November 2014
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toprolol, Simvastatin, CHAD2DS2-VASc-Score 6 (= hohes Risiko), zudem eine Kreatinin-Clearance von 38 ml/min. Nun benötigt die Patientin eine Leberbiopsie. Ist hier eine BridgeTherapie erforderlich? «Nein», sagt Kamphuisen. «Der Onund Offset der Behandlung unter NOAC ist so viel schneller als unter VKA, es besteht kein Bedarf für eine Bridge-Behandlung mit Heparin bei NOAC-Patienten.» Zu untersuchen ist jedoch die Nierenfunktion, «da die Halbwertzeit der NOAC je nach Nierenfunktion zwischen 15 und 27 Stunden liegt.« Zudem muss das Blutungsrisiko der geplanten Prozedur bekannt sein: Je höher das Risiko, desto früher sind die NOAC abzusetzen. Bei leichter Niereninsuffizienz (eGFR 50–80) und hohem Blutungsrisiko ist Dabigatran 2 bis 3 Tage vor dem Eingriff abzusetzen, bei Standardblutungsrisiko sind 24 Stunden ausreichend. Bei schwerer Niereninsuffizienz und hohem Blutungsrisiko ist das Absetzen bereits fünf Tage vorher erforderlich (5). Im vorgestellten Fall der 76-Jährigen ist die geplante Leberbiopsie mit einem hohen Blutungsrisiko assoziiert, die Nierenfunktion ist eingeschränkt, Dabigatran ist daher 4 Tage vorher abzusetzen. «Wichtig im Management eines geplanten chirurgischen Eingriffs bei NOAC-Patienten sind die gute interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Implementierung eines lokalen Protokolls, das alle Ärzte gut kennen», lautet der Tipp des Experten für die Praxis.
… und bei Blutungen im Notfall Zur Illustration des Managements von Blutungen wird dieselbe Patientin nun nach einem Autounfall mit Thoraxtrauma in die Notaufnahme eingeliefert, im Lungenröntgen zeigt sich eine pulmonale Blutung. Wie ist das Vorgehen? • Bei lebensbedrohlicher Blutung: PCC/aPCC ([aktiviertes]
Prothrombinkomplexkonzentrat), Hämodialyse • Moderate bis schwere Blutung: Symptomatische Behand-
lung, mechanische Kompression, chirurgische Intervention, Flüssigkeitsersatz, hämodynamische Unterstützung, Blutprodukttransfusion, PCC • Leichte Blutung: Mechanische Kompression, Verzögerung der nächsten Dosis. Zur Umkehr der gerinnungshemmenden Wirkung liegen nur wenige Daten vor, so der Experte. Die Hämodialyse könne hilfreich sein, allerdings nur bei Patienten, die nicht hämodynamisch beeinträchtigt sind. Zum Einsatz von Gefrierplasma liegen derzeit nur Ergebnisse aus Tierstudien vor, «es muss zudem in grossen Volumina eingesetzt werden, und das ist zeitintensiv». Zunehmende Evidenz gäbe es für eine Wirkung von 3- und vor allem 4-Faktor-PCC. Kritik des Experten gibt es grundsätzlich am Vorgehen vieler Kollegen bei Auftreten einer Blutung: «In der RELY-Studie zeigte sich, dass zu wenig Patienten bei einer Blutung PCC erhalten. Das überraschende Ergebnis zeigt, dass wir das Management von Blutungen dringend verbessern müssen.» (6) Die Einführung eines Antidots soll das Management einer Blutung unter NOAC zusätzlich verbessern: Ein spezifisches (noch nicht zugelassenes) Antidot für Dabigatran ist Idarucizumab, ein vollständig humanisierter Antikörper mit sehr hoher Bindungsaffinität für Dabigatran. Der Wirkstoff wurde bereits an 100 gesunden Freiwilligen untersucht und «führte dabei zu einer vollständigen und anhaltenden Umkehr der gerinnnungshemmenden Aktivität von Dabigatran, mit einem niedrigen Nebenwirkungsrisiko». (7). Im Frühjahr diesen Jahres hat dazu eine grosse Untersuchung (RE-VERSE AD) in mehr als 35 Ländern begonnen (8). In der abschliessenden Diskussion erinnerte Prof. Dr. med. Christopher Granger, Durham, daran, wie wichtig es ist, alle
Weitere Einsatzgebiete
Nach Schätzungen gibt es in der EU 750 000 Fälle venöser Thromboembolien pro Jahr, die in-Hospital-Sterberate liegt bei zwölf Prozent (9), berichtete Alex Spyropoulos von der Hofstra North Shore LIJ School of Medicine im US-Bundesstaat New York. Bis vor kurzem bestand die Akutbehandlung in der ersten Woche aus Heparin, die länger- und langfristige Behandlung aus VKA. Seit 2014 ist auch Dabigatran für die Behandlung und Prävention der tiefen Venenthrombose (DVT) und Lungenembolie (PE) zugelassen (USA und EU). Dabigatran 150 mg 2-mal täglich zeigte bei VTE-Patienten NichtUnterlegenheit vs. Warfarin in der Prävention rezidivierender oder letaler VTE bei Patienten, die für DVT und/oder PE bereits eine parenterale Antikoagulation erhalten hatten, mit einer signifikanten Reduktion aller Blutungen; zudem war eine ähnliche Effektivität bei verbesserter Sicherheit vs. Warfarin in der langfristigen Prävention des Rezidivs zu beobachten (10).
Umfassendes Studienprogramm mit 60000 Patienten weltweit Im umfassenden Studienprogramm RE-Volution, welches bereits mehr als 60’000 Patienten weltweit umfasst, soll Dabigatran nun unter anderem auch bei Patienten mit Vorhofflimmern untersucht werden, die sich einer PCI unterziehen (Effektivität und Sicherheit von Dabigatran 150 oder 110 mg plus P2Y12-Inhibitor vs. VKA plus duale Antiplättchen nach Absetzen von ASS, REDUAL PCI); sowie bei Patienten mit embolischem Insult unbekannter Ursache (ESUS) in der Prävention eines Rezidivs (RE-SPECT ESUS).
Patienten mit Vorhofflimmern und erhöhtem Schlaganfallrisiko zu antikoagulieren, und bezeichnete den präsentierten Daten zufolge Dabigatran als eine gute Wahl.
Lydia Unger-Hunt
Literatur: 1. Connolly SJ et al, Dabigatran versus warfarin in patients with atrial fibrillation. NEJM 2009; 361: 1139–1151. 2. Oldgren J et al. Risks for stroke, bleeding, and death in patients with atrial fibrillation receiving dabigatran or warfarin in relation to the CHADS2 score: a subgroup analysis of the RE-LY trial. Ann Intern Med 2011; 155: 660–667. 3. Hijazi Z et al. Efficacy and safety of dabigatran compared with warfarin in relation to baseline renal function in patients with atrial fibrillation: a RE-LY (Randomized Evaluation of Long-term Anticoagulation Therapy) trial analysis. Circulation 2014; 129: 961–970. 4. Connolly S et al. The Long-Term Multicenter Observational Study of Dabigatran Treatment in Patients With Atrial Fibrillation (RELY-ABLE) Study. Circulation 2013; 128: 237–243. 5. Healey IS et al. Periprocedural bleeding and thromboembolic events with dabigatran compared with warfarin: results from the Randomized Evaluation of Long-Term Anticoagulation Therapy (RE-LY) randomized trial. Circulation 2012; 126: 343–348. 6. Majeed A et al. Management and outcomes of major bleeding during treatment with dabigatran or warfarin; Circulation 2013; 128: 2325–2332. 7. Clinical Trials: NCT02028780 8. Clinical Trials: NCT02104947 9. Anderson FJ et al. A population-based perspective of the hospital incidence and case-fatality rates of deep vein thrombosis and pulmonary embolism. The Worcester DVT Study. Arch Intern Med 1991; 151: 933–938. 10. Schulman S et al. Extended use of dabigatran, warfarin, or placebo in venous thromboembolism; NEJM 2013; 368: 709–718. 11. www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm396470.htm
Quelle: «Changing the face of anticoagulation: 5 years since RE-LY», Satellitensymposium von Boehringer Ingelheim im Rahmen des ESCCongress 2014 in Barcelona.
Kardiologie • November 2014 31