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Die Angst vor der Angst
Angststörungen zu selten erkannt und therapiert
Angst hat nur dann pathologische Wertigkeit, wenn sie stärker als notwendig oder nicht mehr zu kontrollieren ist beziehungsweise starkes Leiden verursacht – und somit als Angststörung einzustufen ist. Angsterkrankungen wie etwa die relativ häufig auftretende Panikstörung gelten nach wie vor als unterdiagnostiziert und untertherapiert, dabei stehen mit der Verhaltenstherapie und psychopharmakologischer Medikation zwei gute Behandlungsoptionen zur Verfügung. Aktuelle neurobiologische Forschungsergebnisse verweisen auf Zusammenhänge zwischen Angst und Darmflora und bestätigen die Amygdala als Hauptsitz der Angst.
Der Angst an sich kommt nicht von vornherein pathologische Wertigkeit zu. Im Gegenteil: «Es wäre pathologisch, keine Angst zu haben», stellt Dr. med. Joe Hättenschwiler vom Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich (ZADZ) zu Beginn seines Vortrags klar, denn Angst dient der Bewältigung äusserer und innerer Bedrohungen und Herausforderungen. Die physiologischen Reaktionen
Wo sitzt die Angst? Amygdala ʹ ͣdŚĞ&ĞĂƌ,Ƶď͞
Abbildung 1: Die Angst lässt sich in der Amygdala lokalisieren.
Psychophysiologischer Teufelskreis der Angst
Auslösende Situation, Gedanke, Erinnerung,
Körperempfindung
Flucht Vermeidung
Fehlinterpretation der Symptome als ͣŐĞĨćŚƌůŝĐŚ͞
Wahrnehmung von Bedrohung
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(adaptiert nach Clark u.Wells, 1997)
Körpersymptome
z.B. Herzrasen, Schwindel, Schwitzen
Angstgedanken
Abbildung 2: Schon die Angst vor der Angst kann erneute Angst auslösen, ein Teufelskreis (alle Abbildungen Hättenschwiler)
gehen von der Amygdala als neurobiologi-
schem «Sitz der Angst» aus, die nach dem
Angststimulus zur eigentlichen Angstauslö-
sung direkt an Hypothalamus und Hirn-
stamm weiterprojizieren, mit der Folge der
Aktivierung von Sympathikus (Tachykardie,
Blässe, Blutdruckanstieg) und Parasympa-
thikus (Defäkation, Urinieren, Bradykardie),
parabrachialem Nucleus (Keuchen, Atem-
not) sowie zentralem Höhlengrau (Erstar-
ren, «freezing») und Nucleus paraventricularis (Kortisolfreisetzung). Auch Seh- und
Joe Hättenschwiler
Hörnerven werden empfindlicher, die Muskelspannung ist ge-
steigert; zudem kommt es zu einem ängstlichen Gesichtsaus-
druck als «Hilfssignal an andere», interpretiert Hättenschwiler.
Angst aktiviert Empathie und verschärft Geruchssinn
Neue neurobiologische Forschungsergebnisse zeigen weiterhin: • Ängstliche Kinder haben vergrösserte Amygdala • Angstschweiss führt zu einer Aktivierung der Empathie-
areale bei anderen, und • Angst verfeinert den Geruchssinn (1–3). Ein interessantes Ergebnis ist auch ein möglicher Zusammenhang zwischen Darmbakterien und Angst, wie kanadische Forscher bei Tierversuchen zeigten: Nach Zerstörung der Darmflora mit Antibiotika wurden Mäuse unvorsichtig und ängstlich, und im Hirn der Tiere konnte vermehrt der brainderived neurotrophic factor (BDNF) isoliert werden, der wiederum mit Depressionen und Angststörungen verbunden ist (4). Und unter dem Schlagwort «sauer macht ängstlich» könnte man eine amerikanische Studie zusammenfassen: Hier zeigten Mäuse nach Inhalation von CO2 verstärktes Angstverhalten (5).
Individuelle Ängste nehmen mehr Raum ein «Ängste und deren Wahrnehmung haben sich zum Teil in der modernen Gesellschaft gegenüber früheren Zeiten verändert», berichtet Hättenschwiler: Ein mögliches Konzept gehe davon aus, dass mit dem Zeitalter der Industrialisierung viele tradi-
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Der diagnostische Entscheidungsbaum bei Angst
Angst
Normale Angst
Keine Diagnostik
Krankhafte Angst
Primäre Angstkrankheit
Sekundäre Angstkrankheit
Auftreten in spezifischen Situationen
Plötzlich aus heiterem
Himmel
Dauernd vorhanden
Organerkrankung Medikamente
Psychiatrische Erkrankung Sucht
Neurologische Erkrankung
Phobie
Panikstörung
Generalisierte Angststörung
Internistische Diagnostik
Psychiatrische Diagnostik
Neurologische Diagnostik
27.06.2014 l Dr. med. Joe Hättenschwiler
Die Abklärung der Angst sollte neben der ausführlichen Anamnese eine körperliche Untersuchung, die Überprüfung von Blutbild, Blutzucker, Leberwerten, Elektrolyten, Schilddrüse und EKG umfassen. Auch an Drogen und Medikamente denken.
Definitionen der Angst
Angst:
unrealistische Furcht vor nicht identifizierbarem Stimulus
Furcht:
realistische Antwort auf eine objektive Bedrohung mit identifizierbarem Stimulus (aktuell).
Phobie:
unrealistische Antwort auf einen objektiv nicht bedrohlichen, identifizierbaren Stimulus.
Panikattacke: Diskrete Periode intensiver Angst oder Unbehagens, die durch bestimmte körperliche, kognitive und Verhaltenssymptome begleitet wird.
Keine Panik: Es ist nur Pan, der Hirtengott
• Sohn der Nymphe Dryope und des Gottes Hermes • Beschützer der Wälder und Hirten, später der ganzen Natur • Schon seine Mutter bekam Angst, als sie ihn erblickte • Wer ihn in seinem Schlaf störte, wurde bestraft: Er jagte ihm panische
Angst ein • Soll auch den Persern bei der Schlacht bei Marathon 490 vor Christus
Angst gemacht haben
tionelle Ursachen von akuter existentieller Angst – wie vor dem Verhungern aufgrund einer ausgefallenen Ernte – verschwanden. Damit konnten sich Menschen zunehmend mit individuellen Ängsten auseinandersetzen, es bedeutete aber auch, Ängste nicht mehr als Teil des täglichen Lebens wahrzunehmen, sondern als vermeidbare, störende Symptome.
Panikattacke als «Prototyp der Angst» Die Dosis bestimmt die Pathologie: «Die Frage ist, wie stark die Angst ist. Angst ist nur dann krankhaft, wenn sie stärker als notwendig ist, aus der Situation heraus nicht verstehbar, zu häufig und langdauernd ist, der Betroffene sie nicht mehr kontrollieren oder aushalten kann, die Angst starkes Leiden verursacht und das Leben einschränkt», zählt der Experte auf. Die Panikattacke gilt als der Prototyp der Angst. Sie zeichnet
sich durch eine kurze Phase intensiver Angst und starken Unbehagens aus, die von intensiven körperlichen (Herzrasen, Schwindel, Schwitzen) und psychischen Symptomen begleitet wird, welche in der Regel innerhalb weniger Minuten wieder abklingen. «Besonders erschreckend ist für die Betroffenen, dass die Symptome auch aus dem Schlaf heraus auftreten können; das ist natürlich besonders traumatisierend.» Nach dieser körperlich erschöpfenden Phase, in der der Patient häufig angibt, «fix und fertig» zu sein, kann die Erwartungsangst, also die Angst vor der Angst, entstehen, die oft in den sogenannten Teufelskreis der Angst mündet. Denn der Patient beobachtet sich und seine möglichen Symptome nun besonders genau, was wiederum die Erwartungsangst schürt (Abbildung 2).
Häufige Panikattacken Es gibt 3 Formen der Panikattacken: • Spontan, ohne Trigger, meist mit Panikstörung assoziiert • Situationsgebunden, Reiz-getriggert, etwa bei sozialer
Phobie • Situationsbegünstigt: Die Panikattacke wird nicht sofort
ausgelöst, allerdings ist das Risiko dafür in bestimmten Situationen grösser. Als mittelgradige Panikstörung gelten mindestens 4 Attacken in 4 Wochen, bei mindestens 4 Attacken pro Woche im Verlauf von 4 Wochen gilt die Panikstörung als schwer. Panikattacken sind häufig: Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 6,1 Prozent, Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Das mediane Alter zu Beginn der Attacken liegt bei 24 Jahren, jenseits des 45. Lebensjahres treten sie deutlich seltener auf: «Das Alter hat auch seine Vorteile», kommentiert Hättenschwiler trocken. Die Rate an psychischen Komorbiditäten wie Angst oder Depression ist allerdings hoch, häufig treten auch körperliche Komorbiditäten auf (Schilddrüse, Atemwege, Arthritis, Migräne oder Allergien). «Der Erbfaktor wird mit 48 Prozent angegeben, das heisst aber nicht, dass Kinder von Betroffenen unbedingt ebenfalls daran leiden werden», betont der Experte. Bei 38 bis 81 Prozent der Betroffenen traten vor der ersten Panikattacke spezifische Lebensereignisse ein: ein Verlust, Heirat, Schwangerschaft und Geburt oder Unfälle. Die soziodemografische Schicht scheint keine Rolle zu spielen. Symptome variieren interindividuell, klassisch ist ein plötzlicher Beginn mit Herzklopfen, Brustschmerz, Erstickungsgefühlen, Schwindel und Entfremdungsgefühlen. Sekundär entsteht fast immer die Furcht zu sterben, wahnsinnig zu werden oder einen generellen Kontrollverlust hinnehmen zu müssen.
Unterdiagnostiziert und untertherapiert Ein wesentliches Problem: Angststörungen werden häufig nicht erkannt, und selbst bei korrekter Diagnose werden sie oft «nicht adäquat behandelt», zitiert Hättenschwiler aus der Studienlage (6). Folgende Faktoren begünstigen eine Verzögerung der Diagnose: Die Angstpatienten selbst gehen häufig von einer internistischen Ursache ihrer Symptome aus und suchen dementsprechend Ärzte dieser Fachrichtung auf. Und Betroffene einer sozialen Angststörung etwa melden sich nur selten zur Behandlung, da sie wahrscheinlich die Stigmatisierung fürchten. «Und das nicht zu Unrecht. Eine Studie des Royal College of Psychiatrists in London aus 2000 an knapp 1800 Interviewten zeigte etwa, dass Panikpatienten in der Allgemeinbevölkerung als unberechenbar (bei 50% der Befragten) oder gefährlich (bei 26%) gelten.» (7)
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Häufig verfallen Angstpatienten in ein Vermeidungsverhalten, berichtet Hättenschwiler weiter – da sie das Vermeiden unangenehmer Erfahrungen zunächst als positiv empfinden. «Allerdings führt das schnell zu einer Einschränkung des persönlichen Radius, man lernt nicht, dass die Bedrohung auch vorübergeht, verhindert neue Erfahrungen und inneres Wachstum», erklärt der Fachmann. Ausserdem kostet dieses Vermeidungsverhalten viel Energie, «es hält die Angst aufrecht und lässt eine Ausweitung der Angst auf immer mehr Situationen zu». Vor allem Menschen mit Agoraphobie meiden Orte, von denen sie glauben, dass im Falle von Panik eine Flucht schwierig oder keine Hilfe verfügbar sein könnte.
Psychotherapie Mittel der 1. Wahl Evidenzbasiert ist die Psychotherapie die Behandlung der 1. Wahl bei Angststörungen, wobei sie genügend lange durchzuführen ist; am besten belegt ist die Wirkung der kognitiven Verhaltenstherapie. «Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie ist der Abbau krankmachender Denkprozesse, Vorstellungen und Erwartungen», betont Hättenschwiler. Durch Veränderungen der Denkmuster entstehen Änderungen im Verhalten; zentrale Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie sind: Psychoedukation, kognitive Umstrukturierung, Expositionsübungen sowie die Vermittlung von Angstbewältigungsstrategien.
Medikamentöse Massnahmen Medikamentös können Benzodiazepine eingesetzt werden, aber «akut und so kurz wie möglich». Langfristig können Antidepressiva (AD; wie z.B. SSRI, SSNRI, Trizyklika) verabreicht werden, deren anxiolytischer Effekt unabhängig von der antidepressiven Wirkung ist. Der Effekt tritt allerdings verzögert ein, im Gegensatz zu den Benzodiazepinen; Antidepressiva sind langsam einzuleiten und langsam auszuschleichen und zudem auch nach Remission 12 bis 24 Monate als Erhaltungstherapie weiterzuverschreiben. Bei generalisierten Angststörungen haben zudem Pregabalin, Opipramol und Quetiapin evidenzbasierte Wirksamkeit.
Die medikamentöse Behandlung der Panikstörung mit und ohne Agoraphobie umfasst Folgendes: • Medikamente der 1. Wahl sind SSRI und Venlafaxin (Evi-
denzgrad A). • Trizyklika sind wirksam, werden aber weniger gut vertra-
gen. • In therapieresistenten Fällen können Benzodiazepine eine
Option sein (wie z.B. Alprazolam, wenn kein Hinweis für Sucht- oder Toleranzentwicklung vorliegt). Eine Kombination mit Antidepressiva ist möglich, um die ersten Wochen bis zur angstlösenden Wirkung der AD zu überbrücken. • Mittel der 3. Wahl: Moclobemid; in therapieresistenten Fällen Augmentation einer SSRI-Behandlung mit dem 5HT1ARezeptorantagonisten und Betablocker Pindolol (off-label) oder einem Trizyklikum; oder Kombination von Valproinsäure oder Clonazepam. • Eine Kombination mit Verhaltenstherapie wird empfohlen.
Optimismus gefordert Lebensstilmassnahmen, die der Patient selbst unter Kontrolle hat, sind etwa eine ausgewogene Ernährung, das Einschränken koffeinhaltiger, stimulierender Substanzen, schleimhautabschwellender Mittel sowie Abmagerungspillen; Alkohol vermeiden oder reduzieren, denn «der hier beobachtete
Angststörungen: Informationen und Behandlungsempfehlungen zum Download
Die Schweizer Empfehlungen zur Therapie von Angststörungen finden Sie auf der Hompage des Zentrums für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich ZADZ unter folgender Adresse oder via QRCode: http://zadz.ch/hilfsmittel/
Weitere Informationen zu Angststörungen finden Sie auf der Webseite der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) unter: www.sgad.ch
anxioloytische Effekt ist nur vorübergehend. Ausserdem ist die Gefahr einer Abhängigkeit zu beobachten», warnt der Experte. Und natürlich sind ein regelmässiger Lebensrhythmus sowie ausreichend Bewegung gesundheitlich immer von Vorteil. Ob die Angst «für die Seele ebenso gesund ist wie ein Bad für den Körper», wie Maxim Gorki meinte, sei dahingestellt. Aber ängstliche Menschen könnten zumindest Beruhigung aus einer Studie von Prof. Dr. Jules Angst ziehen, dem emeritierten Forschungsdirektor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich: In seiner Untersuchung lebten «sehr ängstliche» Personen prozentuell länger als «kaum ängstliche» (8).
Lydia Unger-Hunt
Literatur: 1. Qin S et al. Amygdala Subregional Structure and Intrinsic Functional Connectivity Predicts Individual Differences in Anxiety During Early Childhood. Biological Psychiatry 2014; 75: 892–900. 2. Prehn-Kristensen A et al. Induction of Empathy by the Smell of Anxiety. PLoSONE 2009; doi:10.1371/journal.pone.0005987. 3. Krusemark EA et al. Enhanced Olfactory Sensory Perception of Threat in Anxiety: An Event-Related fMRI Study; Chemosensory Perception. 2012; 5: 37–45. 4. Bercik P et al. The Intestinal Microbiota Affect Central Levels of Brain-Derived Neurotropic Factor and Behavior in Mice, Gastroenterology 2011; 141: 599–609. 5. Ziemann AE et al. The Amygdala Is a Chemosensor that Detects Carbon Dioxide and Acidosis to Elicit Fear Behavior, Cell 2009; 139: 1012–1021. 6. Wittchen HU et al. Generalized anxiety disorder: prevalence, burden, and cost to society. Depress Anxiety 2002; 16: 162–171. 7. Crisp AH et al. Stigmatisation of people with mental illnesses, Br J Psychiatry 2000; 177: 4–7. 8. Angst Jules. Ängstliche Persönlichkeit und Überleben, 5. Swiss Forum on Mood and Anxiety Disorders 2014.
Quelle: «Angststörungen», Vortrag und Workshop im Rahmen der 16. Fortbildungstagung des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 26. und 27. Juni 2014 in Luzern.
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