Transkript
FORTBILDUNG
Dank Impfungen gesünder altern
Plädoyer für Routineimpfungen ab 60 Jahren
Eine internationale Expertengruppe von europäischen Altersmedizinern und Infektiologen setzt sich für eine bessere Durchsetzung der Impfempfehlungen bei Menschen ab 60 Jahren ein, da auch in dieser Altersgruppe eine beträchtliche Reduktion der Krankheitslast durch verhütbare Infektionskrankheiten möglich ist.
REJUVENATION RESEARCH
sichts dieser Ausgangslage haben zwei europäische Gremien, die European Union Geriatric Medicine Society (EUGMS) sowie die International Association of Gerontology and Geriatrics–European Region (IAGG-ER), eine Arbeitsgruppe von Experten gebildet, die den Auftrag erhielten, Impf-Guidelines für die Geriatrie zu formulieren (Tabelle). «Die Entwicklung neuer Vakzinen zur Überwindung der abgeschwächten Immunfunktion im Alter (Immunoseneszenz) sollte nicht abgewartet werden», schreiben die Experten, «denn die heute verfügbaren Impfstoffe haben schon das Potenzial, die Last infektiöser Erkrankungen sowohl bei daheim lebenden Erwachsenen über 60 Jahre als auch bei älteren, in Pflegeinstitutionen untergebrachten Menschen zu verringern, auch wenn im Zusammenhang mit einer Alterslimite für Immunisierungen gelegentlich ethische Fragezeichen bestehen.»
Im Kindesalter haben sich Impfprogramme – allen Widerständen zum Trotz – gut durchgesetzt. Im Erwachsenenalter lassen sich hohe Raten beim Impfschutz durch Routinevakzinationen schon schwieriger aufrechterhalten. Bei einer in höherem Mass alternden Gesamtbevölkerung ist die Verhütung der Morbidität und Mortalität durch Infektionskrankheiten eine interessante Aufgabe für Routineimpfprogramme. Infektionen der unteren Luftwege sind in Ländern mit hohem Einkommen die viertwichtigste Todesursache und über 60 Jahre dreimal häufiger. Überraschenderweise, so Jean-Pierre Michel (Departement für Rehabilitation und Geriatrie am Universitätsspital Genf) und Mitautoren, bleibt Starrkrampf eine aktive Erkrankung mit über 200 Fällen innert jeweils einer Dekade etwa in Portugal, England oder Polen, wobei hauptsächlich Erwachsene über 50 Jahre betroffen sind. Diphtherieepidemien unter Erwachsenen in den Folgestaaten der Sowjetunion haben auch an die Gefahr durch diese Infektionskrankheit erinnert. Die Morbidität an Keuchhusteninfekten scheint gerade in älteren Populationen durchaus substanziell zu sein. Die jährliche Inzidenz von Herpes zoster wird zwischen 3,6 und 14,2 Fällen pro 1000 Einwohner geschätzt; bei über 60-Jährigen ist die Rezidivrate 8- bis 10-mal höher. Mit steigendem Anteil älterer und sehr alter Menschen an der Gesamtbevölkerung in Europa werden die genannten Infektionskrankheiten hinsichtlich Morbidität und Mortalität eine zunehmende Last darstellen, die durch gezielte Impfprogramme jedoch beträchtlich verringert werden kann. Ange-
Magere Durchimpfungsraten bei älteren Menschen In den meisten europäischen Ländern basieren die Empfehlungen auf Altersgrenzen oder Risikokonstellationen bei Grundleiden oder Tätigkeit im Gesundheitswesen. Die jährlichen Durchimpfungsraten für Influenza waren bei älteren zuhause lebenden Menschen 2007 unterschiedlich, aber eher (zu) tief, beispielsweise 71,8 Prozent in London, 59,3 Prozent in Hamburg oder 46,1 Prozent in Solothurn. Noch tiefer fielen diese Zahlen bei der Pneumokokkenimpfung aus (12,2% in England, 10,3% in Deutschland und 8,7% in der Schweiz). Zahlen aus Belgien und Frankreich belegen, dass der Tetanusund Diphtherieimpfschutz mit dem Alter sehr deutlich abnimmt, zu Pertussis gibt es bei über 60-Jährigen keine Daten.
Merksätze
■ Europäische Impfexperten aus der Geriatrie und Gerontologie schlagen für die Zukunft ein Routineimpfprogramm für Erwachsene ab 60 Jahren vor.
■ Dieses Programm umfasst je nach Impfanamnese und Risikokonstellation Grund- und Auffrischimpfungen gegen TetanusDiphtherie, Grippe, Pneumokokken und Herpes zoster.
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DA N K I M P F U N G E N G E S Ü N D E R A LT E R N
Tabelle: Vorschlag der Experten für Guidelines zur Impfung bei Menschen ab 60 Jahren in Westeuropa
Impfprogramm
empfohlene Impfungen
Bemerkungen
Beginn mit 60 Jahren (wenn möglich früher)
Revakzinationen
Tetanus-Diphtherie-Pertussis (TdaP)
Impfstatus erfassen: ■ falls keine früheren Impfungen, Grundimmunisierung
durchführen ■ falls letzte Boosterimpfung ≥ 10 Jahre zuvor, Boosterdosis
verabreichen
Trivalente Influenzaimpfung (TIV) Dem jährlichen Prävalenzmuster der Virustypen anpassen
Pneumokokken (23 Polysacchird-valent, PV23)
Impfstatus erfassen: ■ falls letzte Impfung ≥ 5 Jahre zuvor, 1 Dosis verabreichen
Herpes zoster
Impfstatus erfassen: ■ falls kein Hinweis auf eine frühere Impfung, 1 Dosis verabreichen
Influenza (TIV) Pneumokokken (PV23) Tetanus-Diphtherie-Pertussis (TdaP) Herpes zoster
jedes Jahr alle 5 Jahre alle 10 Jahre noch nicht bestimmt
Spezielle Indikationen
1. neues Verletzungsereignis
Tetanus-Toxoid (TT) oder TetanusDiphtherie-Toxoide (Td) oder TdaP
■ falls kein Hinweis auf frühere Impfungen, Grundimmunisierung durchführen
■ falls letzte Boosterimpfung ≥ 10 Jahre zuvor, Boosterdosis verabreichen
2. wiederholte Hospitalisierungen Pneumokokken
Impfanamnese erheben: ■ falls letzte Impfung ≥ 5 Jahre zuvor, 1 Boosterdosis verabreichen
3. Aufnahme in eine Pflegeinstitution Tetanus-Diphtherie-Pertussis (TdaP) durchführen
■ falls kein Hinweis auf frühere Impfungen, Grundimmunisierung ■ falls letzte Boosterimpfung ≥ 10 Jahre zuvor, Boosterdosis
verabreichen
Influenza (TIV)
Keine obere Altersgrenze; Herdenimmunität ist sowohl für die Insassen des Pflegeheims als auch für die Pflegenden wichtig
Pneumokokken
Wenn zuvor schon geimpft, wird ein Booster empfohlen, falls die Impfung ≥ 5 Jahre zurückliegt
Herpes zoster
Wenn noch nicht geimpft, 1 Dosis verabreichen. Bei Geimpften ist die Notwendigkeit von Revakzinationen noch nicht bekannt
Alle angeführten Impfungen können auch verabreicht werden bei leichten bis mittelschweren Lokalreaktionen anlässlich früherer Impfungen, leichter akuter Erkrankung, derzeitiger antibiotischer Behandlung, Personen unter Antikoagulation, bei kürzlicher Exposition zu einer Infektionskrankheit oder stabiler neurologischer Störung.
95 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre ist für das Herpeszoster-Virus seropositiv. Wegen der Abnahme der zellulären Immunität nimmt das Zosterrisiko ab 60 Jahren auf 20 bis 25 Prozent zu.
Suboptimale Impfantwort im Alter Für die bekannten suboptimalen Impfantworten bei über 60Jährigen gibt es verschiedene Gründe:
■ Abnahme der vakzineinduzierten Antikörperbildung ■ verkürzte Dauer der Antikörperantwort auf die Impfung ■ Immunoseneszenz mit Veränderungen bei B- und T-Zellen,
antikörperpräsentierenden Zellen und erhöhter Autoantikörperbildung
Die Autoren der Expertengruppe heben hinsichtlich der Immunoseneszenz einige Faktoren besonders hervor:
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FORTBILDUNG
■ Es bestehen komplexe Interaktionen zwischen Gebrechlichkeit, Behinderung sowie Komorbiditäten und dem altersbedingten immunologischen Niedergang.
■ Es gibt einen Bedarf zur Verbesserung der Immunantwort auf die Impfstoffe.
■ Diese Notwendigkeit soll aber nicht von einer Förderung der Impfprogramme mit den heute verfügbaren Vakzinen abhalten.
■ Eine hohe Durchimpfungsrate im Kindesalter kann die Infektionslast im Alter durch Ausbildung einer effektiven Herdenimmunität signifikant beeinflussen.
Für eine neue Impfstrategie im Alter Bisher kennen die europäischen Länder teilweise recht unterschiedliche Impfprogramme gegen Influenza, Pneumokokken, für Di-Te-Toxoide, Pertussisvakzinen oder den Herpes-zosterImpfstoff. Beim 23-Polysaccharid-valenten Pneumokokkenimpfstoff (Pneumovax®-23) sind die Empfehlungen ziemlich konsistent, basierend auf einem Alter ab 60 oder 65 Jahren sowie bekannten Risikokonstellationen. Für die europäische WHO-Region gilt die Zielvorgabe einer Erhaltung des TetanusDiphtherie-Schutzes mittels Td-Vakzinen von mindestens 90 Prozent, mit der Aufforderung, Hochrisikopopulationen die Immunisierung besonders anzubieten und allgemein für Boosterimpfungen alle zehn Jahre zu sorgen. Pertussisfälle treten einerseits im Säuglingsalter auf, andererseits sind Hochbetagte besonders gefährdet. Hier könnte versucht werden, mit azellulärem Pertussisimpfstoff (zusammen mit Td) bei Erwachsenen über 60 Jahre eine Verbesserung zu erreichen. Relativ neu ist die Herpes-zoster-Vakzine (Zostavax®), die heute in der Schweiz schon ab 50 Jahren empfohlen wird. Die Expertengruppe hat für die wichtigen durch Vakzination beeinflussbaren Infektionen bei Erwachsenen ab 60 Jahren die
in der Tabelle wiedergegebenen Impfempfehlungen als aktive
Strategie formuliert. Sie hebt hervor, dass das vorgeschlagene
Impfprogramm schon im mittleren Alter einsetzen müsse,
bevor die altersbedingte immunologische Reaktionsabnahme
Probleme schafft. Sie plädiert daher für die sechste Alters-
dekade, wenn möglich sogar früher.
Das Impfungen dezidiert befürwortende Gremium erwähnt
auch Fragen der Kosteneffektivität und Sicherheit. Nach seiner
Ansicht haben die Studien neueren Datums zur immer wieder
angezweifelten Grippeimpfung gezeigt, dass diese Vakzination
bei Personen ab 50, ja sogar ab 70 Jahren ein kosteneffektives
Angebot von grosser Tragweite ist. Auch mit Blick auf die an-
deren für die höheren Altersgruppen propagierten Impfungen
fordern die Autoren aber mehr Forschung zur Kosteneffekti-
vität.
Der Kern des Konsensusstatements umfasst fünf Punkte: Die
Impfstrategien müssen auf europäischer Ebene gestärkt und
harmonisiert werden. Impfprogramme müssen sich über den
ganzen Lebenszyklus erstrecken. Ein gesünderes Altern ist
durch Förderung der Durchimpfungsraten und damit Verringe-
rung der Last verhütbarer Infektionen zu unterstützen. Imp-
fungen bieten einen sozialen, ökonomischen und volks-
gesundheitlichen Nutzen. Gerade für die am schnellsten wach-
sende Altersgruppe sollte die Bereitschaft zur Impfung auf
allen Ebenen gefördert werden.
■
Interessenkonflikte werden in der Originalpublikation nicht deklariert.
Jean-Pierre Michel et al.: Advocating vaccination of adults aged 60 years and older in Western Europe: Statement by the Joint Vaccine Working Group of the European Union Geriatric Medicine Society and the International Association of Gerontology and Geriatrics–European Region. Rejuvenation Research 2009; 12(2): 127—135.
Halid Bas
Korrigendum
Kochendichte und Knochenqualität — Knochenmineraldichte allein ist wenig aussagekräftig erschienen in ARS MEDICI 22/09, S. 936f. In diesem Beitrag gat sich ein sinnentstellender Fehler eingeschlichen, den wir bedauern. Der bewusste Satz (im Abschnitt «Knochen wird unter der Therapie schon stärker, bevor er dichter wird») muss heissen: Eine Berechnung fand, dass die gemessene KMD-Zunahme (anstatt fälschlicherweise: -Abnahme) unter Alendronsäure nur gerade 16 Prozent (unter Raloxifen nur 4%) der beobachteten Abnahme von Wirbelfrakturen erklärte.
Redaktion ARS MEDICI
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