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Highlights vom SGIM-Jahreskongress
Interview mit Prof. Dr. Edouard Battegay, Universitätsspital Zürich
Anlässlich des 81. SGIM-Jahrestreffens unterhielten wir uns mit dem Tagungspräsidenten Prof. Dr. Edouard Battegay über das Motto des Kongresses, über zukünftige Herausforderungen und die Höhepunkte und Erfahrungen am diesjährigen Kongress.
E ines der Hauptthemen am SGIM-Jahrestreffen war die Multimorbidität. Eigentlich ist das Problem den Ärzten doch längst bekannt. Was ist neu bezie-
hungsweise was war das Anliegen des Kongresses?
Prof. Dr. Edouard Battegay: Multimorbidität gibt es schon
sehr lange, sie findet bereits in der Literatur – auch in
der Belletristik – Erwähnung. Die Pro-
blematik hat sich jedoch aufgrund der
demografischen Entwicklung verschärft,
Ältere sind im Durchschnitt multimorbi-
der. Aber natürlich gibt es Multimorbidi-
tät auch bei jüngeren Personen. Ein wei-
terer Grund sind die Erfolge der Medizin,
die dazu beigetragen haben, dass die
Patienten Krankheit A langzeitig überle-
ben und weitere Krankheiten erleben.
Edouard Battegay
Ausserdem sind unsere therapeutischen Möglichkeiten viel reicher geworden,
auch dadurch können Probleme entstehen; so kann ein
Medikament oder eine Therapie, die bei Krankheit A ge-
eignet ist, bei Krankheit B kontraindiziert sein.
Das Anliegen des Kongresses war es, auf das Thema auf-
merksam zu machen. Es war auch eine Aufforderung an
die Referenten, Aspekte der Ko- und Multimorbidität in ihren Referaten massgebend zu berücksichtigen. Denn obgleich sich in den letzten Jahrzehnten die Medizin sehr stark entwickelt hat und immer mehr Leute über ein sehr kleines Gebiet exzellent Bescheid wissen, erwachsen aus der Konstellation mehrerer Erkrankungen neue Fragen, die den Patienten oft nicht beantwortet werden können. Selbst in Guidelines werden häufigste Komorbiditäten oft ignoriert: Wie soll man beispielsweise bei Patienten mit entzündlichen Erkrankungen, bei denen Steroide eingesetzt werden, mit einem vielleicht allenfalls parallel vorhandenen Diabetes umgehen, der entgleist? Häufig treffen die Guidelines die Situation der oft multimorbiden Patienten nicht mehr.
Wie können wir diesen Herausforderungen begegnen? Battegay: Wir haben zwar über die Jahre ein Gespür für die aus der Multimorbidität erwachsenden Fragestellungen entwickelt, eine Intuition, basierend auf kristallisierter Erfahrung, aber es gilt, diesen Erfahrungsschatz zu objektivieren und Fehler, die wir möglicherweise in solchen Multimorbiditätssituationen machen, auszumerzen. Beispielsweise lysieren wir multimorbide Patienten nach Lungenembolie seltener, aber das scheint evidenzbasiert falsch zu sein. Zukünftig wird es mehr Komplexitätsforschung geben, sei es in der Ökonomie mit dem Entstehen von Krisen oder in der Systembiologie, in der Systeme als Ganzes betrachtet werden. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten ergeben sich hier viele neue Ansätze für die Forschung, auch in der Medizin.
Die Auftritt der Gruppe Kolsimcha war eine musikalische Bereicherung der Eröffnungsveranstaltung.
Was waren Ihre persönlichen Highlights am Kongress? Battegay: Das eine war sicher die Eröffnungsveranstaltung mit Prof. Lutz Jänke und der Gruppe Kolsimcha mit ihren Klezmertönen, also auch das Emotionelle. Des Weiteren die Aktivitäten meiner eigenen Klinik am Kongress, die gute Zusammenarbeit generell im wissenschaftlichen Komitee,
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und der Austausch mit vielen Personen aus anderen Kliniken und der Praxis sowie viele wissenschaftliche Präsentationen. Auch die Trendlectures waren alle sehr gut und sehr gut besucht, und sie haben die Fantasie und die Emotionen angeregt. Ich denke, das ist wichtig, denn ein Kongress ist ja eine Veranstaltung, die nicht nur Informationen weitertragen, sondern auch eine Stimmung entwickeln soll – und das habe ich am Kongress gespürt.
Wie war das Feedback aufseiten der Teilnehmer? Battegay: Wir hatten erfreuliche Teilnehmerzahlen, ein leichtes Plus im Vergleich zum Vorjahr. Ich denke, der Kongress war nicht nur aufgrund der Thematik ein Erfolg. Wir haben ihm auch eine neue transparentere Struktur gegeben, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch, die gut angekommen ist. Dabei haben wir uns bemüht, sowohl den Vortragenden als auch dem jeweiligen Publikum zu sagen, was an Information zu erwarten ist, das scheint sich bewährt zu haben. Die strukturierten Feedbacks sehen generell gut aus.
Welche Gebiete der Inneren Medizin sind im Moment besonders in Bewegung? Battegay: Natürlich haben wir in der Inneren Medizin einen beständigen Differenzierungsprozess mit kleinen und kleinsten Schritten. Aber es gibt auch grosse Entwicklungen, wie etwa mit den neuen Antikoagulanzien. Vieles tut sich auch im Bereich der Onkologie sowie der Biologika, mit denen es gelingt, entzündliche Prozesse zu kontrollieren, sowie bei den Devices. Eine der wichtigsten Entwicklungen aber, über die wir uns Gedanken machen müssen, ist die strukturierte Deeskalation. Das heisst, wie können wir so arbeiten, dass wir mit den verfügbaren Mitteln eine angemessene oder optimale Medizin erreichen? So wie die Forschungslandschaft momentan angelegt ist, arbeiten wir vor allem auf eine ständige Eskalation hin. Das macht mir Sorgen. Wir sollten Systeme finden, die die Leistung maximieren, aber auch Ärzten und Spitälern Möglichkeiten geben, angemessener zu agieren. Wir schauen in unseren Studien immer, was on top noch machbar ist. Das wird ja aus ethischen Gründen so verlangt, aber ob das immer auch im Sinn der älter werdenden Patienten ist, weiss ich nicht. Auch ist mir nicht klar, ob wir so die zweckmässigste Art der Patientenbetreuung finden können.
Wie könnte man denn hier anders herangehen? Battegay: Dieses Vorgehen ist der aktuellen Forschungslandschaft mit randomisierten Studien geschuldet. Vielleicht könnten wir hier andere Methodiken entwickeln beziehungsweise in Zukunft auch die vorhandene Datenfülle aus den verschiedensten Quellen mehr nutzen. Hier sind innovative Forschungsansätze und eine teilweise Umorientierung der Forschung gefragt.
Zum Beispiel wird in der Hypertonie kaum mehr mit Medikamenten geforscht, alles ist generisch, und mit neuen Medikamenten ist kompetitiv nicht mehr viel herauszuholen. Aber es gibt noch extrem viel herauszufinden zur Hypertonie, Fragen bleiben genug. Beim individuellen Patienten basiert vieles auf Versuch und Irrtum. Dennoch benötigen wir immer noch Studien, grosse wie kleinere, mit neuen Fragestellungen. Zum Beispiel unter Einbindung von Patienten, die bisher oft nicht in Studien aufgenommen wurden. Etwa eine Studie zu Patienten mit hohem Blutdruck und verschiedenen Formen von Schwindel, denn da gibt es praxisrelevante Fragestellungen. Hier haben wir extrem viele Multimorbiditätsaspekte, die noch wenig beforscht sind.
Neben Gesellschaften und Industrie waren auch Universitätskliniken wie Zürich und Bern mit eigenen Ständen vertreten. Was hat Sie dazu bewogen? Battegay: Das war für uns in dieser Form das erste Mal, aber wir werden wohl wieder dabei sein, die Resonanz war sehr gut. Ich denke, präsent zu sein, Inhalte der Fort- und Weiterbildung und der klinikeigenen Forschung transparent zu machen, ist von allgemeinem Interesse – zum Beispiel für frühere Kollegen oder andere Kliniken. Wie wird der Praxisnachfolger ausgebildet? Oder wie entstehen Oberärzte? Was geschieht in unserer Forschungsküche? Daneben gab es auch der Klinik einen Identifikationspunkt.
Auch die DRG waren Thema am Kongress mit der Frage, wo die Allgemeine Innere Medizin bleibt. Wie sehen die Schweizer Erfahrungen aus? Battegay: Die Innere Medizin ist sowohl im Tarmed als auch im DRG unterfinanziert, eigentlich ein Doppelschlag. Ich denke, die Gesellschaft wäre gut beraten, das zu ändern, wenn wir nicht eine Innere Medizin in reduziertem Masse haben wollen. Und das wäre keine grundsätzlich gute Entwicklung. Am Schluss ist es die demokratische Gesellschaft und sind es deren Repräsentanten, die sich überlegen müssen, was für Ärzte gebraucht werden. Es
Webcasts vom Jahreskongress
Etliche Veranstaltungen des diesjährigen Jahreskongresses wurden als Webcast aufgezeichnet. Online finden Sie zum Beispiel den Vortrag von Prof. Lutz Jänke «Entscheidungsfindung in komplexen Situationen», die Presidents Lecture «Impulse der Systembiologie für die Medizin» mit Prof. Ruedi Aebersold und erfahren von Prof. Gottfried Schatz in der Trendlecture Novartis «warum wir nicht Sklaven unserer Gene sind». Mehr unter: www.sgim.ch/veranstaltung/sgim-jahresversammlung/2013
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braucht da einen guten Mix und eine gute Balance. Gegenwärtig sind die Lanzen für Generalisten gegenüber den Spezialisten nicht gleich lang. Von anderen Ländern können wir bezüglich Strukturentwicklung letztlich nicht profitieren. Ausserdem dürfen wir das System nicht erschöpfen, es scheint mir manchmal, als sei es vor lauter Restrukturierung bereits angegriffen und ermüdet. Noch aber haben wir ein relativ gesundes System mit einer verhältnismässig sehr gesunden Bevölkerung, das allerdings auch relativ viel kostet.
Haben Sie eine Take Home Message, die Ihnen besonders am Herzen liegt? Battegay: Meiner Meinung nach ist die Allgemeine Innere Medizin eine Disziplin der Zukunft, aber ich bin nicht sicher, ob das alle merken. Ein Argument für die Allgemeine Innere Medizin ist die Multimorbidität. Immer weniger Ärzte trauen sich das «Generalistentum» zu. Die Allgemeine Innere Medizin ist einerseits eine Disziplin unter Druck, aber ich bin hundertprozentig überzeugt, dass es eine Disziplin der Zukunft ist. Ich spüre einen immensen Bedarf nach gut aus-
gebildeten und selbstbewussten, aber nicht überheblichen Generalisten im Spital und im ambulanten Bereich.
Müssen denn Allgemeininternisten alles können? Battegay: Unsere Patienten haben ein breites Spektrum an Problemen, mit denen sie sonst zu mehreren Ärzten gehen müssten, und das müsste dann immer noch koordiniert werden. Allgemeininternisten müssen besser überlegen, was sie können müssen und was nicht. Sie sind keine konglomerierten Superspezialisten, sondern eine eigene Disziplin, mit Kenntnissen, die andere Disziplinen nicht haben. Gäbe es sie nicht, müsste man sie jetzt akut erfinden.
Besten Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Christine Mücke.
Das neugegründete Kompetenzzentrum Multimorbidität der Universität Zürich widmet sich dem Aufbau von Forschungs- und Lehrstrukturen, mehr dazu online unter: www.multimorbidity.uzh.ch
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