Transkript
CongressSelection
Die adipöse Frau in der gynäkologischen Sprechstunde
Gewichtige Probleme auf verschiedenen Ebenen
Wenn es um die Gesundheit geht, kommt man am amerikanischen Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) nicht vorbei: «Wollen Sie gesund (und schlank) bleiben, dann sollten Sie essen und trinken, was Ihnen nicht schmeckt, und Dinge tun, die Ihnen keinen Spass machen.» Da die Adipositas inzwischen epidemische Ausmasse angenommen hat, müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um dieser Entwicklung gegenzusteuern.
P D Dr. Dorothea Wunder, Lausanne, vermittelte in ihrem Vortrag zu den gynäkologischen Aspekten der Adipositas zwei ganz wesentliche Botschaften. Erstens hat die Adipositas vielfältige Konsequenzen für die Fertilität und gilt als Risikofaktor in der Reproduktionsmedizin und Geburtshilfe. Und zweitens verlangt das krankhafte Übergewicht nach multidisziplinären Strategien.
Aktuelle Zahlen und Fakten aus der Epidemiologie
Von Übergewicht spricht man bei einem BMI zwischen 25 und 29,9 kg/m2 und von Adipositas (unterschiedliche Schweregrade) ab einen BMI > 30 kg/m2. Für die viszerale
Adipositas liegt der Cut-off für den Bauchumfang bei 88 cm (Frauen) respektive 102 cm (Männer). In den USA haben 51 Prozent der nicht schwangeren Frauen (20–39 Jahre) einen BMI > 25, bei 29 Prozent liegt er über 30 und bei immerhin 8 Prozent bei über 40 kg/m2. 64 Prozent der schwangeren Amerikanerinnen sind übergewichtig, und bei gut einem Drittel liegt der BMI über 30 kg/m2. Dorothea Wunder In Europa haben etwa 20 (bis 40) Prozent der Schwangeren einen BMI > 30 kg/m2. Die allgemeinen gesundheitlichen Konsequenzen der Adipositas betreffen in erster Linie das kardio- und zerebrovaskuläre sowie das metabolische System. Ausserdem ist das Risiko für Krebserkrankungen, degenerative Gelenkerkrankungen und die Schlafapnoe erhöht.
Wenn das Wunschkind auf sich warten lässt
Wunder verwies auf komplexe Interaktionen zwischen physiologischen, soziobiologischen und psychosozialen Faktoren bei adipösen Frauen im gebärfähigen Alter. Die
Konsequenzen: verminderte Rate an Spontankonzeptionen, schlechtere Eizellqualität und eine Zunahme der Dysund Anovulation. Bei den adipösen Männern sieht es nicht besser aus, pathologische Hormonbefunde und Spermiogramme sowie die erektile Dysfunktion sind an der Tagesordnung. In der (assistierten) Reproduktionsmedizin sind eine schlechtere Eizell- und Embryoqualität sowie eine geringere Fertilisierungs- und Implantationsrate bei adipösen Frauen beschrieben. Darüber hinaus ist die Fehlgeburtenrate (sogar nach Eizellspende) um den Faktor 4 erhöht und die Rate an Lebendgeburten nach IVF erniedrigt.
Adipositas und Komplikationen in der Schwangerschaft
Bei adipösen Schwangeren ist das Risiko erhöht, eine Schwangerschaftshypertonie (OR ~4,9), eine Präeklampsie (OR ~2,1) oder einen Gestationsdiabetes (OR ~3,6) zu entwickeln. Es kommt vermehrt zur intrauterinen Wachstumsretardierung, die Sectiorate steigt, und es muss mit vermehrten postpartalen Komplikationen (Blutungen, Wundinfektionen, Thromboembolien) gerechnet werden. Adipöse Frauen neigen zu Anästhesiekomplikationen und sind länger hospitalisiert. Besonders gravierend ist die erhöhte mütterliche Mortalität: 18 Prozent der geburtshilflichen Ursachen der Mortalität und 80 Prozent (!) der anästhesiologischen Ursachen der Mortalität gehen zulasten der Adipositas.
Kinder schwerer Mütter haben keinen leichten Start ins Leben
Neugeborene von Müttern mit einem BMI > 30 kg/m2 sind mit einem erhöhten Risiko für Fehlbildungen wie Neuralrohrdefekte (80% ↑), für Hydrozephalus, Omphalozele und kongenitale Herzfehler (30% ↑) belastet, sie sind einem vermehrten intrauterinen Stress ausgesetzt, und
22 Gynäkologie SGGG 2013
CongressSelection
häufig liegt eine Makrosomie (> 4500 g) vor. Als weitere mögliche Komplikationen erwähnte Wunder das Polyhydramnion, die Schulterdystokie, die Hypoglykämie, den Ikterus und die Mekoniumaspiration.
An guten Gründen für eine Gewichtsabnahme fehlt es nicht
Abschliessend befasste sich Wunder mit der Gewichtsreduktion, einer frustrationsträchtigen Angelegenheit. Die Überweisung an ein Adipositaszentrum scheiterte bei 52 Prozent der Adipösen daran, dass sie den Termin gar nicht erst wahrgenommen haben. Von den verbleibenden 48 Prozent wussten 35 Prozent nicht, weshalb sie überwiesen wurden, und 80 Prozent waren nicht motiviert, Gewicht abzunehmen. Diese Unbeirrbarkeit und Unbelehrbarkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei 55 Prozent der Kandidaten für eine Gewichtsreduktion eine mässige bis schwere Depression vorliegt, 35 Prozent leiden unter Angstzuständen, und bei 34 Prozent besteht eine Phobie. Wenn es gelungen ist, einen Motivationsschub auszulösen, sollte man in einem ersten Schritt mit Lifestyleinterventionen beginnen (Ernährung plus körperliche Aktivität). Mit realistischen Zielen erreicht man mehr als mit unrealistischer Erwartungshaltung: Eine Reduktion des Körpergewichts um lediglich 5 Prozent ist mit einer Reduktion des viszeralen Fetts um 30 Prozent verbunden. Ein Gewichtsverlust von 6,3 kg (auch wenn der BMI > 30 kg/m2 bleibt) führte in einer kleinen Studie bei 90 Prozent der anovulatorischen Frauen zur Spontanovulation, verbunden mit günstigerem SchwangerschaftsOutcome, Verbesserung der endokrinologischen Parameter und erhöhtem Selbstwertgefühl. Es lohnt sich also dranzubleiben.
Renate Weber
Quelle: «Adipositas, ein Risikofaktor in der Reproduktionsmedizin», Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG), 27. bis 29. Juni 2013, in Lugano.
SGGG 2013 Gynäkologie 23