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Die Therapie des LUTS kommt in Bewegung
Wo steht die Therapie der benignen Prostatahyperplasie beziehungsweise des Lower Urinary Tract Syndroms (LUTS) heute? Diese Frage wurde in einer Reihe von Vorträgen im Rahmen des EAU-Kongresses in Mailand gestellt und von international führenden Experten beantwortet.
L UTS und BPH dürfen nicht gleichgesetzt werden, zumal LUTS mit annähernd gleicher Inzidenz auch bei Frauen auftritt und auch Störungen wie Drang und Dranginkontinenz umfasst. Dies führt zur empirischen Diagnose der überaktiven Blase (OAB). Diese ist definiert durch Drang, häufig, aber nicht immer in Verbindung mit Dranginkontinenz, sowie – ebenfalls nicht zwingend – erhöhter Miktionsfrequenz und Nykturie (1). «Wir haben gelernt, dass Detrusorüberaktivität nicht mit überaktiver Blase gleichzusetzen ist. Nur rund die Hälfte der Frauen mit OAB haben einen überaktiven Detrusor, bei den Männern ist die Korrelation ausgeprägter», sagt Prof. Dr. Christopher Chapple von der britischen Sheffield Hallam University. Bei Männern kommt das weite Feld der «Prostatabeschwerden» im Sinne einer benignen Prostatahyperplasie hinzu. Die Schwäche dieses Terminus ist sein Mangel an Präzision. Chapple: «Es handelt sich eigentlich um eine histologische Diagnose. Dazu kommen dann die Vergrösserung des Organs, LUTS und unter Umständen eine Obstruktion des Blasenausgangs. Es gibt also keinen klaren Konsens, was wir meinen, wenn wir von BPH sprechen.» Vielfältig sind auch die Symptome, die sowohl in Richtung einer Obstruktion als auch von Miktionsbeschwerden gehen können. Die EAU-Guidelines sehen für LUTS des Mannes eine differenzierte medikamentöse Therapie vor, bei der Alpha-1-Rezeptorblocker, 5-Alpha-Reduktase-Inhibitoren, Antimuskarinika und Desmopressin in Abhängigkeit von der Symptomatik zum Einsatz kommen können (2).
OAB: Neuer Wirkmechanismus
Die aktuellen Entwicklungen in der Behandlung dieser Symptomkomplexe müssen im Kontext der jüngeren Einsichten in die Funktion des Urothels gesehen werden, wie Chapple betont. Dieses würde nun als komplexer Bestandteil der Blase gesehen, der mehr Einfluss auf die Miktion haben kann als der Detrusor. Mit Mirabegron* ist seit Kurzem in der EU eine neue Substanz zur Behandlung der überaktiven Blase zuge lassen.
*in der Schweiz noch nicht zugelassen
Mirabegron ist ein Beta-3-Adrenorezeptoragonist. Die Rationale seines Einsatzes liegt in der Bedeutung von Beta3-Rezeptoren für die Detrusoraktivität. Beta-3-Rezeptoren machen rund 97 Prozent der Betarezeptoren in der Blase aus (3). Beta-3-Adrenorezeptoragonisten sollen, so die Hypothese, einerseits zu einer Abnahme des Detrusortonus, andererseits aber auch zur Freisetzung von NO aus dem Urothel und zur Inhibition von C-Fasern führen. Das klinische Entwicklungsprogramm kann mit 41 Studien und mehr als 10 000 Patienten als ambitioniert bezeichnet werden. In den Phase-III-Studien wurde die Substanz nicht nur gegen Plazebo, sondern auch gegen das Antimuskarinikum Tolterodin ER getestet. In der europäischen Phase-III-Studie erwies sich Mirabegron im Vergleich zu Plazebo hinsichtlich der Reduktion von Inkontinenzepisoden als signifikant überlegen. Auch die Zahl der Miktionen innerhalb von 24 Stunden war darunter signifikant reduziert (4). Im Tolterodinarm dieser Studie wurden keine signifikanten Unterschiede zur Plazebogruppe gesehen. Chapple: «Die Studie war nicht für einen Vergleich der aktiven Arme gepowert, aber man kann sagen, dass Mirabegron mindestens so wirksam war wie Tolterodin. Auch hinsichtlich sekundärer Endpunkte wie der Reduktion der Drangepisoden oder der Patientenzufriedenheit schnitt es zumindest so gut ab wie Tolterodin.» Die Inzidenz von Nebenwirkungen bewegte sich in der Mirabegrongruppe auf Plazeboniveau, während in der Tolterodingruppe 10,1 Prozent der Patienten unter Mundtrockenheit litten. Die gute Verträglichkeit blieb auch in einer Langzeitstudie über 52 Wochen erhalten. Es wurden keine kardiovaskulären Nebenwirkungen gefunden (5). Chapple: «Post-hoc-Analysen zeigen, dass auch Patienten, die zuvor auf ein Antimuskarinikum nicht angesprochen haben, mit Mirabegron gute Ergebnisse erreichen.»
PDE-5-Inhibitor für die Prostata
PD Dr. Matthias Oelke von der Medizinischen Hochschule Hannover weist auf die häufige Vergesellschaftung von LUTS mit erektiler Dysfunktion hin (6). Diese sowie pathophysiologische Zusammenhänge legen den Einsatz eines PDE-5-Inhibitors auch in der Indikation LUTS nahe.
16 Urologie EAU 2013
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Aufgrund seiner langen Halbwertszeit von 171/2 Stunden und der Möglichkeit einer einmal täglichen Einnahme erschien aus dieser Gruppe nur Tadalafil geeignet. In einem Programm aus Phase-II- und -III-Studien mit mehr als 4000 Patienten wurde der PDE-5-Inhibitor in der Indikation BPH/LUTS untersucht. Die Dosisfindungsstudie wies 5 mg einmal täglich als ideal aus. Höhere Dosierungen brachten keinen zusätzlichen Vorteil, während mit einer niedrigeren Dosierung (2,5 mg/Tag) eine geringere Wirkung auf die Prostatasymptomatik, gemessen mittels International Prostate Symptom Score (IPSS), und vor allem keine Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden konnte (7). Eine offene Extension dieser Studie über 12 Monate zeigte eine anhaltende Verbesserung der LUTSSymptomatik unter Tadalafil. Oelke: «Standard in der Therapie von BPH/LUTS sind Alphablocker, also wurde Tadalafil auch mit dem etablierten Alphablocker Tamsulosin verglichen. Die Studie war zwar nicht für diesen Vergleich gepowert, die Effekte können jedoch abgeschätzt werden.» Tadalafil und Tamsulosin verbesserten BPH/LUTS signifikant ab der 1. Woche, und das in vergleichbarem Ausmass. Erwartungsgemäss wirkte Tadalafil jedoch auch auf eine möglicherweise bestehende erektile Dysfunktion; Tamsulosin tat dies, ebenso erwartungsgemäss, nicht. Die Verbesserung des LUTS war jedoch unabhängig von der erektilen Funktion (8). Oelke: «Wenn wir die einzelnen Studien des Programms betrachten, so sehen wir in allen Studien eine konsistente Wirksamkeit von Tadalafil 5 mg, einmal täglich. Die Nebenwirkungen waren leicht und relativ selten. Am häufigsten traten Kopfschmerzen, Dyspepsie und Myalgie auf.»
Botulinumtoxin: Wirkt es oder wirkt es nicht?
Eine seit relativ kurzer Zeit zugelassene Option in der Therapie der überaktiven Blase ist die Injektion von Botulinumtoxin in den Detrusor. Von den sieben Serotypen von Botulinumtoxin wird in der Urologie nur Typ A eingesetzt. Von den unterschiedlichen verfügbaren Präparaten ist nur Onabotulinumtoxin A in der Urologie zugelassen. «Die klassische Annahme war, dass Botulinumtoxin nur an der efferenten Seite wirkt und eine vorübergehende Denervation des Detrusors verursacht. Mittlerweile haben wir jedoch gelernt, dass auch afferente Nerven betroffen sind. Der genaue Mechanismus der Wirkung ist jedoch nicht bekannt», sagt PD Dr. Thomas Matthias Kessler von der Uniklinik Balgrist in Zürich. Die Wirksamkeit konnte in mehreren Studien und Reviews nachgewiesen werden, die zur Zulassung in Europa und den USA bei der neurogenen und der idiopathischen, therapieresistenten überaktiven Blase geführt haben. Kessler: «Eine entscheidende Entwicklung war der Einsatz eines flexiblen statt des steifen Zystoskops. Botulinumtoxin wird direkt in den Detrusor injiziert, wobei das Trigonum ausgelassen wird, um Refluxprobleme zu verhindern – obwohl Studien gezeigt ha-
ben, dass diese Vorsichtsmassnahme gar nicht notwendig wäre.» Die empfohlenen Dosierungen liegen bei 100 Einheiten für die idiopathische und 200 Einheiten für die neurogene OAB. Kessler: «Wir haben es mit einer minimalinvasiven, hocheffektiven Methode zu tun, zu der es allerdings noch eine Reihe offener Fragen gibt. Wir kennen die ideale Zahl und Lokalisation der Injektionen nicht, ebenso wenig die ideale Verdünnung. Und wir haben keine Daten zu Kombinationstherapien.» Einen Beitrag zur Motivation junger Forscher und Kliniker, sich diesem Thema anzunehmen, soll der mit 10 000 Franken dotierte Swiss Continence Foundation Award liefern. Dem hält Dr. Mark Speakman vom britischen Musgrove Park Hospital eine aktuelle Studie entgegen, die bei Injektion in den Detrusor keine Unterschiede zwischen Botulinumtoxin und Plazebo, dafür aber einen extrem ausgeprägten Plazeboeffekt zeigt. Nur in Post-hoc-Subgruppenanalysen konnte die Überlegenheit der aktiven Therapie gezeigt werden (9). Die Forschung zu den Beschwerden und Erkrankungen des unteren Harntraktes wird bei den erwähnten Substanzen jedoch nicht haltmachen. So werden gegenwärtig verschiedene Toxine wie zum Beispiel Cobratoxin zur Detrusorinjektion gesucht.
Neue Kombinationsmöglichkeiten
Ein wichtiger nächster Schritt wird die Evaluation von Kombinationstherapien sein. Wobei sich durch die neuen Substanzen auch neue Kombinationsmöglichkeiten ergeben. In dieser Hinsicht verweist Speakman auf ein im Rahmen des EAU 2013 präsentiertes Poster, das zeigte, dass Tadalafil auch vor dem Hintergrund einer Finasteridtherapie wirksam ist. Im Vergleich zu Finasterid/Plazebo wurde mit Finasterid/Tadalafil 5 mg pro Tag eine weitere Reduktion der BPH/LUTS-Beschwerden nach 4, 12 und 26 Wochen Therapie erreicht (10). Speakman: «Diese Kombination ist wirklich sinnvoll und wird in Zukunft wohl häufiger eingesetzt werden.»
Reno Barth
Referenzen: 1. Abrams P et al. Neurourol Urodyn 2002; 21: 167–178. 2. Oelke M et al. EAU Guidelines on Male LUTS, Update February 2012. 3. Yamaguchi O. 3-adrenoceptors in human detrusor muscle. Urology 2002; 59 (suppl): 25–29. 4. Eur Urol. 2013 Feb; 63 (2): 283–295. 5. Chapple CR et al. Euro Urol 2013; 63: 296–305. 6. Rosen RC et al. Eur Urol 2003; 44: 637–649. 7. Roehrborn et al. J Urol 2008; 180 (4): 1228–1234. 8. Oelke M et al. Eur Urol 2012; 61 (5): 917–925. 9. Marberger M et al. Eur Urol. 2013; 63 (3): 496–503. 10. Roehrborn G et al. Poster 1096, 28. EAU-Kongress 2013, Mailand.
Quelle: Debatte: «What the practising urologist needs to know about new therapies for LUTS. When, where and how do they work?» im Rahmen der Plenarsitzung des EAU-Kongresses am 18. März 2013 in Mailand.
EAU 2013 Urologie 17