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BERICHT
«Wir erhalten nicht genug Unterstützung»
Roundtable zur Versorgung von Hirnschlagpatienten in der Schweiz
«Zeit ist Hirn», die Mahnung im Zusammenhang mit der unmittelbaren Versorgung von Patienten mit Hirnschlagereignissen ist wohl bekannt, wird aber noch immer nicht überall in der Schweiz als dringende, sehr ernst gemeinte Aufforderung zur Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur verstanden. In Deutschland ist man schon weiter.
HALID BAS
Zwar ist in der Schweiz beim Ausbau der Versorgung von Patienten mit Hirnschlag in den letzten Dekaden doch einiges in Gang gekommen, wirklich befriedigend ist die derzeitige Situation aber nicht, was auch ein wichtiger Grund war, dem Thema Stroke am ersten Kongress der zusammengeschlossenen Schweizer Neurogesellschaften in Basel breiten Raum zu geben. «Für unsere Anliegen erhalten wir noch nicht genug Unterstützung von Spitaldirektoren, Kostenträgern und Behörden», bilanzierte Professor Claudio Bassetti, Lugano. Zahlen können das Leid nicht fassen, geben aber Anhaltspunkte für die Grösse des medizinischen (und gesundheitspolitischen) Problems. Bassetti nannte für die Schweiz 13 000 Betroffene pro Jahr (also etwa 35 pro Tag). In 50 Prozent resultiert eine Behinderung, Stroke ist im Erwachsenenalter die häufigste Behinderungsursache. Die Sterblichkeit beträgt 25 Prozent. Die Kosten pro Strokepatient belaufen sich auf 30 000 bis 80 000 Franken. «Heute erhält weniger als ein Drittel der Schweizer Patienten eine ‹State of the Art›-Versorgung in multidisziplinären Stroke
Units oder Stroke Teams», so Bassetti. Dies wäre jedoch sehr wichtig, wie ein Blick auf die Effektivität der Therapie, gemessen an der «Number needed to treat» (NNT), um das Schicksal eines Patienten entscheidend zu beeinflussen, zeigt: Für die intravenöse Thrombolyse beträgt die NNT 16, für die Behandlung in einer Stroke Unit 18 und für die Verabreichung von Aspirin 83. Nach einer Cochrane-Untersuchung zur Effektivität der Stroke Unit ist diese bei Männern wie bei Frauen gegeben, ebenso auch bei älteren Patienten (≥ 75 J.) und vor allem auch bei schwerem Stroke. Eine bestmögliche Therapie sollte also akut in einer Stroke Unit erfolgen, mit direktem Übergang in die Rehabilitation, denn: «Die Rehabilitation beginnt am ersten Tag.»
Stroke Unit stellt hohe Anforderungen An eine Stroke Unit würden hohe Anforderungen gestellt, erklärte Professor Philippe Lyrer, Basel. Sie muss die notfallmässige Behandlung durch einen Stroke-Neurologen ebenso wie die Intensivüberwachung und die Durchführung einer Thrombolyse während 24 Stunden pro Tag und 7 Tagen pro
1st Congress: Swiss Federation of Clinical Neuro-Societies (SFCNS)*
Basel, 2.—4. Juni 2010
Roundtable Diskussion: «Stroke 2010 — Diagnose und Therapie»
Teilnehmer waren: Prof. Dr. med Claudio Bassetti, Präsident der SFCNS und der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft, Direttore del Neurocentro (EOC) della Svizzera italiana, Lugano Prof. Dr. med. Philippe Lyrer, Präsident der Schweizer Hirnschlaggesellschaft SHG, Universitätsspital Basel, Neurologische Klinik/Stroke Unit, Leitender Arzt Prof. Dr. med. René Müri, Präsident Schweizerische Gesellschaft für Neurorehabilitation, Inselpsital Bern, Abteilung für kognitive und restorative Neurologie, Abteilungsleiter Prof. Dr. med. Otto Busse, Generalsekretär der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) und der Deutschen Gesellschaft für Neurointensivund Notfallmedizin (DGN), Berlin Prof. Dr. med. Gerhard Schroth, Inselspital Bern, Direktor Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie Prof. Dr. med. Gerhard Hildebrandt, Vorstandsmitglied SFCNS, Kantonsspital St. Gallen, Chefarzt Neurochirurgie
Und als von Stroke Betroffene: Jörg Ackermann, Frauenfeld Dr. med. Vital Hauser, FMH Neurologie, Zürich
Die Moderation besorgte Nicole Westenfelder, Redaktorin der Sendung «Puls» auf SFDRS.
* Die SFNCS ist ein Zusammenschluss der Schweizerischen Gesellschaften für Neurologie, Neurochirurgie, Neurophysiologie, Neuropädiatrie, Neuroradiologie und Neuropathologie.
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Die Roundtable-Teilnehmer, von links: René Müri, Jörg Ackermann, Vital Hauser, Gerhard Hildebrandt, Claudio Bassetti, Gerhard Schroth, Philippe Lyrer, Otto Busse. Stehend die Moderatorin Nicole Westenfelder.
Woche gewährleisten. Die Guidelines der Schweizerischen Hirnschlag-Gesellschaft (SHG) postulieren als Profil einer
es in 11 Kantonen Zentren mit Stroke Units oder mindestens mit konzeptualisierten Behandlungsalgorithmen. «Al-
«Für unsere Anliegen erhalten wir noch nicht genug Unterstützung von Spitaldirektoren, Kostenträgern und Behörden.»
Stroke Unit: «Definierter Behandlungsort und Behandlungsalgorithmus, die eine umfassende Diagnose, Überwachung und Therapie bei akuten Hirnschlagpatienten durch geschultes Personal in nützlicher Zeit gewährleisten und Massnahmen zur Rehabilitation ermöglichen». Diese Ansprüche lassen sich nicht ohne Weiteres in die Praxis umsetzen. «Was ist mit nützlicher Zeit denn heute gemeint?», fragte die Moderatorin Nicole Westenfelder. «Diesen Zeitraum sehen wir als bis zu 6 Stunden, da danach der Effekt von Behandlungsmassnahmen drastisch abnimmt», präzisierte Professor Lyrer. Für die praktische Organisation ist wichtig, dass zwar die meisten Stroke-Patienten am Morgen kommen, mit einer zweiten kleinen Spitze am Nachmittag, dass solche Zuweisungen sonst also nur selten erfolgen, die Stroke Unit aber doch im 24-StundenBetrieb laufen muss. Auf der praktischen Ebene sind die Lösungsansätze in der Schweiz noch uneinheitlich, was sich auch in unterschiedlichen Organisationsformen («Stroke Team», «designierte Stroke Unit») niederschlägt. Zurzeit gibt
lerdings ist die Verteilung nicht homogen, und vor allem das Bewusstsein in der Bevölkerung ist noch nicht ausreichend», wie Lyrer anmerkte. In die heutigen Betreuungseinheiten werden etwa 4600 Patienten aus dem Einzugsgebiet eingewiesen, und zirka 3300 erhalten eine spezifische Behandlung. Widerstände gegen die Einrichtung von Stroke Units dürften unter Kostengesichtspunkten falsch sein. In einer Erhebung aus Basel betrugen die Spitalkosten ohne Rehabilitation 12 000 bis 18 000 Franken. Untersuchungen aus Schweden, Deutschland oder den USA deuten darauf hin, dass die Akutbehandlung in einer Stroke Unit im Vergleich zu einer Nicht-StrokeUnit eher etwas günstiger ausfällt, wobei die Kosten in jedem Fall mit dem Schweregrad des Hirnschlags ansteigen. Für die Gesamtkosten nach einem solchen Ereignis fallen vor allem auch die Rehabilitationskosten ins Gewicht. Bisherige Studienergebnisse lassen nur den einen Schluss zu: «Eine frühe wirksame Therapie senkt die Folgekosten infolge verminderter Behinderung im Spital und im Verlauf», so Lyrer.
Multidisziplinäres Team Die Betreuung von Menschen mit Hirnschlag ist in jedem Fall ein multidisziplinäres Unterfangen, und dies von Anfang an, unter grossem Zeitdruck und sowohl für ärztliches wie nichtärztliches Personal, wie Professor Gerhard Schroth, Bern, feststellte. Dies muss nicht im selben Spital stattfinden, sondern es sind engmaschige Netzwerke, etwa zwischen Peripherie und grossem Zentrum, zu knüpfen. Zunächst ist der Neurologe für die rasche Diagnose und den Ausschluss von Differenzialdiagnosen sowie die Anordnung weiterer Abklärungen zuständig. Dies muss in einem ruhigen, möglichst stressfreien Klima geschehen. Dann muss in einem sehr engen therapeutischen Zeitfenster eine Bildgebung (CT, MRI) durch den Neuroradiologen erfolgen, der sich die Einleitung von Therapiemassnahmen (z.B. i.v.-Thrombolyse, intraarterieller Eingriff, Dekompression durch den Neurochirurgen) anschliesst. «Für die Rehabilitation ist eine individuelle Therapieplanung ausschlaggebend», betonte Professor René Müri, Bern, «und in meinen Augen besonders wichtig ist die Wahrung der Kontinuität.» Gerade dafür gebe es jedoch zu wenig Neurorehabilitationskliniken. Für eine erfolgreiche Rehabilitation sollte beispielsweise die Rückverlegung aus der Stroke Unit in die Akutabteilung eines kleinen Spitals bis zum Freiwerden eines Neurorehabilitationsplatzes vermieden werden. Die Planung der Rehabilitation hat daher schon ganz am Anfang zu erfolgen.
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«Eigentlich sind wir Neurochirurgen schon seit Langem in der Behandlung des Hirnschlags involviert, bleiben aber eher im Hintergrund», stellte Professor Gerhard Hildebrandt, St. Gallen, fest. Umso mehr freue er sich, dass jetzt auch
Präsenz von Neurologen sowie besserer Dotierung mit und Ausbildung von Pflegepersonal. Diesen Versorgungseinheiten steht auch die ganze Palette therapeutischer Möglichkeiten (Lyse, Dekompression, Hypothermie, interventionelle
«Heute erhält weniger als ein Drittel der Schweizer Patienten eine ‹State of the Art›-Versorgung.»
die Neurochirurgen in die Konzepte einbezogen würden und dass ihre Rolle in den ausgewählten Stroke-Fällen, die ein neurochirurgisches Eingreifen erfordern (z.B. Dekompression bei massivem Hirnödem, hämorrhagische Insulte, Gefässmissbildungen), Anerkennung findet.
«Zertifizierte» Stroke Units? «Etwa 60 Prozent aller akuten Schlaganfallpatienten werden heute bei uns in Kliniken mit zertifizierten Stroke Units behandelt», sagte Professor Otto Busse, Berlin, bei der Schilderung der deutschen Stroke-Unit-Bewegung, die dort schon seit 15 Jahren aktiv ist. «Nicht jeder Schlaganfallpatient muss aber in eine Stroke Unit, man muss bei der Aufnahme eine Risikostratifizierung vornehmen.» Neben den zertifizierten Stroke Units gibt es auch noch Kliniken mit nicht zertifizierter Stroke Unit sowie weitere Abteilungen, die ebenfalls Schlaganfälle aufnehmen. Noch gebe es aber mit Stroke Units unterversorgte Landstriche in deutschen Flächenstaaten, und dort spiele auch die Telemedizin eine gewisse Rolle. Sie könne aber Stroke Units nicht ersetzen. Für die über 250 regionalen Stroke Units gelten als Zertifizierungskriterien neben einer Mindestzahl von 16 Lysen: ■ neurologische Leitung oder internis-
tische Leitung («die neurologischen Sachverstand einbezieht») ■ 2 neurologische Fachärzte im Haus in Rufbereitschaft ■ 1,5 Pflegestellen pro Bett.
Für die über 450 überregionalen Stroke Units sind die Anforderungen höher mit neurologischer Leitung und 24-Stunden-
Therapie, Neurochirurgie, neurologische Intensivmedizin, spezifisches Neuromonitoring) zur Verfügung. Das Monitoring von Vitalfunktionen sei äusserst kontrovers diskutiert worden, da es nicht ohne Weiteres evidenzbasiert sei. Insbesondere im britischen und skandinavischen Bereich, wo Stroke Units schon länger bestehen, halte man ein solches Monitoring nicht für zwingend erforderlich. In Deutschland habe sich aber die Auffassung durchgesetzt, dass die Vitalfunktionen in der Akutphase eng überwacht werden müssen, da die Patienten dann sehr oft instabil sind. Weshalb eine Zertifizierung für Stroke Units? Hierfür nannte Otto Busse drei Gründe: ■ Gewährleistung definierter Standards
für Patienten, Kostenträger und Gesundheitspolitik ■ Abgrenzung gegenüber «anderer» Schlaganfallversorgung ■ Hilfestellung für die Abrechnung nach DRG (Diagnosis Related Groups).
«Eine frühe wirksame
Therapie senkt die
Folgekosten infolge ver-
minderter Behinderung im
Spital und im Verlauf.»
Gerade die Einführung der DRG in Deutschland habe der Etablierung und Verbreitung zertifizierter Stroke Units sehr geholfen, so Busse. Zurzeit werde die Schlaganfallbehandlung gut bezahlt, was zu einer Inflation von Betten führe, da die Verwaltungsdirektoren von Spitä-
lern hier eine gute Quelle für Einkünfte sehen. Dies könnte auf Dauer aber zu einer Minderung des Vergütungswerts führen. Hier kann die Zertifizierung ein Gegengewicht bilden. Allerdings sei problematisch, dass die Zertifizierung derzeit ohne politisches Mandat durch Krankenkassen oder Ministerien und daher aus Sponsoringmitteln erfolge.
Stroke Unit als Beginn
der Rehabilitation
In der Diskussion zeigte sich, dass die
Schweizer Neurologen mit einem gewis-
sen Neid auf den Organisationsgrad bei
den deutschen Stroke Units schauen,
dass sich dieser aber naturgemäss
nicht auf unsere in 26 Gesundheits-
wesen fragmentierten Verhältnisse über-
tragen lässt, wie zum Beispiel Professor
Lyrer kommentierte.
In der Schlussdiskussion plädierten die
beiden als betroffene Patienten gelade-
nen Roundtable-Teilnehmer energisch
dafür, nicht nur die Gesundheitskosten
zu betrachten, sondern auch eine volks-
wirtschaftliche Vollrechnung zu erstel-
len. Ausserdem gelte es, über die Stroke
Units hinaus den Blick auch auf die
Rehabilitation zu richten. Hier sei der
Kampf mit Krankenkassen und Vertrau-
ensärzten das tägliche Brot. Dem pflich-
tete Professor Busse bei, nannte aber die
Stroke Units explizit «den Ausgangs-
punkt zur Knüpfung des Versorgungs-
netzes».
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