Transkript
FORTBILDUNG
Häufige psychiatrische Notfallsituationen
Welche Symptome erfordern sofortiges Handeln?
Ein psychiatrischer Notfall definiert sich nicht durch das Krankheitsbild, dem er zugrunde liegt, sondern durch die Situation und die Symptomatik. Wenn eine psychiatrische Störung in eine akute Eskalation mündet, die den Betroffenen selbst oder seine Umgebung gefährdet, besteht eine Notfallsituation, die sofortiges Handeln erfordert. Beispiele sind ein Erregungszustand, eine Alkoholintoxikation oder eine Bewusstseinsstörung.
Arnim Quante
Ein psychiatrischer Notfall ist nach Pajonk (1) eine medizinische Situation, in der das akute Auftreten oder die Exazerbation einer bestehenden psychiatrischen Störung zu einer unmittelbaren Gefährdung von Leben und Gesundheit des Betroffenen und/oder seiner Umgebung führt und sofortiger Diagnostik und/oder Therapie bedarf (2). Bis zu 14,7 Prozent aller Notarzteinsätze sind auf psychiatrische Notfälle zurückzuführen, welche damit die zweit- bis vierthäufigste Einsatzursache für den Notarzt darstellen (3). Die häufigsten Einsätze wurden aufgrund von Alkoholintoxikationen (bis zu 43%), Erregungszuständen (bis zu 30%) und aufgrund von Suizidalität (bis zu 25%) gefahren (4) und sind in der Regel fremdmotiviert initiiert.
maligne neuroleptische Syndrom (MNS) oder schwere extrapyramidale Nebenwirkungen (EPS), werden zu diesen Notfällen gezählt. Letztlich kann aber auch bei jeder anderen psychischen Störung ein akut handlungsbedürftiger Zustand entstehen, wie etwa bei subjektiv erlebten Todesängsten im Rahmen einer Panikstörung oder Dissoziation im Zusammenhang mit einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Persönlichkeitsstörung. Nachfolgend werden einzelne Syndrome dargestellt, die am häufigsten als Notfall deklariert werden: Bewusstseinsstörungen, akute Erregungszustände und Suizidalität. Dabei sind die Übergänge insbesondere bei den beiden erstgenannten Syndromen fliessend.
Eskalation kommt oft unerwartet
Die im Kasten 1 geschilderte Kasuistik soll beispielhaft zeigen, dass eine zunächst als ungefährlich einzustufende Situation rasch zu einer Eskalation mit Fremdgefährdung führen kann. Insbesondere können wahnhafte Syndrome unter anderem eine ausgeprägte Angstsymptomatik auslösen, welche dann ein (aggressives) Abwehrverhalten des Patienten zur Folge haben kann. Wahnhafte/schizophreniforme Störungen, aber auch Intoxikationen, Delirien oder manische Episoden (mit oder ohne Wahn) können zu raptusartiger Gewalt führen und gelten als psychiatrischer Notfall. Auch akute Suizidalität, Verkennungen im Rahmen von Demenzen und schwere Nebenwirkungen von psychotropen Medikamenten, wie das
MERKSÄTZE
� Ein psychiatrischer Notfall bedarf sofortiger Diagnostik und Therapie.
� Am häufigsten sind Alkoholintoxikationen, Erregungszustände und Suizidalität.
� Eine Katatonie kann schnell in eine Erregung wechseln.
Bewusstseinsstörungen
Bewusstseinsstörungen werden in quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen unterteilt. Eine quantitative Bewusstseinsstörung liegt bei einer verminderten Vigilanz vor und kann mittels der Glasgow-Coma-Skala (GCS) ermittelt werden. Eine verminderte Vigilanz kann beispielsweise bei Intoxikationen, aber auch bei deliranten Syndromen auftreten. Die qualitative Bewusstseinsstörung beschreibt bei erhaltener Vigilanz eine Minderung der Bewusstseinsklarheit. So kann beispielsweise der Genuss von Alkohol, auch schon in niedrigen Dosen, zu einer Bewusstseinstrübung führen. Weitere qualitative Bewusstseinsstörungen sind Einengung (z. B. Fixierung auf ein Erlebnis mit fehlender Reaktion auf Ansprache) und Verschiebung (wie z. B. ein Trance-Erlebnis nach Drogeneinnahme). Quantitative Bewusstseinsstörungen findet man also häufig bei Alkohol-/Drogenkonsum; sie können aber auch im Rahmen von neurologischen Erkrankungen, wie zum Beispiel einer Epilepsie, auftreten. Zudem sind sie ein Kernsymptom bei Delirien.
Delirien
Nach ICD-10 ist das Delir gekennzeichnet durch (5): s fluktuierende Störung des Bewusstseins und der Aufmerk-
samkeit
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Kasten 1:
Kasuistik – von der Katatonie zum Erregungszustand
Eine 21-jährige Patientin kommt in Begleitung ihrer Mutter in die Hausarztpraxis. Die Patientin zeigt sich angespannt, spricht jedoch zunächst nicht. Die Mutter schildert, dass sie sich seit einigen Tagen «merkwürdig» verhalte, da sie weder ans Telefon gehe noch die Tür aufmache, wenn sie bei ihr klingele. Nach Angaben der Mutter sei ihre Tochter extrem misstrauisch, ängstlich und habe sich seit Tagen nicht mehr auf die Strasse getraut. Sie spreche kaum, esse und trinke sehr wenig. Als eine Blutentnahme erfolgen sollte, kommt es plötzlich zu einem raptusartigen Erregungszustand. Die junge Frau stösst den Arzt weg und wirft mit Gegenständen. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, wird die Patientin kurzzeitig im Raum alleingelassen und die Tür zugesperrt sowie die Polizei gerufen. Die Patientin lässt sich daraufhin dazu bewegen, 1 mg Lorazepam oral einzunehmen. Polizei und Feuerwehr können sie anschliessend problemlos in die zuständige Klinik bringen, wo eine weitere Diagnostik eingeleitet werden kann. Nach psychiatrischem Konsil erfolgt die Aufnahme in die psychiatrische Abteilung mit der Verdachtsdiagnose einer drogeninduzierten Psychose (Differenzialdiagnose: paranoide Schizophrenie/katatone Schizophrenie).
s globale Störung der Kognition s Wahrnehmungsstörungen, Illusionen und Halluzinationen
(meist optisch) s Beeinträchtigungen des abstrakten Denkens und der Auf-
fassung s Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses s Desorientierung (Zeit > Situation > Ort > Person) s Störung der Psychomotorik s Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus s affektive Störungen (Depression, Angst, Reizbarkeit, Eu-
phorie, Apathie) s wahnhaftes Erleben.
Sie können substanzunabhängig, aber auch im Rahmen von Intoxikationen und bei Entzugssymptomen, beispielsweise von Alkohol und Benzodiazepinen, auftreten. Cave: Zur Verhinderung eines Alkoholentzugs- oder Benzodiazepinentzugssyndroms, welches in ein lebensgefährliches Delir mit epileptischen Anfällen münden kann, sollte einem Patienten mit Alkohol- oder Benzodiazepinabhängigkeit eine (elektive) Entzugsbehandlung in einer qualifizierten Klinik angeraten werden. Das abrupte Absetzen von Alkohol oder Benzodiazepinen ist kontraindiziert. Entzugssymptome können vegetativ (Tachykardie, Hypertonie, Schwitzen, Unruhe), aber auch psychisch (eingeengtes Denken, Craving, affektive Symptome) sein. Ein Entzug muss engmaschig ärztlich begleitet werden. Bei schon bestehenden Entzugssymptomen, zum Beispiel bei Vorstellung in der Praxis, kann sogar angeraten werden, den Konsum von Alkohol wieder aufzunehmen, bis der Patient in einer Klinik aufgenommen werden kann. Bei fortgeschrittener Entzugssymptomatik sollte ein Benzodiazepin (Lorazepam 1–2 mg, Oxazepam 10–20 mg, Diazepam 5–10 mg) oder Clomethiazol (1–2 Kapseln) gegeben werden, sofern keine Intoxikation mehr besteht und keine Kontraindikation für Clomethiazol (z. B.
Asthma bronchiale) vorliegt. Auch die hochdosierte Gabe von Thiamin (oral: 200–400 mg oder intravenös: 50–200 mg) kann gerechtfertigt sein, insbesondere wenn schon Symptome einer Wernicke-Enzephalopathie auftreten (Trias: Bewusstseinsstörung, Desorientiertheit, neurologische Symptome wie Augenmuskelstörungen und Gangataxie). Substanzunabhängige hyperaktive Delirien werden im Gegensatz zu hypoaktiven Delirien früher erkannt. Prädisponierende Faktoren sind unter anderem ein hohes Lebensalter, Malnutrition, neurologische und internistische Erkrankungen wie M. Parkinson, Schlaganfall und Diabetes mellitus, aber auch Demenzen. Weitere Risikofaktoren sind eine Polypharmazie, anticholinerge Medikamente, Lungenund Harnwegsinfektionen, aber auch Anämien und Schmerz (6). Gerade bei älteren, polypharmazeutisch behandelten Patienten sollte man alle Medikamente auf Indikation, Nebenwirkungen und Wirksamkeit prüfen, um die Gefahren eines Delirs und kognitiver Störungen aufgrund einer «Übertherapie» zu minimieren. Bewährt haben sich dabei zum Beispiel die PRISCUS- oder die FORTA-Liste (7, 8). In einer Studie an Patienten mit Alzheimer-Demenz, die akut in einer Klinik aufgenommen wurden, zeigten sich deutlich erhöhte Mortalitätsraten bei Patienten mit hyperaktivem Delir im Vergleich zu nicht deliranten Patienten (9). Ein rasches Erkennen sowie die symptomatische Behandlung sind daher unabdingbar. Zur Basisdiagnostik gehört neben der körperlichen Untersuchung eine Labordiagnostik, um die Ursache festzustellen (Infektparameter, Urämie, Leberenzyme und ggf. Toxikologie). Auch eine kranielle Bildgebung (kranielle Computertomografie [cCT], kranielle Magnetresonanztomografie [CMRT]) und gegebenenfalls eine Liquorpunktion sollten im Einzelfall zum Ausschluss neurologischer Erkrankungen erfolgen. Therapeutisch ist die Behandlung der Grunderkrankung zielführend. Bei hyperaktiven Delirien ist im Einzelfall eine Pharmakotherapie indiziert, um eine Gefährdung des Patienten (z. B. bei starker Erregung oder Wahn), aber auch eine Fremdgefährdung zu reduzieren. In einer kürzlich publizierten Studie erwies sich Haloperidol in einer möglichst niedrigen Dosierung (1–5mg), gegebenenfalls in Kombination mit einem Benzodiazepin, gegenüber anderen Antipsychotika als am wirksamsten (10). Allerdings sollten, wenn möglich, immer erst nicht pharmakologische Strategien wie eine ruhige Umgebung, Orientierungshilfen und die symptomatische Behandlung (Ausgleich einer Exsikkose etc.) vorgezogen werden, da insbesondere Benzodiazepine die Dauer des Delirs auch verlängern können.
Intoxikationen
Intoxikationen können zu Verhaltensstörungen inklusive Aggressionen, zu neurologischen Störungen, aber auch zu qualitativen und quantitativen Bewusstseinsstörungen führen. Neben der häufigsten Intoxikation mit Alkohol spielen auch andere Drogen sowie Medikamente (akzidentell im Rahmen von pharmakodynamischen und -kinetischen Wechselwirkungen sowie in suizidaler Absicht) eine Rolle. Daher gilt es, zunächst die Substanz der Intoxikation zu detektieren, entweder anamnestisch oder mittels Toxikologie. Je nach GCS und Ausprägung der Symptomatik ist ein differenziertes Vorgehen angezeigt.
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Bei einer reinen qualitativen Bewusstseinsstörung ist abzuschätzen, ob eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt, um gegebenenfalls rasch einzugreifen (siehe unter «Erregungszustände»). Bei unklarer Ursache ist bei der Gabe von Benzodiazepinen Vorsicht geboten, um möglicherweise kumulative Nebenwirkungen (z. B. Atemdepression bei Einnahme von Sedativa/Alkohol) zu vermeiden. Bei Mischintoxikationen und Erregungszuständen kann in Einzelfällen eine Fixierung ohne Medikation am sinnvollsten sein. Wenn eine Medikation bei Fortbestehen der Erregung/Aggressivität notfallmässig gegeben werden muss, dann sollte eher auf ein Antipsychotikum in niedriger Dosis zurückgegriffen werden (z. B. Haloperidol 1–5 mg, Risperidon 1–3 mg).
Katatone Syndrome
Katatone Syndrome treten in der Regel im Rahmen von (katatonen) Schizophrenien auf, können aber auch beispielsweise bei schweren Depressionen in Erscheinung treten (Kasten 2). Differenzialdiagnostisch davon abzugrenzen sind insbesondere neurologische Erkrankungen sowie dissoziative Syndrome im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen oder Traumafolgestörungen. Wenn möglich, kann die Erhebung der Fremdanamnese Aufschluss geben (Erkrankungen in der Vorgeschichte, Einnahme von Drogen usw.). Eine sofortige Diagnostik ist dringend indiziert, da eine unbehandelte Katatonie ein erhöhtes Mortalitätsrisiko birgt, insbesondere die perniziöse Katatonie, die mit Fieber, Kreatinkinaseerhöhung, Elektrolytentgleisung und Exsikkose einhergeht. Hier ist eine intensivmedizinische Überwachung indiziert. Ansonsten sind die Gabe eines Benzodiazepins sowie Flüssigkeitssubstitution Mittel der Wahl, je nach Ausprägung auch intravenös (z. B. 1–3 mg Lorazepam). Doch Vorsicht: Ein katatoner Stupor kann schnell in einen Erregungszustand übergehen; daher sollte die Intervention niemals ohne Begleitpersonen erfolgen (siehe Kasten 1).
Erregungszustände
Erregungszustände kommen bei Intoxikationen, aber auch im Rahmen anderer psychischer und auch somatischer Erkrankungen vor. So sind Erregungszustände, insbesondere bei wahnhaften Störungen, meist im Kontext einer Schizophrenie, aber auch bei bipolar-manischen Patienten oder im
Kasten 2:
Katatone Syndrome
Katatone Syndrome sind laut ICD-10 (5) gekennzeichnet durch: ▲ Mutismus (spricht nicht) ▲ motorische Hemmung bis Stupor («Leibstarre») bei wachem Be-
wusstseinszustand ▲ Stereotypien (z. B. Grimassieren) ▲ Nachahmungsautomatien (z. B. Echolalie) ▲ Negativismus (aktiver Widerstand gegen passive Bewegung) ▲ Katalepsie (Beibehaltung der Körperstellung auch gegen Wider-
stand) ▲ Der Übergang in einen katatonen Erregungszustand ist häufig flies-
send.
Rahmen von Persönlichkeitsstörungen oder Angststörungen anzutreffen. Auch bei Patienten mit akuten Schmerzsyndromen, bei Diabetespatienten mit Hypoglykämien oder bei einer akuten Atemnot können Erregungszustände auftreten. In vielen Fällen liegt aufseiten des erregten Patienten zunächst keine Kooperationsbereitschaft vor, sodass die unmittelbare Gefährdung in der Umgebung zunächst abgesichert werden muss. Deeskalierende Strategien sowie Abstand halten sind geboten. In vielen psychiatrischen Kliniken werden Deeskalationstrainings, wie beispielsweise das ProDeMa®, angeboten, in denen viele hilfreiche Strategien aufgezeigt und geübt werden. So sind ein sicheres Auftreten, wohlwollendes Verständnis, aber auch klare Signale (z. B. Schreien bei Angriffshaltung des Patienten) Interventionsmöglichkeiten. Der Eigenschutz geht vor; daher ist es immer ratsam, möglichst viele Personen als Unterstützer zu organisieren. Bei erfolgreicher Deeskalation sind die weitere Diagnostik mittels Fremdanamnese, körperlicher Untersuchung, Labor, gegebenenfalls Toxikologie und erweiterter Diagnostik sowie eine daraus abgeleitete Behandlung indiziert. Ist keine Deeskalation möglich, kann eine mechanische Beschränkung, zum Beispiel Fixierung, nötig werden, gegebenenfalls unter Hinzuziehen der Polizei. Zur raschen pharmakologischen Intervention stehen insbesondere Benzodiazepine als Notfallmedikament zur Verfügung – mit Ausnahme von erregten Patienten im Rahmen von Alkoholintoxikationen (cave: Atemdepression). So können beispielsweise Lorazepam bis 6 mg oder Diazepam bis 30 mg bevorzugt oral, aber vorsichtig auch intravenös oder intramuskulär – sofern keine Kontraindikation besteht – gegeben werden, beginnend mit niedrigen Dosierungen. Bei maniformen Syndromen im Rahmen von bipolaren Störungen oder schizophreniformen Störungen können Antipsychotika, in Monotherapie oder kombiniert mit Benzodiazepinen, indiziert sein. Alle mittel- und hochpotenten Antipsychotika sind in dieser Indikation wirksam, einige haben jedoch keine Zulassung. Die intravenöse Gabe ist lediglich für Haloperidol und Benperidol verfügbar, wird aber aufgrund der seltenen, aber schweren Nebenwirkungen nicht mehr empfohlen beziehungsweise nur unter Monitorkontrolle. Für Aripiprazol, Olanzapin, Haloperidol, Ziprasidon und Zuclopenthixol («3-Tage-Depot») gibt es Formulierungen, die auch intramuskulär gegeben werden können (cave: nicht zu verwechseln mit Depots). Die Zeit bis zum Eintritt der Wirksamkeit ist mit etwa 15 Minuten am kürzesten für Olanzapin und Aripiprazol, die Gefahr für EPS ist unter Haloperidol am höchsten. Cave: Parenterales Olanzapin darf nicht in Kombination mit parenteral verabreichten Benzodiazepinen gegeben werden. Erregungszustände im Zusammenhang mit Demenzen sollten vornehmlich nicht pharmakologisch behandelt werden. Dies zum einen aufgrund der Nebenwirkungen, aber auch aufgrund der in der Regel raschen Deeskalationsmöglichkeiten bei situativen Verkennungen, die in diesem Rahmen häufig zu Erregungszuständen führen. Ein «talking down», das Schaffen einer ruhigen Umgebung und verständnisvolles Zuhören sowie Akzeptanz des Nahbereichs können hilfreiche Strategien sein. Der sogenannte DICE-Approach (DICE: Akronym aus «describe», «investigate», «create», «evaluate») kann dabei helfen zu beurteilen, welche Situationen zur Er-
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Kasten 3:
Hinweise für akute Suizidalität, die abgefragt werden sollten
▲ Äusserungen von suizidalen Gedanken ▲ Beschäftigung mit dem Thema (z. B. Internet) ▲ fehlende Distanzierung nach einem Suizidversuch ▲ kürzlicher Suizidversuch in Familie/Freundeskreis ▲ lang andauernde oder häufige Suizidgedanken ▲ automatischer/zwanghafter Charakter der Suizidgedanken ▲ Suizidmethode schon durchdacht und verfügbar ▲ konkrete Vorbereitung getroffen (Tabletten sammeln, Abschieds-
brief) ▲ Patient findet kaum Gründe zum Weiterleben ▲ keine Familie (oder diese ist «egal») ▲ starke Schuld- und Wutgefühle (cave: «Mitnahme»-Suizid) ▲ gelassene Schilderung der Suizidüberlegungen, (pseudo-)rationaler
Entscheidungsprozess ▲ plötzliche, unerklärliche Gelassenheit/Heiterkeit nach Suizidüber-
legung
regung führen und welche Interventionsmöglichkeiten individuell helfen können (11). Hausärzte, die Heimpatienten betreuen, sollten mit der Verschreibung von psychotrop wirksamen Substanzen bei Demenzpatienten zurückhaltend sein. Insbesondere die länger andauernde Gabe von Antipsychotika sollte vermieden werden, da einerseits die Mortalitätsrate unter einer solchen Medikation erhöht ist und andererseits die Wirksamkeit in vielen Fällen nicht eindeutig ist und spätestens nach 12 Wochen reevaluiert werden sollte (12, 13).
Suizidalität
Im Jahr 2019 lag die Suizidrate in Deutschland laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei 12,3 pro 100 000 Einwohner (14). Als Risikofaktoren konnten männliches Geschlecht, höheres Lebensalter, ein Leben als Single und in der Stadt sowie der sozioökonomische Status ausgemacht werden (14). Psychiatrische Erkrankungen sind bei etwa 90 Prozent aller Suizidversuche vorhanden, aber auch (chronische) Schmerzen gehen mit erhöhter Suizidalität einher (15). Affektive Störungen, allen voran die unipolare oder bipolare Depression, Schizophrenien und Persönlichkeitsstörungen gehen mit Suizidraten von bis zu 20 Prozent einher (16). Bei Selbstschädigung ohne Intention eines tödlichen Ausgangs spricht man nicht von Suizidalität. Jedoch sollten diese Selbstverletzungen ernst genommen und eine psychiatrische Diagnostik sowie – je nach Krankheitsbild – eine psychotherapeutische und gegebenenfalls pharmakologische Therapie eingeleitet werden. Patienten, die einen Suizid ankündigen oder einen Suizidversuch unternommen haben, sollten in jedem Fall einem Psychiater vorgestellt werden. Die Einschätzung, ob eine akute Suizidalität besteht und ob daher eine akute Behandlung initialisiert werden muss, eventuell sogar gegen den Willen des Patienten, sollte durch einen Facharzt erfolgen. In einer retrospektiven Analyse an der Charité Berlin konnte gezeigt werden, dass etwa 30 Prozent aller Patienten nach einem Suizidversuch nach psychiatrischem Konsil nach
Hause entlassen werden konnten, da sie sich unmittelbar
danach von akuter Suizidalität distanzieren konnten (17). Die
Ausrichtung der Therapie sollte sich an der jeweiligen Dia-
gnosestellung orientieren.Bei akuter Suizidalität und einer
psychiatrischen Erkrankung, jedoch fehlender Krankheits-
einsicht, zum Beispiel im Rahmen schwerer depressiver Epi-
soden oder Schizophrenien, ist in der Schweiz eine fürsorge-
rische Unterbringung (FU) zu überprüfen, welche nur durch
einen Arzt (je nach Kanton ein Hausarzt, ein Bezirksarzt oder
ein Psychiater) angeordnet werden kann. Eine entspannende
Medikation mit Benzodiazepinen (Lorazepam, Diazepam)
kann in der Akutsituation indiziert sein. Im Folgenden ist die
Grunderkrankung leitliniengerecht zu behandeln (z. B. bei
Depression Psychotherapie, Antidepressivum, supportive an-
dere Therapien). Die Abfrage der Suizidalität (Kasten 3) sollte
dabei regelmässig erfolgen.
s
PD Dr. med. Arnim Quante
Friedrich von Bodelschwingh-Klinik
D-10717 Berlin
Interessenlage: Vortragshonorare von den Firmen Schwabe und Heel. Persönliche oder finanzielle Verbindungen, die im Zusammenhang mit diesem Artikel von Bedeutung sein könnten, bestehen nicht.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 1/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. S2K-Leitlinie Notfallpsychiatrie (2019), AWMF online, Abruf 23.09.2020. 2. Pajonk FG et al.: Der psychiatrische Notfall – Abgrenzung zu Psychotrau-
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