Transkript
Schwerpunkt
Wie sage ich’s dem Kind?
Der Umgang mit Metaphern bei der Diagnose ADHS
Geht es Ihnen nicht auch so? ADHS ist ein abstrakter Begriff, nicht klar fassbar. Es fällt einem schwer, sich vorzustellen, was genau im Hirn betroffener Menschen abläuft, wie sich das ADHS für sie anfühlt, wie sie es im Alltag erleben. Metaphern sind ein nützliches Tool, um den abstrakten Begriff ADHS den betroffenen Kindern und ihren Bezugspersonen näherzubringen.
Von Peter Hunkeler
Nachdem ich am Ende der Abklärung die Diagnose ADHS bei einem Kind gestellt habe, nehme ich mir genügend Zeit, um die Befunde und Resultate mit den Eltern bei einem Abschlussgespräch zu besprechen. Dabei werde ich oft mit der Frage konfrontiert, was sie ihrem Kind zu Hause sagen sollen, wenn es fragt, was die Abklärung ergeben habe. Einem Kind im Kindergarten oder in der Unterstufe, womöglich auch in der Mittelstufe der Schule, mute ich den abstrakten Begriff ADHS nicht zu. Hier greife ich auf Metaphern zurück.
Das rostige Fahrrad
Ich persönlich gebrauche gerne und oft die Metapher des rostigen Fahrrads. Sie beschreibt auf eine anschauliche Weise den hohen Arbeitsaufwand, welchen die Kinder im Schulalltag leisten müssen. Das Fahrgestell ist rostig, der Kette fehlt das Öl. Die Kinder mögen je nach Kondition und Willen mit der Klasse mithalten, ermüden aber deutlich schneller als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die mit einem fein herausgeputzten Fahrrad unterwegs sind. Diese Metapher lässt sich gut auf das in dieser Ausgabe beschriebene 3-Säulen-Konzept anwenden.
Hasen im Bauch und Tiger im Hirn
Interessanterweise habe ich die meisten Metaphern von den Kindern selbst mitbekommen, ein paar von Kolleginnen und Kollegen erfahren und adaptiert, und einige wenige habe ich selbst erfunden. So hat mir ein Mädchen vom «Hasen in Bauch», ein Junge vom «Tiger im Kopf» erzählt. Ein anderer Junge hat mir seine kaum vorhandene Impuls- und Emotionskontrolle folgendermassen beschrieben: «Es ist wie eine Bombe mit ganz kurzer Zündschnur. Wenn diese mal brennt, dann geht die Bombe innerhalb kürzester Zeit hoch.» Vom «Hirn, das
immer heisser» werde und irgendwann einmal nicht mehr richtig funktioniere, hat mir ein Mädchen berichtet. Als «Wikipedia-Hirn» erklärte ein Junge seine Gedankengänge: «Es fühlt sich an, wie wenn ich auf Wikipedia einen Artikel zu lesen beginne und immer wieder auf neue interessante Links klicke, was dazu führt, dass ich den
ursprünglichen Artikel am Ende gar nicht gelesen habe.» Wenn es um die schnelle Ablenkbarkeit bei Schularbeiten geht, verwende ich die Metapher des fehlenden Reizfilters im Hirn. Ich stelle mir vor, dass aus dem Kopf der Betroffenen ganz viele Antennen herausragen. Jede Antenne meint, sie sei wichtiger als die andere, und leitet ihre Information ungefiltert an das Hirn weiter. So kommt es vor, dass dem heruntergefallenen Bleistift des Jungen in der hinteren Sitzreihe eine höhere Priorität zuteil wird als dem Arbeitsblatt, das vor dem Kind liegt. Und ein Junge hat mir erzählt, dass der Landwirt in der Nachbarschaft innerhalb einer Stunde sechsmal mit seinem neuen John Deere-Traktor an der Schule vorbeigefahren sei. Wie viel er vom Unterricht mitbekommen hat, weiss ich nicht.
Säule 1, pädagogische Massnahmen: Ein Kind mit einem rostigen Fahrrad braucht eine sauber geteerte Strasse ohne Schlaglöcher oder gar Steinbrocken auf der Fahrbahn. Säule 2, therapeutische Massnahmen: Das Kind kann an seiner Fitness und Kraft arbeiten, damit es einen höheren Durchhaltewillen hat. Säule 3, medikamentöse Massnahmen: Wir sind beim Öl für die Kette und beim Rostmittel angelangt. All diese Massnahmen sollen dazu dienen, dass das Kind den Schulalltag einfacher bewältigen kann. Dadurch spürt es Selbstwirksamkeit und hat mehr Erfolgserlebnisse. Wichtig zu erwähnen: Öl und Rostmittel wirken erst dann, wenn die Pedale mit den Füssen betätigt werden. Aus dem Fahrrad wird kein Moped.
Metaphern für Eltern
Auch bei Elterngesprächen können Metaphern verwendet werden. Es gibt Kinder mit ADHS, die sich im schulischen Umfeld angepasst verhalten und zu Hause regelmässig emotionale Ausbrüche haben. Auch diese Kinder
24
Pädiatrie 2/23
Schwerpunkt
bewältigen den Schulalltag mit einem rostigen Fahrrad. Sie verbrauchen viel Energie für das Fahren, aber auch zur Kontrolle der Emotionen. Auf die Metapher des Dampfkochtopfs bezogen bedeutet dies, dass es im Topf immer ein bisschen kocht und das Ventil durch den zunehmenden Druck entsprechend ansteigt. Nach einem Schultag genügt zu Hause nur eine kleine Berührung des Ventils – das kann zum Beispiel eine falsche Frage sein wie «Hast du deine Jacke nach Hause gebracht?» – und schon wird gehörig Dampf abgelassen.
Vorteile von Metaphern
Die Vorteile im Gebrauch von Metaphern liegen auf der Hand. In der Sprechstunde und auch bei Rundtischgesprächen erlebe ich häufig, dass Kinder, Eltern und die Lehrerschaft Metaphern positiv aufnehmen. Die Kinder fühlen sich ernst genommen. Ihr grosser Leistungsaufwand, den sie für die Schule betreiben, die Müdigkeit nach der Schule, die Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation: Alles hat nun einen Namen.
Die Metapher des rostigen Fahrrads benütze ich regelmässig beim Vorgespräch für eine Stimulanzientherapie, an dem auch die Kinder teilnehmen. Gelange ich bei der Erklärung zur 3. Säule und somit zum Öl und Rostmittel, fragen mich die Kinder regelmässig, wann sie nun damit anfangen könnten. Es gibt aber auch Kinder, welche die metaphorische Sprache überfordert. Das sind meist Kinder im Kindergartenalter, vereinzelt auch Schulkinder, die erstaunt antworten, dass sie zu Hause gar kein rostiges Fahrrad hätten. Mit diesen Kindern suche ich einen für sie geeigneten Begriff, wie zum Beispiel «Konzentrationstablette»; manchmal sprechen wir auch nur vom Medikament. Über die Brille als weitere hilfreiche Metapher für den Gebrauch von Medikamenten berichtet René Kindli ab Seite 17 in dieser Ausgabe.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Peter Hunkeler Stiftung Arkadis Aarauerstrasse 10 4600 Olten E-Mail: peter.hunkeler@arkadis.ch
Abbildungen: Felipe, Pixabay (Bombe), Daniel Kirsch, Pixabay (Fahrrad), Albert-Paul, Pixabay (Dampfkochtopf)
2/23 Pädiatrie
25