Transkript
EDITORIAL
Gute und weniger gute Selbstzweifel
«Sich selbst darf man nicht für so göttlich halten, dass man seine eigenen Werke nicht gelegentlich verbessern könnte.» Dieses Zitat wird Ludwig van Beethoven zugeschrieben. Darin spiegelt sich für mich ein gesunder Selbstzweifel, der das eigene Tun auch einmal infrage stellt und damit den Weg für die Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten ebnet. Ob Beethoven wohl auch einmal eine weniger gesunde Form des Selbstzweifels plagte, das rund 150 Jahre nach seinem Tod definierte Impostor-Phänomen? Man nennt es auch Hochstapler-Syndrom, wobei nicht gemeint ist, dass die davon Betroffenen Hochstapler sind, sondern dass sie sich lediglich als solche fühlen. Sie sind kompetent und erfolgreich im Beruf, machen Karriere und werden doch nie ihren massiven Selbstzweifel los, nicht gut genug zu sein. Erfolge bewerten sie als unverdientes Glück und die Angst «aufzufliegen» ist ihr ständiger Begleiter. Früher nahm man an, dass insbesondere Frauen darunter leiden, wahrscheinlich sind aber beide Geschlechter gleichermassen davon betroffen.
Ärztinnen und Ärzte scheinen in Bezug auf eine be-
sonders kritische Einschätzung der eigenen Leistung
anfällig dafür zu sein. Zu diesem Schluss kommen die
Autoren einer Umfrage, die von November 2020 bis
Februar 2021 in den USA durchgeführt wurde. 3116
Ärzte, darunter sowohl Hausärzte als auch Spezialis-
ten, füllten einen entsprechenden Fragebogen aus.
Zwei Drittel von ihnen, ein höherer Anteil als in ande-
ren Berufsgruppen, äusserten sich enttäuscht über
das bis anhin Erreichte und meinten, dass sie mehr
hätten erreichen müssen.
Bei der Angst, Erwartungen nicht erfüllen zu können
oder «aufzufliegen», sowie bei Zweifeln an der eige-
nen Intelligenz im Vergleich mit den Kollegen waren
die Werte hingegen durchschnittlich. Das bedeutet,
dass gut die Hälfte der Ärzte sich deswegen nie oder
nur selten Sorgen machte und etwa ein Viertel hin
und wieder damit zu kämpfen hatte. Immerhin 4 bis
10 Prozent der Teilnehmer gaben jedoch massive
Selbstzweifel zu Protokoll. Ihr Risiko für Burn-out und
sogar Suizidgedanken war doppelt so hoch wie bei
denjenigen, die sich nie oder selten sorgten.
Ohne Hilfe sei der Weg aus der Impostor-Falle so gut
wie unmöglich, meinen die Autoren der Studie. Viel-
mehr müssten die Betroffenen psychologische Hilfe
annehmen und es brauche generell strukturelle Ver-
änderungen im beruflichen Setting, um übertriebe-
nem Leistungswillen und Perfektionismus Einhalt zu
gebieten.
«Nobody is perfect» – und das ist gut so.
s
Renate Bonifer
Shanafelt TD et al.: Imposter Phenomenon in US Physicians Relative to the US Working Population. Mayo Clin Proc. 2022;97(11):1981-1993.
ARS MEDICI 7 | 2023
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