Transkript
Keine einfache Diagnose
Harnwegsinfekte im Säuglings- und Kleinkindalter
Infektiologie
Bei Fieber ohne ersichtliche Ursache im Säuglings- und Kleinkindalter sollte man immer an die Möglichkeit einer Harnwegsinfektion (HWI) denken. KD Dr. med. Michael Büttcher gab am FOMF WebUp Pädiatrie Tipps für die Praxis, wie die nicht immer einfache Diagnose gestellt werden kann.
Es gibt eine Reihe von Risikofaktoren für HWI im Säuglings- und Kindesalter. So haben Knaben, die nicht beschnitten sind, im Alter von unter 3 Monaten ein erhöhtes HWI-Risiko, und bei den Mädchen treten afebrile HWI häufiger bei fehlerhafter Hygiene, Labiensynechie oder vaginalem Reflux auf. Für beide Geschlechter gehören Miktionsstörungen, Obstipation oder eine kombinierte Blasen-Darm-Fehlfunktion zu HWI-Risikofaktoren: «Es ist wichtig, das Ganze immer als ein System zu begreifen und nicht die Probleme separat zu betrachten», sagte KD Dr. med. Michael Büttcher, Infektiologe am Kinderspital Luzern. Ein weiterer wichtiger Punkt sind anatomische Nierenund Blasenanomalien (CAKUT: congenital anomalies of kidneys and urinary tract), insbesondere als Risikofaktor für HWI der oberen Harnwege (Pyelonephritis). Dazu gehören Ureterabgangsstenosen, vesiko-urethraler Reflux (VUR), renale Dysplasie, posteriore Urethralklappen und ein primär obstruierter Megaureter. Das Spektrum der Symptome ist altersabhängig (Tabelle). Wichtige Differenzialdiagnosen einer Zystitis (afebrile, untere HWI) bei älteren Kindern sind Miktionsstörungen, Urethritis und die Vulvovaginitis; auch chemische und mechanische Reize (exzessives Waschen, Oxyuriasis, Masturbation) können Zystitis-ähnliche Symptome bewirken.
Fallstricke bei der Urinanalyse
«Sauberen Urin zu gewinnen, ist eine Herausforderung», sagte Büttcher. Mikrobiologisch akzeptabel ist der Mittelstrahlurin beziehungsweise ein «clean catch» im Säuglingsalter. Letzteren kann man auffangen, wenn man mit einem feucht-kühlen Wattebausch zirkulär suprapubisch sanft reibt oder suprapubisch sanft klopft und gleichzeitig sakral massiert. Für eine mikrobiologische Analyse ungeeignet ist der «Säckli-Urin», der allenfalls zum Ausschluss einer HWI dienen kann. Den saubersten Urin liefert eine suprabische Blasenpunktion, die jedoch Erfahrung erfordert und unter Ultraschallkontrolle erfolgen muss. Am zweitsaubersten ist der mittels Einmalkatheter gewonnene Urin, aber nur dann, wenn die ersten Tropfen verworfen werden (!). Vor der Katheterisierung sollte man per Ultraschall prüfen, ob in der Blase ausreichend Urin vorhanden ist.
Es ist wichtig, den auf welchem Weg auch immer gewonnenen Urin vor dem Streifentest keinesfalls lang stehen zu lassen, weil das die Resultate verfälschen kann (z. B. wird der Nitritbefund nach langem Stehen von Urin häufig positiv). Bei grampositiven Keimen ist der Nitritbefund negativ, weil diese Bakterien Nitrat nicht in Nitrit umwandeln. Beim Nachweis von Leukozytenesterase kommen falsch positive Befunde vor, wenn die Schleimhäute kontaminiert oder entzündet sind, das Fieber eine andere Ursache hat oder ein anderweitiger Entzündungsprozess vorhanden ist. Eine Leukozyturie kann bei jungen Säuglingen trotz HWI fehlen. Der Befund im Streifentest ist zudem von der Verweildauer des Urins in der Blase abhängig, die bei Säuglingen wesentlich kürzer ist als bei älteren Kindern. Ein falsch negativer Streifentest kann deshalb bei Säuglingen häufiger vorkommen, sodass für Kinder im Alter von unter 90 Tagen mit Verdacht auf eine HWI oder mit Fieber ohne Fokus immer eine Urinkultur empfohlen wird (s. u.). Den Urin zusätzlich mikroskopisch zu beurteilen, kann die Treffsicherheit des Befunds erhöhen. Mit einem Streifentest plus Mikroskopie erreiche man eine Sensitivität
Tabelle:
Altersabhängiges Symptomenspektrum bei einer Harnwegsinfektion
Alter Häufig
Mittelhäufig
< 3 Monate Fieber, Erbrechen, Lethargie, Irritabilität Reduziertes Trinkverhalten, Gedeihstörung > 3 Monate bis 3 Jahre
Fieber
Bauchschmerzen, Flankenschmerzen, Erbrechen, reduziertes Trink-/Essverhalten
> 3 Jahre
Dysurie, Pollakisurie
Bauchschmerzen, Flankenschmerzen, Miktionsunregelmässigkeiten, veränderte Kontinenz
Selten
«Bauchschmerzen», Ikterus, Hämaturie, stinkender Urin
Lethargie, Irritabilität, Hämaturie, stinkender Urin, Gedeihstörung
Fieber, Unwohlsein, Erbrechen, Hämaturie, stinkender Urin, trüber Urin
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Infektiologie
Linktipps
Guideline HWI im Kindes- und Jugendalter Büttcher M et al.: Konsensus Empfehlungen zur Behandlung von Harnwegsinfektionen bei Kindern und Jugendlichen in der Schweiz – 2020. Paediatrica. 2020;31(4):44-51. www.rosenfluh.ch/qr/paed-hwi
Resistenzdaten Schweiz Anresis, das Schweizerische Zentrum für Antibiotikaresistenzen wird vom Institut für Infektionskrankheiten (IFIK) der Universität Bern mit Unterstützung des Bundesamtes für Gesundheit geführt. Direktlink zur Resistenzabfrage nach Regionen: www.rosenfluh.ch/qr/anresis-datenbank
von 99 bis 100 Prozent und eine Spezifität von im Mittel 70 Prozent, so Büttcher. Falls Leukozyten im Urinsediment vorhanden seien, spreche das für eine Pyelonephritis. Plattenepithel hingegen sei Anzeichen einer Verunreinigung der Urinprobe, sodass den Befunden eher nicht zu trauen sei.
Blutwerte
Der Entzündungsparameter CRP sollte 2-mal bestimmt werden: Bei der ersten Konsultation und nach 12 bis 24 Stunden. Ein Grenzwert sei für diese Situation nicht definiert, sagte der Referent. Der CRP-Wert habe jedoch eine gute negativ prädiktive Aussagekraft: «Wenn Sie zum Zeitpunkt 0 ein tiefes oder negatives CRP messen und 12 bis 24 Stunden später immer noch, ist die Wahrscheinlichkeit extrem gering, dass es sich um eine Pyelonephritis handelt.» Bei Säuglingen ≤ 90 Tagen können ein differenziertes Blutbild sowie die Bestimmung von Plasmakreatinin, Natrium und Kalium hinzukommen und eventuell eine Blutkultur. Letztere ist bei Spitalpatienten und bei Patienten mit reduziertem Allgemeinzustand indiziert.
Urinkultur
Eines vorweg: Der Befund aus der Urinkultur ist nicht das einzige Kriterium für die Diagnose einer HWI, sondern auch dieser muss immer im Zusammenhang mit der klinischen Situation betrachtet werden (Vorgeschichte, Risikofaktoren, klinische Befunde, Befunde der Urin- und der Blutanalyse). Eine Urinkultur sollte für folgende Patientengruppen angelegt werden: ● Alter ≤ 90 Tage mit Verdacht auf HWI oder Fieber
ohne Fokus ● Alter > 90 Tage bei Verdacht auf akute Pyelonephritis
plus positiver Streifentest und/oder positiver mikroskopischer Urinstatus ● reduzierter Allgemeinzustand, Verdacht auf eine invasive bakterielle Erkrankung ● rezidivierende HWI und Grunderkrankungen (CAKUT). Das Wachstum eines einzelnen Keims spricht für eine HWI, wachsen mehrere, unterschiedliche Keime heran, spricht das für eine Verunreinigung der Urinprobe. Eine Ausnahme sind Urinkulturen bei jungen Säuglingen (< 3 Monate), deren Urin mit E. coli und Enterkokken gleichzeitig besiedelt sein kann. Als positiver Befund gelten: ● ≥ 10 000 (104) koloniebildende Einheiten (KBE)/ml bei Katheterurin ● ≥ 10 0000 (105) KBE/ml bei Mittelstrahlurin ● jegliches Bakterienwachstum bei suprapubischer Blasenpunktion.
Ultraschalluntersuchung
Nach der ersten Pyelonephritisepisode sowie bei rezidivierenden HWI sollte, unabhängig vom Alter der Kinder, eine Ultraschalluntersuchung erfolgen. Bei einer atypischen Pyelonephritis sollte bereits in der akuten Phase eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt werden. Anzeichen dafür sind zum Beispiel ein sehr schlechter Allgemeinzustand, ein sehr geringer Urinfluss (< 1 ml/kg/Stunde) ohne Dehydratation oder Harnretention, ein abdominell oder vesikal tastbarer Widerstand, erhöhtes Kreatinin sowie fehlendes Ansprechen auf eine
resistenzgerechte Antibiotikatherapie innert 48 Stunden. Besteht keine atypische Pyelonephritis, kann die Ultraschalluntersuchung in den nächsten Wochen bei Bedarf durchgeführt werden.
Welches Antibiotikum?
Es sollte nach Möglichkeit ein Antibiotikum gewählt werden, bei dem in der entsprechenden Region noch keine Resistenzen bestehen. Welche Resistenzen in verschiedenen Regionen der Schweiz relevant sind, kann in der Onlinedatenbank des Schweizerischen Zentrums für Antibiotikaresistenzen (Anresis) nachgeschaut werden (s. Linktipp). Zur unmittelbaren, empirischen Antibiotikagabe eignet sich Amoxicillin-Clavulansäure bei einer Pyelonephritis. Ein Cephalosporin der dritten Generation ist für Kinder mit bekannten CAKUT oder rezidivierenden HWI sinnvoll. Bei einer Zystitis sollte primär Trimethoprim-Sulfamethoxazol für 3 Tage verwendet werden. Sobald die Befunde aus der Urinkultur vorliegen, sollte man gegebenenfalls auf ein Antibiotikum mit einem möglichst engen Spektrum wechseln. Detallierte Angaben zur Dosierung und Anwendungsdauer verschiedener Antibiotika finden sich im Schweizer Konsensus zur Behandlung von HWI im Kindes- und Jugendalter (s. Linktipp). Von einer Antibiotikaprophylaxe wird im Allgemeinen abgeraten. Sie kommt allenfalls für Kinder mit komplexen CAKUT oder hochgradigem VUR sowie im Vorfeld einer Miktionszystourethrografie (MCUG) infrage. Während man früher annahm, dass die rezidivierenden HWI bei VUR zu Narben im Nierengewebe führen, geht man heute davon aus, dass hochgradige VUR die Nieren bereits pränatal schädigen. Eine Antibiotikaprophylaxe bei Kindern mit VUR Grad I bis III sei deshalb nicht indiziert, zumal man statistisch betrachtet zirka 5500 prophylaktische Antibiotikadosen benötige, um eine HWI bei diesen Kindern zu verhindern, erläuterte der Referent.
Klinische Verlaufskontrollen sind nötig
Am Tag 3 bis 5 sollte man das Kind nochmals einbestellen, um den klinischen Zustand zu überprüfen (Allgemeinzustand, Fieber) und die Verdachtsdiagnose HWI zu verifizieren. Welche Befunde lieferte die Urinkultur, und muss das Antibiotikum gegebenenfalls angepasst werden? Spricht alles weiterhin für die Diagnose HWI? Oder eher nicht, sodass die Antibiotika abgesetzt werden können? Wenn sich der Zustand des Kindes gebessert hat, sollen Urinanalyse, Urinkultur und die Bestimmung der Entzündungsparameter nicht wiederholt werden.
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von KD Dr. med. Michael Büttcher: «Harnwegsinfektionen». FOMF WebUp Pädiatrie am 8. Februar 2022.
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