Transkript
Schwerpunkt
RLS bei Kindern und Jugendlichen
Mögliche Ursachen, Diagnostik und Behandlung
Das Restless-Legs-Syndrom (RLS) kommt im frühen Kindesalter häufiger vor als bislang angenommen. Mittels einer genauen, die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eines Kindes berücksichtigenden Anamnese, ergänzt durch wenige, gezielte Laboruntersuchungen, kann die Diagnose gestellt und eine zielgerichtete Behandlung eingeleitet werden.
Von Silvano Vella
D as Restless-Legs-Syndrom (RLS) ist eine zentralnervöse, genetisch prädisponierte, langsam progrediente sensomotorische Störung, oft mit Beginn im Kindes- oder Jugendalter (1, 2). Da die
Störung zentralnervösen Ursprungs ist, beruhen die Be-
schwerden nicht auf Veränderungen in den Extremitäten,
sondern sie sind eigentlich eine Sinnestäuschung – dies
im Gegensatz zu Differenzialdiagnosen wie Wachstums-
schmerzen (oft bereits am Tag
Kinderärzte und Grundversorger spielen eine wichtige Rolle bei der rechtzeitigen Erkennung und Behandlung von RLS/PLMS.
spürbar) oder Muskelkrämpfen in der Nacht (verschwinden nicht durch kurze Bewegungen). In der englischsprachigen Literatur wird korrekterweise vom Restless-Limb-Syndrom gesprochen,
weil im langfristigen Verlauf
auch die Arme betroffen sein können. Die Familienana-
mnese ist oft positiv. Die Prävalenz im Kindes- und Ju-
gendalter beträgt 2 bis 4 Prozent, in Assoziation mit
ADHS oder Nierenleiden ist sie höher.
Bei den primären Formen wird eine zugrundeliegende
genetische Dysregulation des zerebralen Eisen- und Do-
paminstoffwechsels postuliert. Das Phänomen der Aug-
mentationen, das heisst die paradoxe Zunahme der
RLS-Symptome im Verlauf einer dopaminergen Therapie,
ist durch den Umstand erklärbar, dass durch die Gabe
dopaminerger Medikamente im Verlauf der Behandlung
nicht nur die Bewegungen hemmende, sondern auch
Kasten 1:
Diagnostische Kriterien des RLS
1. Zwang, die Extremitäten bewegen zu müssen, verbunden mit Missempfindungen. 2. Der Bewegungszwang oder die Missempfindungen beginnen oder verschlechtern
sich in Ruhephasen, wie beim Sitzen oder Liegen. 3. Der Bewegungszwang oder die Missempfindungen können teilweise oder ganz
durch Bewegungen unterbrochen werden (z. B. Laufen, Dehnen usw.). Nach Been digung der Bewegungen kehren die Beschwerden zurück. 4. Der Bewegungszwang oder die Missempfindungen verschlechtern sich gegen Abend oder in der Nacht oder sie treten nur am Abend/in der Nacht auf. 5. Die Symptome können nicht durch anderweitige Erkrankungen oder Verhaltens störungen erklärt werden.
nach (4)
stimulierende Dopaminrezeptoren aktiviert werden. Ein sekundäres RLS kann durch exogene Störungen dieses Stoffwechsels entstehen. Es ist oft reversibel. Abgeklärt werden mögliche Mängel an Eisen (Parameter: Ferritin), Kalzium, Magnesium, Natriumchlorid, Vitamin B12 und Folsäure. Zu beachten ist, das Ferritin bei entzündlichen Prozessen falsch positiv beziehungsweise erhöht sein kann. Urämie, Schwangerschaft (Jugendliche) oder Schilddrüsenstörungen sollten ausgeschlossen werden. Medikamente wie Antidepressiva (Trizyklika, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), sedierende Antihistaminika und Dopaminantagonisten können RLS verstärken oder auslösen. Ein RLS manifestiert sich durch den unwiderstehlichen Zwang, die Extremitäten bewegen zu müssen, verbunden mit sehr unterschiedlich beschriebenen Missempfindungen. Die Beschwerden nehmen in Ruhe und in der Nacht zu, und sie bessern sich durch Bewegung. Bis zu 75 Prozent der RLS-Betroffenen entwickeln im Schlaf periodische Extremitätenbewegungen, welche die Nachtruhe empfindlich stören können (periodic limb movements in sleep, PLMS). Die Folgen sind Ein- und Durchschlafstörungen mit Konsequenzen am Tag, wie Müdigkeit und Schläfrigkeit sowie emotionale und kognitive Beeinträchtigungen. Wegen der beobachteten Puls- und Blutdruckanstiege besteht vermutlich langfristig ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko (3).
Diagnose von RLS/PLMS
Die Diagnose des RLS beruht auf anamnestischen und somit subjektiv geprägten Aussagen. Untersuchungen zeigten, dass Kinder ihre Beschwerden oft aus sprachlichen Gründen nur mangelhaft beschreiben können (4). Aussagen wie «Ich habe beim Hinlegen Schmerzen in den Beinen» und «Die Beschwerden werden in Ruhe und nachts stärker» sollten aufhorchen lassen. Andere, bei Erwachsenen gängige Beschreibungen wie «Brennen, Ameisenlaufen oder Hitzegefühl in den Beinen», «Besserung der Beschwerden durch Bewegung» oder «die Beschwerden zwingen einen, die Beine zu bewegen», werden dagegen von Kindern seltener geäussert. Besser ist es, das Kind zu fragen, ob es «das Bein bewegen oder kicken» müsse oder ob es Schmerzen empfinde. Es genügt nicht, dass die Eltern über Beinbewegungen ihres Kindes berichten, denn dieses Verhalten kommt bei
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Kindern oft vor. Es sollte darauf geachtet werden, ob die Symptome wirklich in Ruhe beginnen, hauptsächlich im Bett, bei längerem Krankheitsverlauf auch am Tag und zusätzlich in den Armen. Im Unterschied zu Erwachsenen können Kinder den Zusammenhang zwischen den RLS-Symptomen und deren Besserung durch Bewegungen nicht immer erkennen. Die Familienanamnese ist wichtig, denn bei (meist primärem) RLS im Kindesalter wird ein starker genetischer Hintergrund angenommen. Bei Jugendlichen und Erwachsenen müssen alle im Kasten 1 aufgeführten diagnostischen Kriterien erfüllt sein. Diese Kriterien sind bei sehr jungen oder kognitiv beeinträchtigten Kindern mit beschränkten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten manchmal schwierig zu erfragen. Deshalb müssen in dieser Gruppe zusätzlich die diagnostischen Kriterien in Kasten 2 berücksichtigt werden. Im Gegensatz zum RLS können PLMS mit neurophysiologischen Messungen im Schlaflabor objektiviert werden (Goldstandard: Polysomnografie). Der Polysomnografie kommt bei der Abklärung von RLS eine besondere Bedeutung zu, da deren mittel- und langfristigen Konsequenzen (Zusammenhang zwischen PLMS und Störungen der Schlafarchitektur bzw. des autonomen Nervensystems) und das Ansprechen auf die Therapie objektiviert werden können. RLS in Kombination mit PLMS führt in der Regel zu Tagesmüdigkeit, aber nicht zu schwerer Tagesschläfrigkeit. Bei Kindern mit Verdacht auf RLS und ausgeprägter Tagesschläfrigkeit müssen neben einer Polysomnografie am Folgetag mithilfe zusätzlicher Tagesvigilanzmessungen (multiple Schlaflatenztests, MSLT) andere, mit PLMS einhergehende Erkrankungen wie Narkolepsie, obstruktives Schlafapnoesyndrom oder Epilepsien ausgeschlossen werden. Retrospektiv und gestützt auf die früheren, mittlerweile revidierten Kriterien, erhielten in der Vergangenheit vermutlich zu viele Kinder und Jugendliche die Diagnose Wachstumsschmerz, obwohl sie unter einem RLS litten. Umgekehrt zeigen Studien, dass RLS-Betroffene häufiger als Gleichaltrige über klar definierte Wachstumsschmerzen klagen. Der Zusammenhang ist nicht klar, eine Arbeit von Ferri et al. 2017 bietet einen guten Überblick (1). Wachstumsschmerzen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nach Tagen bis Wochen wieder verschwinden und nach langen, symptomfreien Intervallen wieder auftauchen können. Mögliche Differenzialdiagnosen bei Verdacht auf RLS bei Kindern sind in Tabelle 1 zusammengefasst, und sie werden in der neueren Literatur unter dem Sammelbegriff «restless sleep» diskutiert (2, 4).
Therapie
Therapeutisch stehen an erster Stelle die nicht pharma kologischen Massnahmen (Edukation, Schlafhygiene, Vermeiden von gewissen Medikamenten und Genussmitteln). Bei fehlender Besserung schliesst sich die Behandlung eines allfälligen Eisenmangels an, falls der Serumferritinwert unter 50 µg/l liegt (Grenzwert bei Erwachsenen: 75 µg/l). Die Eisensupplementation erfolgt bei Kindern mehrheitlich oral. Derzeit werden Algorithmen für intravenöse Therapien entwickelt (7). Es ist noch nicht erwiesen, ob orale oder intravenöse Eisenpräparate besser wirken. Weitere Wissenslücken in der Eisentherapie betreffen die Sicherheit und Langzeitfolgen, zudem
Abbildung: Praktischer Algorithmus bei Verdacht auf RLS (adaptiert nach Restless Legs Foundation 2015, www.rls.org) (8)
Kasten 2:
Ergänzende diagnostische Kriterien*
1. Das Kind muss die Beschwerden in seinen eigenen Worten beschreiben. 2. Der Untersucher sollte mit den typischen Worten, die Kinder benutzen, vertraut
sein. 3. Sprachliche und kognitive Entwicklung sind für die Anwendung der RLS-Kriterien
entscheidender als das Alter des Kindes. 4. Die Beschwerden beeinflussen den Schlaf, die Stimmung, die Kognition, die Funk
tion und das Verhalten sowie das Lernen des Kindes. 5. PLMS (periodic limb movements in sleep) können zeitlich der Diagnose eines RLS
vorausgehen.
*2- bis 12-Jährige und Kinder mit sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten; nach (4)
fehlen Parameter, welche das Ansprechen der Therapie voraussagen lassen. Ein Wechsel auf Eisen i. v. ist bei Unverträglichkeit der oralen Form und bei die Darmresorption einschränkenden Erkrankungen angezeigt. Selbst nach Eisen i. v. beträgt die Ansprechrate bezüglich der
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Tabelle 1:
Differenzialdiagnosen bei Verdacht auf RLS bei Kindern (2, 4)
Ätiologie Wachstums- schmerzen motorische Tics ADHS nächtliche Muskel- krämpfe Chondromalacia patellae Arthralgien Akathisie
Unterschiede im Vergleich mit RLS Die Beschwerden persistieren trotz Bewegung der Extremitäten, und sie sind auch am Tag vorhanden. wechselhafte Manifestation an einzelnen Muskelgruppen, oft im Gesicht und im Schulterbereich Motorische Unruhe kann auch ohne subjektive Beinbeschwerden auftreten (aber Koinzidenz mit RLS ist möglich). Auftreten nach Anstrengungen, auf einzelne Muskelgruppen beschränkt, nicht durch Bewegungen gemildert. Schmerzen während Kniebelastung, vor allem bei Flexion
Schwellung und Schmerzen eines umschriebenen Gelenks Bewegungsdrang während des gesamten Tages, Auftreten unter Einnahme von Psychopharmaka
nach (2, 4)
Tabelle 2:
Therapie bei RLS
Medikamente
Erfahrungen bei Kindern
Eisensubstitution (p. o., evtl. i. v.)
+++
L-Dopa, Dopaminagonisten (z. B. Ropinirol oral, Rotigotin-Pflaster) +++
Benzodiazepine (z. B. Clonazepin)
++
Alpha-2-Liganden (z. B. Gabapentin, Pregabalin)
++
Antiepileptika (z. B. Levetiracetam)
++
niedrig dosierte Opiate
+
Magnesium
(+)
Melatonin
(+)
nach (5)
Literatur in der Online-Version des Beitrags auf ch-paediatrie.ch
RLS/PLMS-Beschwerden nur etwa 50 Prozent, selbst wenn das Ferritin erwartungsgemäss ansteigt. Dies zeigt, dass eine intrazerebrale Regulationsstörung des Eisenstoffwechsels vorliegen muss. Falls die Symptome trotz eines Ferritinwertes von > 50 µg/l persistieren (was bei oraler Gabe erst nach weiteren Monaten beurteilt werden kann), kommen bei Erwachsenen L-Dopa oder Dopaminagonisten zur Anwendung. Da auch Kinder eine Zunahme der RLS-Symptome unter dieser Therapie erleben (Augmentationen) und unerwünschte Wirkungen häufig sind, werden bei Kindern als 1. Wahl Alpha-2-Liganden empfohlen (Tabelle 2) (5).
Exkurs: ADHS, RLS und PLMS
Bei Kindern mit ADHS wurden viele Untersuchungen wegen der häufig vorkommenden Schlafprobleme durchgeführt und neben einer abendlichen Unruhe und Bewegungen im Schlaf als Ausdruck emotionaler Angespanntheit auch etwas häufiger RLS und PLMS festgestellt. Umgekehrt ist nachvollziehbar, dass Schlafstörungen neben Tagesmüdigkeit beziehungsweise Tagesschläfrigkeit, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen hervorrufen können. Wissenschaftliches Interesse fand die Erkenntnis, dass therapeutische Strategien bei ADHS und RLS am Tag beziehungsweise am Abend auf eine Anreicherung von Do-
pamin an den entsprechenden Rezeptoren hinarbeiten: Eisen unterstützt die Dopaminsynthese, Stimulanzien sind Dopamin-Wiederaufnahmehemmer, und L-Dopa und seine Agonisten aktivieren Dopaminrezeptoren. Es stellte sich die Frage, ob eine Behandlung am Tag beziehungsweise in der Nacht nachhaltig für die jeweils andere Tageszeit einen Erfolg bringen könnte. Dem stehen neuere Untersuchungen entgegen, wonach die Beinbewegungen im Schlaf bei manchen Kindern mit ADHS bei neueren Messmethoden keine klare Periodizität wie bei klassischem RLS aufweisen und diese Subpopulation nicht gleichermassen auf dopaminerge Medikamente reagierte. Bei diesen Kindern kommen umso mehr nicht pharmakologische Behandlungen der Schlafprobleme zum Zug (2). In einer anderen Gruppe von Kindern mit ADHS und PLMS-typischen Bewegungen konnte durch die Gabe von abendlichen dopaminergen Medikamenten die PLMS signifikant reduziert werden, nicht aber die ADHS-Sym ptomatik am Tag (6). Dies zeigt, dass bei ADHS, RLS und PLMS verschiedene Mechanismen vorliegen müssen, welche unterschiedliche therapeutische Strategien erfordern.
Langzeitverlauf
Im Lauf der Jahre ändert sich das Bild. Bei Kindern treten RLS-Symptome in den Beinen häufiger als bei Erwachsenen schon am Nachmittag auf, was in Zusammenhang mit der Immobilität am Tage, durch den Schulbesuch, erklärt wird. Dafür sind RLS-typische Beschwerden in den Armen meist erst im Alter zunehmend, als Indiz einer schleichenden Progredienz dieser Erkrankung.
Fazit für die Praxis
• Das RLS tritt im (frühen) Kindesalter häufiger auf als bislang angenommen. Die Kinder können ihre Beschwerden oft nicht richtig verbalisieren. Die Erscheinungsbilder der Krankheit sind zudem sehr vielfältig. Dies stellt die Kinderärzte und die Grundversorger vor grosse Herausforderungen.
• Die Latenzzeit bis zur Diagnose ist oft lang. Kenntnisse spezifischer Merkmale der Krankheit ersparen den Betroffenen eine jahrelange Leidenszeit mit Auswirkungen auf den Tag, wie Müdigkeit, Schläfrigkeit und kognitive Einschränkungen, und letztendlich auf die gesamte kindliche Entwicklung.
• Mittels einer genauen, die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eines Kindes berücksichtigenden Anamnese, ergänzt durch wenige, gezielte Laboruntersuchungen, kann die Diagnose gestellt und eine zielgerichtete Behandlung eingeleitet werden.
• Ein praxisbezogener Algorithmus fasst Diagnose und Therapie zusammen (Abbildung) (8).
Korrespondenzadresse: Dr. med. Silvano Vella Facharzt FMH Neuropädiatrie, Fähigkeitsausweise Schlafmedizin SSSC und klinische Neurophysiologie SGKN Kinderneurologische Praxis Lindenhofspital Bremgartenstrasse 115, Postfach, 3001 Bern E-Mail: silvano.vella@gmx.net
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
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Literatur: 1. Ferri R et al.: Periodic leg movements during sleep: Phenotype, neurophysiology and clinical significance. Sleep Med. 2017;31:29-38. 2. DelRosso LM et al.: Restless sleep in children: A systematic review. Sleep Med Rev. 2021;56:101406. 3. Angriman M, Cortese S, Bruni O: Somatic and neuropsychiatric comorbidities in pediatric restless legs syndrome: a systematic review of the literature. Sleep Med Rev. 2017;34:34-45. 4. Picchietti DL et al.: Pediatric Restless Legs syndrome diagnostic criteria: an update by the International Restless Legs Syndrome Study Group. Sleep Med. 2013;14:12531292. 5. DelRosso L, Bruni O: Treatment of pediatric restless legs syndrome. Adv Pharmacol. 2019;84:237-253. 6. Yürümez E, Kiliç BG: Relationship Between Sleep Problems and Quality of Life in Children With ADHD. J Atten Disord. 2016;20(1):34-40. 7. Dye TJ, Jain SV, Simakajornboom N: Outcome of long-term iron supplementation in pediatric restless legs syndrome/periodic limb movement disorder. Sleep Med. 2017;32:213-219. 8. Restless legs Foundation: www.rls.org.
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