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BERICHT
Neue AGLA-Empfehlungen
Mehr Optionen in der Sekundärprävention
Foto: zVg
Für die Senkung des LDL-Cholesterin-(LDL-C-)Werts stehen in der Schweiz allmählich Präparate zur Verfügung, die bei ihrem kombinierten Einsatz eine Reduktion von bis zu 80 Prozent ermöglichen. Welche Kombinationen in welchen Fällen empfohlen sind, hat die Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA) in ihren neuen Empfehlungen festgehalten. Zusätzlich wurden die Limitationen von PCSK9-Hemmern gelockert, sodass diese in der Sekundärprävention bei Werten > 1,8 mmol/l trotz maximaler Statintherapie eingesetzt werden können.
Unter den modifizierbaren Risikofaktoren für
eine atherosklerotisch bedingte kardiovasku-
läre Erkrankung (ASCVD) haben erhöhte Li-
pidwerte den grössten Anteil (1). Das
ASCVD-Risiko korreliert proportional zum
LDL-C-Spiegel, je höher die Werte, desto
grösser das Risiko. Umgekehrt reduziert jede
Senkung um 1 mmol/l das ASCVD-Risiko um
20 Prozent. Bei einem Patienten mit einem
Konstantinos Koskinas
LDL-C-Wert von 4 mmol/l lasse sich ein solcher Lipidwert beispielsweise mit einem hoch-
wirksamen Statin um etwa die Hälfte senken,
was in einer Risikoreduktion von 40 Prozent resultiere, be-
richtete Konstantinos Koskinas, Leiter Lipid und Diabetes &
Herzsprechstunde, Universitäre Klinik für Kardiologie, In-
selspital Bern, am virtuellen AGLA-Meeting. Durch Zugabe
von weiteren Lipidsenkern wie beispielsweise Ezetimibe
kann der LDL-C-Spiegel beziehungsweise das Risiko weiter
gesenkt werden. Aus klinischer Sicht besteht laut Koskinas
keine untere Limite (< 1 mmol/l) zur Lipidsenkung, je tiefer
der Wert, desto besser (2). Gemäss den Guidelines der Euro-
pean Society of Cardiology (ESC) sollte der LDL-C-Wert
umso tiefer gesenkt werden, je höher das kardiovaskuläre
Risiko ist: bei tiefem Risiko auf 3,0 mmol/l, bei moderatem
Risiko auf 2,6 mmol/l, bei hohem Risiko auf 1,8 mmol/l und
bei sehr hohem Risiko auf 1,4 mmol/l (3). Das kardiovasku-
läre Risiko einer Person kann mit einem Risikorechner, bei-
spielsweise mit dem der AGLA (Link), anhand der Parameter
Alter, Geschlecht, Blutdruck, LDL, HDL, Triglyzeride, Rau-
cherstatus und Familienanamnese ermittelt werden.
Therapeutische Trägheit als Ursache
Trotz der eindrücklichen Risikoreduktionen, die sich mit einer rigorosen LDL-C-Senkung erreichen lassen, kommen in europäischen und schweizerischen Kohortenuntersuchungen aber nur etwa 20 bis 37,5 Prozent der Patienten mit einer bekannten kardiovaskulären Erkrankung, was einem sehr hohen Risiko entspricht, auf den früher gültigen LDL-CZielwert von < 1,8 mmol/l (4–6). Mit dem zurzeit geltenden
Zielwert von < 1,4 mmol würde für Patienten mit sehr hohem Risiko dieser ohnehin schon bescheidene Anteil noch weiter schrumpfen, so Koskinas. Die Gründe für die schlechte Einhaltung der Zielwerte wurden in einer schwedischen Kohortenstudie bei Post-Infarkt-Patienten untersucht. Die Autoren identifizierten eine therapeutische Trägheit (therapeutic inertia), denn nur etwa die Hälfte der Patienten erhielt eine hochwirksame Statintherapie zum Zeitpunkt der Spitalentlassung und 1 Jahr danach (7).
Verstärkte der Lipidsenkung
Der Behandlungsalgorithmus der ESC-Guidelines sieht im ersten Schritt eine Lipidsenkung mit den hochwirksamen Statinen Atorvastatin (≥ 40 mg) und Rosuvastatin (≥ 20 mg) vor, womit eine Senkung des LDL-C-Werts von etwa 45 Prozent erzielt werden kann. Mit der zusätzlichen Gabe von Ezetimibe (10 mg) ist eine weitere Senkung von 20 Prozent erreichbar, mit zusätzlichen PCSK9-Hemmern eine Reduktion um 60 Prozent (3). Mit den beiden PCSK9-Antikörpern Evolocumab und Alirocumab zusätzlich zu einer Standardtherapie lässt sich der Lipidspiegel, verglichen mit der Standardtherapie, allein um 61 beziehungsweise 62 Prozent senken (8, 9). Bei PostInfarkt-Patienten zeigte die kürzlich publizierte PACMANAMI-Studie mit Alirocumab versus Plazebo zusätzlich zu einer hochwirksamen Statintherapie nach 52 Wochen in der Verumgruppe eine signifikant stärkere Plaqueregression in den Arterien, die nicht vom Infarkt betroffen waren (10). In den letzten Jahren sind weitere therapeutische Optionen dazugekommen. Dazu gehört Inclisiran, ein Small-Interfering-RNA-(siRNA-)Molekül, das durch RNA-Interferenz selektiv die Synthese von hepatischer PCSK9 verhindert. Inclisiran wird subkutan injiziert, anfänglich 3-monatlich und anschliessend halbjährlich. Mit Inclisiran zusätzlich zu einer maximal verträglich dosierten Statintherapie sinkt der LDLC-Spiegel bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie oder ASCVD um etwa 50 Prozent im Vergleich zur Statintherapie allein, wie die ORION-Studien zeigen konnten (11, 12). Bis auf Reaktionen an der Injektionsstelle zeigte sich für
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Lp(a) – ist das wichtig, und wozu messen?
Das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse steigt nicht nur mit zunehmendem LDL-Cholesterin-(LDL-C-)Wert, sondern auch mit steigendem Lipoprotein(a)-(Lp[a]-)Wert nahezu linear (16). Bei Lp(a)-Werten zwischen 75 und 125 nmol/l steige das Risiko leicht an, wovon etwa 10 Prozent der Bevölkerung betroffen seien, etwa 20 Prozent der Bevölkerung hätten mit Werten > 125 nmol/l ein höheres Risiko (17), wie Prof. Florian Kronenberg, Institut für Genetische Epidemiologie, Medizinische Universität, Innsbruck, Mitverfasser des ConsensusStatements zum Lp(a), ausführte. Lp(a)-Werte sind grösstenteils (ca. 90%) genetisch determiniert; Ethnie, Nierenfunktion (Anstieg bei Dysfunktion), Leberfunktion (Abfall bei Dysfunktion) beeinflussen die Werte ebenfalls. Weil ein erhöhter Lp(a)-Wert selbst bei normalen LDL-C-Werten ein unabhängiger Risikofaktor sei (18), werde das absolute Risiko für atherosklerotisch bedingte kardiovaskuläre Ereignisse derzeit permanent bis zum 3-Fachen unterschätzt, so der Experte. Obschon es derzeit noch keine Therapie gegen zu hohe Lp(a)-Werte gibt, sollte es dennoch bei Erwachsenen mindestens 1-mal gemessen werden, um jene mit einem hohen Risiko zu erkennen. Das eröffnet zumindest die Möglichkeit, andere allfällig vorhandene Risikofaktoren schon frühzeitig zu behandeln respektive zu modifizieren.
diese Therapie keine signifikant erhöhte Nebenwirkungsrate, verglichen mit den Plazebogruppen (11). Ob Inclisiran zusätzlich zu den LDL-C-Werten die klinischen Ereignisse reduzieren kann, wird die derzeit laufende kardiovaskuläre Outcome-Studie ORION-4 zeigen, deren Resultate in etwa 2 bis 3 Jahren erwartet werden (13). Eine weitere Möglichkeit zur verstärkten Lipidsenkung ist die Zugabe von Bempedoinsäure. Bempedoinsäure ist ein Prodrug, das in der Leber aktiviert wird. Die aktive Wirkform hemmt wie die Statine die Cholesterinsynthese, greift aber an einer anderen Stelle durch Hemmung der ATPZitrat-Lyase an. Die Suppression der Cholesterinsynthese ist leberspezifisch. Das Bempedoinsäure aktivierende Enzym ist in Skelettmuskelzellen nicht vorhanden, sodass dieser Wirkstoff anders als die Statine keine muskulären Nebenwirkungen haben sollte (14). Bempedoinsäure bewirkt nach 12 Wochen Therapie eine LDL-C-Senkung von 19 Prozent, in Kombination mit Ezetimibe eine Senkung von 38 Prozent (15).
Neue Empfehlungen der AGLA
Die AGLA hat im Jahr 2022 ihre Empfehlungen überarbeitet. Gemäss diesen soll bei Patienten mit hohem Risiko das LDL-C mit einem hochwirksamen Statin auf < 1,8 mmol/l und um mindestens 50 Prozent gesenkt werden. Ist das nicht
Nützlicher Link:
AGLA-Risikorechner https://www.rosenfluh.ch/qr/aglarisikorechner
möglich, soll die Therapie mit Ezetimibe kombiniert werden,
um den Zielwert zu erreichen. Im Fall einer familiären
Hypercholesterinämie soll die Therapie je nach zusätzlich
vorhandenen Risikofaktoren mit Ezetimibe und Bempedoin-
säure oder mit einem PCSK9-Hemmer (Alirocumab, Evolo-
cumab oder Inclisiran) erfolgen.
Bei Patienten mit sehr hohem Risiko beträgt der LDL-C-Ziel-
wert < 1,4 mmol/l plus Senkung um mindestens 50 Prozent.
Kann dieses Ziel mit einem hochwirksamen Statin nicht er-
reicht werden, hängt das weitere Vorgehen davon ab, ob eine
manifeste ASCVD vorliegt oder nicht. Wenn dies nicht der
Fall ist, soll mit Ezetimibe kombiniert werden. Sinken die
Werte bei manifester ASCVD auf ≤ 1,8 mmol/l, empfiehlt die
AGLA die Gabe von Ezetimibe. Kann dagegen mit hochwirk-
samen Statinen eine Senkung ≤ 1,8 mmol/l nicht erreicht
werden, ist der nächste Schritt entweder der Einsatz eines
PCSK9-Hemmers mit oder ohne Ezetimibe oder Ezetimibe
gefolgt von Bempedoinsäure. Die Kombination eines
PCSK9-Hemmers mit Bempedoinsäure ist nicht erstattungs-
fähig.
Bei Erreichen der Zielwerte soll die Therapie jeweils kontrol-
liert fortgesetzt werden. Eine Nachkontrolle des LDL-C-
Werts empfiehlt die AGLA bei erreichten Zielwerten 1-mal
im Jahr durchzuführen, bei entsprechender klinischer Situa-
tion häufiger. Die AGLA-Empfehlungen unterscheiden sich
von jenen der ESC, was den in der Schweiz geltenden Limita-
tionen der verschiedenen Präparate geschuldet sei, so Koski-
nas. Bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie ist
der Einsatz von PCSK9-Hemmern oder Bempedoinsäure
plus Ezetimibe bei Nichterreichen von Werten ≤ 2,6 mmol/l
trotz maximaler Statintherapie erlaubt.
s
Valérie Herzog
Quelle: AGLA-Meeting, 1.12.2022, virtuell, AGLA-Empfehlungen 2023, www.agla.ch
Referenzen: 1. Yusuf S et al.: Effect of potentially modifiable risk factors associated with
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