Transkript
ARZT UND RECHT
Die juristische Perspektive
Notfallfahrt unter Alkoholeinfluss?
Stellen Sie sich vor, Sie werden nach dem Konsum mehrerer Gläser Wein mit offensichtlich erhöhter Blutalkoholkonzentration unverhofft zu einem Notfall bei einem Patienten gerufen. Hier stellt sich sogleich die Frage, ob Sie sich unter Berücksichtigung der Notsituation, in der sich der Patient befindet, sowie der gesetzlichen Pflicht, im Notfall zu helfen, obwohl Sie angetrunken sind (> 0,5 Promille im Blut), ans Steuer Ihres Fahrzeugs setzen sollen beziehungsweise dürfen, um möglichst rasch Ihrem Patienten beistehen zu können.
Manch einer wird in dieser Situation versucht sein, sich mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen für die Trunkenheitsfahrt zu entscheiden. Als rechtschaffener Bürger möchte man sich zwar grundsätzlich nicht gesetzeswidrig verhalten, fühlt sich aber zur Hilfeleistung verpflichtet. Dies einerseits in der Überzeugung, dass bei vorsichtiger Fahrweise schon nichts passieren werde. Andererseits mit dem Gedanken, dass eine Notsituation vorliege und es deshalb rechtlich erlaubt sei, unter Alkoholeinfluss zu fahren.
Die rechtfertigende Notstandshilfe
Die Überlegung, dass bei vorsichtigem Fahren mit einer zu grossen Menge Alkohol im Blut schon nichts passieren werde, vermag selbstverständlich nichts an der Rechtswidrigkeit solchen Verhaltens zu ändern. Nach den Normen des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) ist Fahren unter Alkoholeinfluss grundsätzlich verboten, wenn der Alkoholpegel die Grenze von 0,5 Gewichtspromille überschreitet. Gleiches gilt übrigens auch für Geschwindigkeitsüberschreitungen, diese sind ebenfalls grundsätzlich verboten. Ausnahmen sind im SVG nicht vorgesehen, was aber nicht bedeutet, dass es sie nicht gibt. Tatsächlich findet sich im Strafgesetzbuch (StGB) eine Norm, nach welcher es im Ausnahmefall doch zulässig sein könnte, betrunken oder zu schnell zu fahren. Es sind demnach Situationen denkbar, die eine Trunkenheitsfahrt zu rechtfertigen vermögen. Zu denken ist insbesondere an gewisse Fälle des Notstands und der Notstandshilfe. Die Rechtsbegriffe Notwehr und Notstand sind uns sicher allen geläufig. In der Regel assoziiert man die Begriffe wohl
mit der Situation eines Angriffs, gegen den es sich zu wehren gilt, oder mit einer Gefahr, die einem bedrohlich erscheint und die es einem erlaubt, zur Abwehr der Notlage etwas zu tun, was normalerweise verboten ist. Anhand eines konkreten Fallbeispiels soll im vorliegenden Artikel aufgezeigt werden, was unter dem Begriff Notstandshilfe zu verstehen ist und welche Rolle die Notstandshilfe in der Praxis spielen kann. Zunächst einmal gilt es sich klarzumachen, was überhaupt ein Notstand ist und worin sich der Notstand von der Notwehr unterscheidet. Der Unterschied besteht kurz zusammengefasst darin, dass bei der Notwehr immer ein Angriff durch einen Dritten vorliegt, den es unter Einsatz an sich rechtswidriger Mittel abzuwehren gilt. Bei der Notwehr richtet sich die Handlung beziehungsweise die Abwehr immer gegen den Angreifer. Beim Notstand geht es hingegen darum, dass jemand, der sich in irgendeiner Gefahr befindet, fremde Interessen schädigt, um diese Gefahr von sich abzuwenden. Ein Notstand in Form einer Notstandshilfe liegt sodann vor, wenn jemand eine Straftat begeht, um ein Rechtsgut (z. B. Leib und Leben) eines anderen Menschen aus einer Gefahr zu retten. Ein Recht, sich trotz Trunkenheit ans Steuer eines Autos zu setzen, wird nur in Ausnahmefällen gegeben sein. Gleiches gilt für eine massive Geschwindigkeitsüberschreitung, auch diese wird nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein können. Dann nämlich, wenn eine Abwägung zwischen den auf dem Spiel stehenden Interessen ergibt, dass das konkrete Interesse des Einzelnen, möglichst rasch Hilfe zu erlangen, das Interesse der Allgemeinheit an geordneten und möglichst sicheren
Die Serie «Die juristische Perspektive» wird von Dr. iur. Beat Schmidli, Advokat, langjähriger Partner in einem Advokaturbüro in Basel, seit 2014 Präsident Strafgericht, Jugendgericht und Zwangsmassnahmengericht Kanton Basel-Landschaft, verfasst. Die Serie beleuchtet verschiedene Situationen, in die ein Arzt im Rahmen seiner Tätigkeit geraten kann.
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ARZT UND RECHT
Verhältnissen im Strassenverkehr überwiegt. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, kann dies dann der Fall sein, wenn ein Menschenleben unmittelbar in Gefahr ist und die Trunkenheitsfahrt oder die Geschwindigkeitsüberschreitung tatsächlich dazu geeignet ist, dem Patienten in Not zu helfen. Wir haben dann einen Fall von Notstandshilfe.
Gesetzliche Grundlage
Geregelt sind der Notstand und die Notstandshilfe in Art. 17 StGB. Dort heisst es: Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht (hier: Trunkenheitsfahrt oder Geschwindigkeitsüberschreitung), um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen (z. B. ein Menschenleben) wahrt. Dem aufmerksamen Leser wird nun nicht entgangen sein, dass Art. 17 StGB nicht nur verlangt, dass ein gegenwärtiges und höherwertiges Interesse vorliegt, welches ein weniger starkes Interesse überwiegt. Art. 17 StGB verlangt zudem, dass die Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Anders abwenden heisst beispielsweise, dass ein anderer Arzt innert nützlicher Frist verfügbar ist. Das Bundesgericht hat sich vor einigen Jahren mit einem Fall beschäftigen müssen, der weitgehend dem vorliegend präsentierten Fall entspricht (BGE 116 IV 364). Der vom Bundesgericht beurteilte Fall betraf allerdings nicht einen Humanmediziner, sondern einen Tierarzt. Die rechtlich relevanten Überlegungen sind aber grundsätzlich dieselben. Die wesentlichen Überlegungen und Ausführungen des Bundesgerichts sollen hier in gekürzter Form wiedergegeben werden. Das Bundesgericht stellt Folgendes fest:
Der Tierarzt X. nahm am Abend an einem Geburtstagsfest für seinen Neffen teil. Er hatte den ganzen Tag und die vorangegangene Nacht gearbeitet. Zum Apéro trank er
Mann solle zur Bauernfamilie in H. zu einem Notfall kommen. Sein Praxispartner sei bei einem Kaiserschnitt, und das Kalb «wolle nicht raus». Daraufhin weckte Frau X. ihren Mann. Herr X. erhob sich reflexartig, kleidete sich an und fuhr mit seinem Wagen die ca. 1 km lange Strecke nach H. Das Fahrzeug fiel der Polizei auf, da dessen Lenker offensichtlich ohne Grund mehrmals die Bremsen betätigte. Der unmittelbar nach der Ankunft von X. in H. durchgeführte Atemlufttest ergab 1,15 Gewichtspromille. Die Analyse der ihm abgenommenen Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,99 Gewichtspromille für den Zeitpunkt der Fahrt.
Herr X. wurde vom Obergericht wegen Führens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand verurteilt, was das Bundesgericht bestätigte.
Herr X. beruft sich auf Notstand beziehungsweise Notstandshilfe. Richtig daran ist zwar, dass ein Rechtsgut «Kuh und Kalb» in der Regel mehr als ein blosses Rechtsgut «Vermögen» sein dürfte und seine Verletzung grundsätzlich zu einem Notstand führen kann. Zu beachten ist aber auch, dass die Autofahrt in angetrunkenem Zustand mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,99 Gewichtspromille in keinem angemessenen Verhältnis zur Gefahr steht, die es abzuwenden gilt. Dieser Gefahr hätte ausserdem auch auf andere Weise begegnet werden können, indem der Tierarzt sich hätte von einer nüchternen Person chauffieren lassen können. Eine Rechtfertigung könnte allenfalls dann angenommen werden, wenn ein höherwertiges Rechtsgut wie Leib, Leben und Gesundheit von Menschen infrage steht und die Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen ausserdem ergibt, dass zur Rettung eines höherwertigen Interesses ein weniger hochwertiges geopfert werden darf. Aber selbst in solchen Fällen dürfte Zurückhaltung geboten sein, denn oft ist die konkrete Gefährdung einer unbestimmten Zahl von Menschen möglich, die nur durch Zufall nicht eintritt.
Weisswein, zum Essen Rotwein. Gegen 21.30 Uhr legte er sich hin, um möglichst ungestört die Nacht durchschlafen zu können. Nach etwas mehr als einer Stunde rief die Ehefrau seines Praxispartners an und richtete Frau X. aus, ihr
Fazit
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass eine Situation rechtfertigender Notstandshilfe nur dann angenommen werden kann, wenn eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt ist. Der Entscheid, ob diese Bedingungen im Einzelfall erfüllt sind, kann angesichts der drohenden Gefahr sehr anspruchsvoll sein und muss möglicherweise sehr schnell getroffen werden. Es empfiehlt sich, wenn man in eine vergleichbare Situation gerät, sich mehr als einen Gedanken zu machen, welches Rechtsgut zur Rettung eines anderen Rechtsguts geopfert werden darf und insbesondere, ob es andere Möglichkeiten gibt, eine drohende Gefahr abzuwehren. Dabei ist zu bedenken, dass es keine Rangliste der Wertigkeit der möglichen Rechtsgüter gibt und dass diese Einschätzung auch durchaus unterschiedlich ausfallen kann. s
Dr. iur. Beat Schmidli
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