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STUDIE REFERIERT
Blutung unter Antikoagulation bei Vorhofflimmern
Was bedeutet das für künftige Risiken?
Wenn es bei Patienten, die wegen Vorhofflimmerns orale Antikoagulanzien (OAK) einnehmen, zu einer schweren Blutung kommt, ist das in den darauffolgenden Monaten mit einem hohen Risiko für Schlaganfall, Herzinfarkt oder Tod assoziiert. Ein Teil dieses erhöhten Risikos kann durch das Absetzen der OAK erklärt werden. Das ergab eine erneute Auswertung zweier Schweizer Kohortenstudien.
European Heart Journal
Es ist bekannt, dass das Risiko für eine schwere Blutung bei Patienten, die wegen Vorhofflimmerns eine Therapie mit direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) erhalten, etwa 2 bis 3 Prozent pro Jahr beträgt. Relativ wenig war bis anhin darüber bekannt, welche Rolle diese Blutungen im weiteren Verlauf spielen könnten. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob die Patienten OAK nach einer ersten Blutung absetzen oder, nach Stabilisierung der Situation, weiterhin nehmen sollten. Um diese Frage zu beantworten, analysierte man erneut die Daten aus den
Kasten:
Klassifikation der Blutungen unter oraler Antikoagulation
Schwere Blutung (major bleeding) Eines der folgenden Kriterien: ▲ klinisch offenkundige Blutung, die den Hämo-
globinspiegel um ≥ 20 g/l vermindert ▲ Transfusion notwendig ▲ symptomatische Blutung in einer kritischen
Region ▲ tödliche Blutung
Klinisch relevante, nicht schwere Blutung (clinically relevant non-major bleeding, CRNMB) ▲ erfüllt nicht die Kriterien für eine schwere
Blutung ▲ ist jedoch klinisch offenkundig und erfordert – Hospitalisierung oder – Änderung der antithrombotischen
Therapie oder – medizinische beziehungsweise chirurgi-
sche Intervention
beiden prospektiven Schweizer Kohortenstudien BEAT-AF (Basel Atrial Fibrillation Study) und Swiss-AF (Swiss Atrial Fibrillation Study).
Studiendesign
Berücksichtigt wurden die Daten von Patienten beider Kohorten, die bei Aufnahme in die Kohorten bereits OAK einnahmen, zuvor aber noch nie eine dadurch bedingte Blutung erlitten hatten. Die Follow-up-Dauer lag zwischen 3 und 6 Jahren (median 4,08 Jahre). Insgesamt wurden 3277 Patienten mit einem Durchschnitssalter von 72 Jahren einbezogen (28,5% Frauen). Die Definitionen für eine schwere Blutung beziehungsweise für eine klinisch relevante, nicht schwere Blutung (clinically relevant non-major bleeding, CRNMB) sind im Kasten aufgelistet. Zum primären Endpunkt gehörten Schlaganfall, Herzinfarkt oder Tod im weiteren Verlauf nach einer ersten Blutung.
Blutung bei jedem 5. Patienten
Im gesamten Beobachtungszeitraum von im Mittel zirka 4 Jahren trat bei 19,7 Prozent der Patienten eine neue Blutung auf. Das entspreche einer Inzidenz von 4,6 Blutungen pro 100 Patientenjahre, so die Studienautoren. Anders ausgedrückt: Wenn 100 Patienten mit Vorhofflimmern 1 Jahr lang mit OAK behandelt werden, erleiden 4 bis 5 von ihnen eine Blutung. Möglicherweise sei dieses Risiko noch höher, weil Patienten, die vor Studienbeginn bereits eine Blutung erlitten hätten, ausgeschlossen worden seien, so die Studienautoren. Bei 9,1 Prozent der Patienten handelte es sich um eine schwere Blutung
(1,98 pro 100 Patientenjahre), bei 12,8 Prozent um eine CRNMB (2,9 pro 100 Patientenjahre). 42,3 Prozent der Patienten mit CRNMB mussten ins Spital. Rezidivierende Blutungen kamen bei 126 Patienten vor. Sie waren bei Patienten mit schwerer Blutung etwas häufiger als bei Patienten mit CRNMB (11,61 vs. 8,43 pro 100 Patientenjahre).
Erhöhtes Risiko nur nach schwerer Blutung
Die Inzidenzen für den kombinierten primären Endpunkt legen nahe, dass ein erhöhtes Risiko im weiteren Verlauf nur nach einer schweren Blutung besteht. Ohne Blutung betrug die Inzidenz des primären Endpunkts zirka 4 pro 100 Patientenjahre. Nach einer schweren Blutung betrug sie 11 pro 100 Patientenjahre, wobei das jeweilige Ereignis im Mittel nach 142 Tagen eintrat. Nach einer CRNMB betrug sie 5,29 pro 100 Patientenjahre (Eintritt median 505 Tage nach der CRNMB).
Welche Rolle spielt das Absetzen der OAK?
Nach einer schweren Blutung setzten 21,2 Prozent der Patienten die OAK ab, und 17,5 Prozent wechselten das Präparat. Nach einer CRNMB setzten 10 Prozent ihre OAK ab, und 8,6 Prozent wechselten das Präparat. Die Inzidenz des primären Endpunkts war höher bei denjenigen, die ihre OAK abgesetzt hatten (adjustierte Hazard Ratio: 4,46; 95%-Konfidenzintervall: 3,16–6,31). Für den Schlaganfall allein konnte das nicht gezeigt werden. Die Anzahl der Fälle in dieser Patientengruppe
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NACHGEFRAGT
PD Dr. med. Elisavet Moutzouri Berner Institut für Hausarztmedizn (BIHAM)
Wann sollte ein Hausarzt seinem Patienten raten, die orale Antikoagulation (OAK) nach einer Blutung wieder aufzunehmen? PD Dr. med. Elisavet Moutzouri: Die Rolle des Hausarztes bei der Nachsorge von Patienten mit Blutungen unter Antikoagulation ist von grosser Bedeutung. Es ist sehr wichtig, den Patienten mitzuteilen, dass trotz der Blutung eine Fortsetzung der pausierten Antikoagulation indiziert und sogar zwingend erforderlich sein kann, um kardiovaskuläre und thromboembolische Ereignisse zu verhindern. So ist beispielsweise dieWiederaufnahme der Antikoagulationstherapie nach Blutungen im Magen-Darm-Trakt wichtig, da Daten zeigen, dass dadurch die kardiovaskuläre Sterblichkeitsrate gesenkt werden kann. Der Grund für das Blutungsereignis unter Antikoagulation sollte untersucht und spezifische Massnahmen sollten ergriffen werden. Handelt es sich beispielsweise um ein traumatisches Ereignis (nach einem Sturz?), dann sollten spezielle Massnahmen zur Sturzprävention ergriffen werden. War die Dosis der Antikoagulation zu hoch, oder ist der Gerinnungsstoffwechsel entgleist? Dann sollte der genaue Grund gesucht werden (z. B. Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz, Untergewicht, Malabsorptionsstörungen oder Arzneimittelreaktionen). Gab es eine gleichzeitige Behandlung mitThrombozytenaggregationshemmern? Oder eine begleitende Behandlung mit NSAR, Steroiden oder SSRI? Hatte der Patient eine evidenzbasierte Indikation für eine Prophylaxe mit PPI, zum Beispiel bei vorheriger peptischer Ulkuskrankheit oder gleichzeitiger Behandlung mit NSAR/Antithrombotika? Bei Blutungen ohne zunächst erkennbaren Grund sollte nach seltenen hämatologischen Ursachen gesucht werden.
Und wann sollte die OAK nicht wieder aufgenommen werden? Moutzouri: Natürlich gibt es refraktäre Situationen, besonders nach wiederholten grossen Blutungen, in denen die Indikation für die Antikoagulation neu bewertet werden sollte und eine Nutzen-Risiko-Abwägung stattfinden muss, immer in Rücksprache mit den jeweiligen Spezialisten und Hämostasiologen. Ebenfalls ist nicht zu vergessen, dass es in solchen Situationen andere Möglichkeiten gäbe, zum Beispiel einen Vorhofohrverschluss. Der Patient muss immer in die Entscheidung einbezogen werden. Es gibt keine spezifischen Situationen, in denen die Antikoagulation kontraindiziert ist – mit Ausnahme von seltenen hämatologischen Krankheiten, welche natürlich nicht vergessen werden sollten und mit Hämostasiologen evaluiert werden sollten (z. B. erworbeneVon-Willebrand-Syndrome, erworbene Hemmkörperhämophilien oder andere Mangelerscheinungen von Gerinnungsfaktoren, wie etwa ein Faktor-IX-Mangel).
Wann ist der richtige Zeitpunkt, nach einer OAK-bedingten Blutung wieder mit einer OAK zu beginnen? Moutzouri: Ein generell optimaler Zeitpunkt für die Wiederaufnahme der Antikoagulation ist nicht bekannt. Er hängt von der Art der Blutung ab und wird in der Regel in Rücksprache mit jeweiligen Spezialisten entschieden. So empfehlen beispielsweise die Leitlinien der British Society of Gastroenterology und der European Society of Gastrointestinal Endoscopy, die Antikoagulation bei Patienten mit geringem Thromboserisiko nach 7 Tagen Unterbrechung der Antikoagulation wieder aufzunehmen. Bei Patienten mit hohem Thromboserisiko wird zu einer früheren Wiederaufnahme der Antikoagulation, vorzugsweise innerhalb von 3 Tagen, geraten, eventuell mit Heparinüberbrückung, Wann die Antikoagulation nach einer intrakraniellen Blutung wieder aufgenommen werden sollte, ist weniger klar, aber die meisten Studien deuten darauf hin, dass dieWiederaufnahme – in der Regel immer nach einer erneuten Bildgebung – innerhalb des ersten Monats nach der Entlassung mit besseren Ergebnissen verbunden ist. Der Neustart sollte idealerweise unter engmaschigem INR- oder AntiXa-Monitoring erfolgen, besonders bei Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren, wie zum Beispiel einer Niereninsuffizienz. Alternativ könnte man beispielsweise mit einer prophylaktischen Dosierung beginnen und im Verlauf aufdosieren.
Wann sollte das Medikament gewechselt werden, und welche Substanzen kommen bei einem Wechsel infrage? Moutzouri: Bei der Wiederaufnahme der Therapie müssen Fragen nach dem passenden Wirkstoff, der Dosis und dem Therapieziel sowie nach der Notwendigkeit eines Bridgings geklärt werden. Bislang gibt es nur wenige Daten, die Aufschluss darüber geben, ob nach einer Blutung dasselbe Antikoagulans wieder eingesetzt oder auf einen anderen Wirkstoff umgestellt werden sollte. Es hat sich gezeigt, dass die neuen oralen Antikoagulanzien zu weniger Blutungsereignissen führen alsVitamin-K-Antagonisten. Bei den direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) zeigen die Daten, dass Apixaban eine geringere gastrointestinale Blutungsrate aufweist als Rivaroxaban oder Dabigatran. Die meisten verfügbaren Daten zurWiederaufnahme der Antikoagulation nach einer Blutung beziehen sich jedoch auf Vitamin-K-Antagonisten, da diese Medikamente in der Vergangenheit relativ häufig eingesetzt wurden. Je nach Indikation für die Antikoagulation und je nach dem Grund für das ursprüngliche Blutungsereignis sollte einWechsel der OAK geprüft werden. Cave: Es gibt Situationen, in welchen nur Vitamin-K-Antagonisten indiziert sind, zum Beispiel bei Patienten mit einer mechanischen Herzklappe. Weitere Faktoren sollten ebenfalls berücksichtigt werden (Adhärenzprobleme, Demenz, Untergewicht, Begleitmedikation, Niereninsuffizienz). Auch ein Wechsel zwischen verschiedenen DOAK sollte in Betracht gezogen werden.
PD Dr. med. Elisavet Moutzouri ist eine der Co-Autorinnen der Studie zu Blutungen unter Antikoagulation bei Vorhofflimmern.
sei jedoch zu klein für definitive Aussagen gewesen, so die Studienautoren. Allein das Absetzen der OAK scheint das erhöhte Risiko nach einer schweren
Blutung nicht ausreichend zu begründen. So könnten die notwendigen therapeutischen Massnahmen bei einer schweren Blutung eine prothromboti-
sche Situation bewirken. Auch hätten grosse Blutungen und Schlaganfälle einige gemeinsame Risikofaktoren, sodass sich nicht genau sagen lasse, wel-
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che Faktoren für jedes einzelne Ereignis die entscheidenden gewesen seien, heisst es in der Publikation.
Schlussfolgerungen für die Praxis
Bei 49 Prozent der Patienten mit einer schweren Blutung trat der primäre Endpunkt ein, und zwar meist erst nach Monaten. Deshalb ist es besonders wichtig, diese Patienten langfristig im Auge zu behalten. CRNMB erhöhten das Risiko für Schlaganfall, Herzinfarkt oder Tod mit grosser Wahrscheinlichkeit zwar nicht, aber sie seien für jeden 10. CRNMBPatienten der Grund, das OAK abzusetzen, was zu einem künftig erhöhten Risiko für diese Ereignisse führen könne, so die Studienautoren.
OAK absetzen oder nicht?
Diese Frage kann auch die vorliegende Studie nicht definitiv beantworten. Das hohe Risiko nachteiliger Folgen lege einerseits nahe, die Wiederaufnahme der OAK bei Patienten mit Vorhofflimmern nach einem Blutungsereignis in Betracht zu ziehen, so die Autoren. Andererseits sei die Rate rezidivierender Blutungen recht hoch gewesen, sodass es randomisierte Studien brauche, um die Risiko-Nutzen-Bilanz besser abschätzen zu können. Auf jeden Fall wichtig sei die Prävention von Blutungen unter OAK. So sei das Risiko für eine schwere Blutung unter DOAK geringer als unter Vitamin-KAntagonisten, und Faktor-XIa-Hemmer könnten eventuell noch sicherer sein, schreiben die Studienautoren. Zur
Blutungsprävention gehöre auch, die
parallele Gabe von Plättchenhemmern
zu vermeiden und bei Patienten mit
einem hohen Risiko für gastrointesti-
nale Blutungen Protonenpumpenhem-
mer zu verordnen. Patienten unter
OAK sollten überdies ihren Alkohol-
konsum reduzieren.
RBO s
Quelle: Meyre PB et al.: Bleeding and ischaemic events after first bleed in anticoagulated atrial fibrillation patients: risk and timing. Eur Heart J. 2022;43(47):4899-4908.
Interessenlage: Die Studie wurde vom Schweizer Nationalfonds, von der Schweizer Herzstiftung, der Foundation for Cardiovascular Research Basel und der Universität Basel finanziert. 6 der 21 Autoren gebenVerbindungen zu verschiedenen Herstellern von Medikamenten oder Medizintechnik an.
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