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Titel
Neurologie – Polymorbide Patienten dürften künftig auch in der Hausarztpraxis eine noch grössere Rolle spielen
Untertitel
Dr. med. Thomas Dorn Chefarzt Zurzach Care Rehaklinik Sonnmatt Luzern
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Rückblick 2022 / Ausblick 2023
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62514
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RÜCKBLICK 2022/AUSBLICK 2023

Neurologie
Dr. med. Thomas Dorn Chefarzt Zurzach Care Rehaklinik Sonnmatt Luzern
Polymorbide Patienten dürften künftig auch in der Hausarztpraxis eine noch grössere Rolle spielen
Worüber haben Sie sich im vergangenen Jahr besonders gefreut?
Gefreut habe ich mich unter anderem über und mit einer Patientin in der Rehabilitation. Bei ihr war im April 2012 ein follikuläres Lymphom erstmals diagnostiziert und seither immer wieder mit verschiedenen onkologischen Therapien behandelt worden, bis es im April 2022 zu einem erneuten Rezidiv im Sinne eines hochgradigen B-Zell-Lymphoms mit unter anderem Befall des Foramen obturatum und des N. ischiadicus rechts mit entsprechenden motorischen und sensiblen Ausfällen gekommen war. Im September 2022 erfolgte dann eine chimärische Antigenrezeptor-(CAR-) T-Zell-Therapie*. Es handelt sich hierbei um eine neuartige zelluläre Immuntherapie, bei der zunächst T-Lymphozyten mit einer Leukapharese aus dem Blut des Patienten gewonnen und dann im Labor gentechnisch so verändert werden, dass sie nach Infusion in den Blutkreislauf des Betroffenen sensitiver und effizienter auf Antigene der Lymphomzellen reagieren und diese erfolgreich attackieren können. Es ist quasi so, als würde man Verkehrspolizisten derart ausbilden, dass sie zu einer Anti-Terror-Spezialeinheit werden. Weil sich die neurologischen Ausfälle bei der Patientin während der Rehabilitation so deutlich besserten, bestand Hoffnung, dass die sehr aufwendige und durchaus mit potenziellen gefährlichen Nebenwirkungen behaftete Therapie bei ihr erfolgreich war.
* https://flexikon.doccheck.com/de/CAR-T-Zell-Therapie

Und worüber haben Sie sich geärgert?
Über die langjährigen und vielfältigen, keinesfalls nur auf die Schweiz begrenzten Fehlentwicklungen in der Gesundheitspolitik, die hinter dem sich dramatisch zuspitzenden Fachkräftemangel stehen. Er bedroht aktuell die Versorgung unserer Patienten und wird auch den medizinischen Fortschritt beeinträchtigen. Fortschritte in der Medizin, wie das oben beschriebene Therapieverfahren, werden von zahlreichen hoch qualifizierten und engagierten Wissenschaftlern, Ärzten, Pflegefach- und anderen medizinischen Fachpersonen im Labor und am Krankenbett erzielt. Es braucht hier mehr gesellschaftliche, mediale und auch ökonomische Wertschätzung.
Seit wann besuchen Sie Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen wieder vor Ort, und wie haben Sie sich zu Beginn dabei gefühlt?
Nach längerer Zeit war die 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie in Leipzig am 27. April 2022 der erste Kongress, an dem ich wieder physisch anwesend war. Nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion, mehrfacher Impfung und angesichts des dortigen Schutzkonzepts hielt sich die Sorge vor einer Infektion bei mir in Grenzen. Es überwog die Freude, viele gute Bekannte und frühere Weggefährten zu treffen, unter anderem den Tagungspräsidenten Prof. Dr. Johannes Lemke, der vor zirka 15 Jahren Assistenzarzt in meiner Abteilung am Schweizerischen Epilepsiezentrum war und nun nach Stationen in Tübingen und Bern das Institut für Humangenetik der Universität Leipzig leitet. Das zentrale Thema der Veranstaltung mit rund 900 Teilnehmern war damit gesetzt, nämlich die Genetik der Epilepsien. Wurde dieses für mich selbst auch seit Jahren faszinierende Gebiet vor wenigen Jahren an solchen Kongressen noch eher marginal behandelt, waren die entsprechenden Sitzungen in Leipzig oft überfüllt. In vielen Vorträgen wurde deutlich, dass es sich besonders bei Epilepsien im Kontext einer intellektuellen Entwicklungsstörung um seltene genetisch bedingte Erkrankungen handelt, die mit den modernen molekulargenetischen Verfahren immer häufiger diagnostiziert werden. Zudem existieren für einzelne dieser Entitäten bereits Therapien, die nicht nur wie gängige Antiepileptika oder – präziser ausgedrückt – «anfallsunterdrückende Medikamente» symptomatisch wirken, sondern in die Pathogenese eingreifen und so die manchen dieser syndromatischen Erkrankungen innewohnende Progre-

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dienz bremsen können. So war diesbezüglich zu erfahren, dass für die CLN2-Unterform der Zeroidlipofuszinosen eine solche Therapie in Deutschland zugelassen ist. Bei der mit dem Begriff «Kinderdemenz» in der Laienpresse bezeichneten Krankheitsgruppe handelt es sich um zumeist im Kindesalter beginnende neurodegenerative und tödlich verlaufende Erkrankungen mit epileptischen Anfällen und Visusstörungen als frühe Symptome, bei denen Ablagerungen von Lipofuszin in den Nervenzellen nicht mehr abgebaut werden können und zu deren Absterben führen. Die bei der CLN2-Variante für den Lipofuszinabbau fehlende Tripeptidylpeptidase  1 (TPP1) kann nun durch den Wirkstoff Cerliponase alfa ersetzt werden. Die Behandlung ist allerdings aufwendig. Der Wirkstoff muss über eine Kapsel unter der Kopfhaut und einen Katheter intrazerebroventrikulär alle 14 Tage verabreicht werden.
Oder bevorzugen Sie mittlerweile Onlineveranstaltungen?
Auch Onlineveranstaltungen haben für mich weiterhin ihren Reiz. So «besuchte» ich am 29. Januar 2022 das von der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft organisierte MS State of the Art Symposium mit namhaften Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland. Bei dieser sehr informativen Veranstaltung gab unter anderem Prof. Andres Chan (Inselspital Bern) eine Übersicht über die wachsende Zahl von Therapien, mit denen es möglich ist, die Progredienz der Erkrankung, besonders der schubförmigen Variante, zu unterdrücken beziehungsweise zu verlangsamen. Im Jahr 2021 waren mit Diroximelfumarat (Vumerity®) sowie Ponesimod (Ponvory®) zwei neue Wirksubstanzen hinzugekommen; sie stellen aber keine grundsätzliche Neuerung bezüglich des Wirkmechanismus dar: Diroximelfumerat ist eine vermutlich besser verträgliche Weiterentwicklung des Dimethylfumerats, und Ponesimod ergänzt die Gruppe der «Imods», aus der bereits Fingolimod (Gilenya®), Ozanimod (Zeposia®) und das auch bei der sekundär chronisch progredienten Verlaufsform wirksame Siponimod (Mayzent®) auf dem Markt sind. Auch bei den bereits bewährten Antikörpertherapien Rituximab (Mabthera®) und Natalizumab (Tysabri®) gab es 2021 Zulassungen von Weiterentwicklungen, die nicht mehr intravenös appliziert werden müssen, sondern subkutan verabreicht werden können. Bezüglich der wegen der wachsenden Zahl an Therapieoptionen schwieriger werdenden Differenzialindikation beim einzelnen Patienten scheint zumindest die langjährige Kontroverse zwischen bedarfsweiser Eskalation der Aggressivität der Therapie versus aggressiver Therapie zu Beginn mit allenfalls Deeskalation im Verlauf zugunsten Letzterer entschieden zu sein: «Studienresultate weisen darauf hin, dass der frühe Einsatz von hoch aktiven Therapien zu besseren Resultaten führen könnte», sagte Chan. In anderen Vorträgen, deren Zusammenfassungen auf der Homepage der Schweizerischen Multiplen Sklerose Gesellschaft* zu finden sind, ging es unter anderem um die Zürcher Erfahrungen mit der Stammzelltherapie bei MS, die MS im Kindes- und im
* https://www.multiplesklerose.ch

höheren Lebensalter und um die Rolle der Darmflora bei der Pathogenese der Erkrankung.

Welche neuen Erkenntnisse und Erfahrungen des letzten Jahres waren für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Ich möchte hier nicht weitere neue wissenschaftliche Erkenntnisse in meinem Fachgebiet erwähnen, sondern auf etwas anderes hinweisen. Im vergangenen Jahr wurde mir bei meiner täglichen Arbeit in der Neurorehabilitation immer wieder bewusst, dass es hier häufig um die Betreuung polymorbider Patienten geht. Dabei kann, wie zum Beispiel beim Morbus Parkinson, die neurologische Erkrankung das Spektrum der Komorbiditäten wesentlich mitbestimmen, zum Beispiel muskuloskelettale Beschwerden, eine schwer einstellbare Hypertonie oder eine Blasenfunktionsstörung. Es kann aber auch sein, dass die neurologische Symptomatik «nur» die Folge der Manifestation einer anderen Systemerkrankung im Nervensystem ist, wie es beispielsweise bei Schlaganfällen oder onkologischen Erkrankungen – siehe die zu Beginn erwähnte Patientin – der Fall ist. Polymorbide Patienten bedürfen nicht nur eines Hausarztes und eines Spezialisten, sie benötigen eigentlich ein ganzes Ensemble von gut zusammenarbeitenden Ärzten, bei dem wie bei einer eingespielten Jazzcombo verschiedene Solisten ihre Einsätze haben, aber stets auf die anderen hören müssen. Unser Gesundheitswesen funktioniert aber leider (noch) nicht so. Die Patienten leiden an der fehlenden Koordination entlang ihres persönlichen Patientenpfades und sind oft zutiefst verunsichert.

Welche neuen Erkenntnisse könnten Diagnose und Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Ich denke, der oben erwähnte polymorbide Patient dürfte auch in der Hausarztpraxis in den kommenden Jahren eine noch grössere Rolle spielen. Dabei wird es unter anderem darum gehen, für den einzelnen Patienten das oben erwähnte Zusammenspiel der Solisten gut zu koordinieren. Dazu braucht es viel ärztlichen Sachverstand. Diese sehr anspruchsvolle Aufgabe kann nicht an nicht ärztliche Case-Manager delegiert werden, und sie erfordert viel Zeit für das Gespräch mit dem Patienten, aber auch viel Zeit für die «Arbeit in Abwesenheit des Patienten». Leider entspricht die aktuelle ökonomische Bewertung dieser wichtigen ärztlichen Leistungen weder ihrem Wert für den Patienten noch ihrer Bedeutung für das Vermeiden unnötiger Kosten. So bleibt zu hoffen, dass diese Erkenntnisse Einzug in den gesundheitspolitischen Diskurs finden und schlussendlich die Arbeit in der Hausarztpraxis positiv prägen.

Haben Sie den Eindruck, dass sich die Impfbereit-

schaft in der Bevölkerung mit der Coronavirus-

pandemie verändert hat?

Diese Frage kann ich aufgrund meines beruflich wie privat

sehr selektiven Einblicks in die Bevölkerung nicht seriös be-

antworten.

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