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Titel
Kein Terror im Wartezimmer
Untertitel
-
Lead
Der Mann mit schwarzem, dichtem Vollbart, fahler Hautfarbe und dunklen Glutaugen beunruhigte die anderen Wartenden in meinem Wartezimmer sehr. Als der zweite Patient ängstlich mutmasste, ob der Mann eine Bombe zünden würde, entschloss ich mich zur Flucht nach vorne. Da mir das Arztgeheimnis das Offenbaren der Identität verbot, ging ich mit dem Patienten zurück ins Wartezimmer, wo die erste Fragerin auch noch sass und auf ihr Quick-Resultat wartete, und fragte den Mann, ob er sich outen würde.
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ARSENICUM
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6242
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Arsencium: Kein Terror im Wartezimmer

Der Mann mit schwarzem, dichtem Vollbart, fahler Hautfarbe und dunklen Glutaugen beunruhigte die anderen Wartenden in meinem Wartezimmer sehr. Als der zweite Patient ängstlich mutmasste, ob der Mann eine Bombe zünden würde, entschloss ich mich zur Flucht nach vorne. Da mir das Arztgeheimnis das Offenbaren der Identität verbot, ging ich mit dem Patienten zurück ins Wartezimmer, wo die erste Fragerin auch noch sass und auf ihr Quick-Resultat wartete, und fragte den Mann, ob er sich outen würde.
Bruder Franziskus, stellvertretender Prior, promovierter Historiker und der Archivar unseres Klosters, lächelte und stellte sich vor. Schmunzelnd meinte er, dass seine Bündner Vorfahren für sein mediterranes Aussehen verantwortlich seien und man von seinen schwarzen Haaren bitte nicht auf eine schwarze Seele schliessen solle.
Kräftig nickte der blonde, blauäugige Wartende, dessen Namen auf -ic endet, und mahnte, Menschen nicht aufgrund von Fakten, für die sie nichts können, abzuqualifizieren. Wie zum Beispiel Geburtsland, Ethnie, aktuelles Regime des Heimatlandes oder Landsleute, die Extrempositionen verträten oder kriminell seien. Ihm schossen die Tränen in die Augen, als er begann, vom Balkankrieg und dessen Folgen zu erzählen. Eine Dame ohne Kopftuch, deren Name auf -oglu endet, sonst eigentlich eher schüchtern, schaltete sich ins Gespräch ein und betonte, dass es Millionen friedliebender, rechtschaffender Muslime gäbe, die über die derzeitigen Geschehnisse entsetzt seien.

Da sassen sie, meine PatientInnen aus den verschiedensten Gegenden der Welt, mit unterschiedlichstem Sozialstatus, mit üblen Erfahrungen aufgrund ihrer Herkunft, und waren in der Angst vor Terror und Xenophobie vereint. Herr -ic hatte 25 Jahre für sein Häuschen in Ex-Jugoslawien geschuftet, welches im Krieg völlig zerstört wurde. An seinem Arbeitsplatz, an dem er über Jahrzehnte in bestem Einvernehmen mit anderen Emigranten aus verschiedensten Gegenden Ex-Jugoslawiens gearbeitet hatte, hatten sich durch den Krieg in der alten Heimat grosse Konflikte entzündet, die bis heute noch schwelen.
Frau -oglu ist eine emanzipierte, kluge Sozialarbeiterin, die vielen Türkinnen dabei hilft, die kulturellen Unterschiede zwischen Orient und Okzident zu erkennen und die schwierige Gratwanderung zu meistern, die die Primos und Secondos hier nicht vermeiden können. Sie sagte, sie sei es leid, über das Thema Kopftuch reden zu müssen, wo es doch so viele wichtigere Probleme zu diskutieren gäbe.
Bruder Franziskus hörte zu, nickte und bedauerte, dass auch im Namen des Christentums viele Untaten begangen worden seien. Sogar Frau -egger, SVP-Hardlinerin und Patriotin, die auf ihre Desensibilisierung wartete, sagte etwas Sensibles, ja fast Ausländerfreundliches. Auf der einen Seite freute ich mich über das Grüppchen Vernünftiger, auf der anderen Seite finde ich es erschreckend, was uns beschäftigt. Die Medien geben Greueltaten und Mördern viel Publicity. Junge, instabile Männer fühlen

sich zu den vermeintlich Starken hingezogen und zerstören ihr eigenes Leben und das von anderen Menschen. Eine Kalaschnikow-Salve macht in wenigen Sekunden die Aufbauarbeit von Jahrzehnten zunichte. In Deutschland und Frankreich rotten sich Menschen zusammen, voller Angst, Trotz und Aggression, und marschieren gegen einen vermeintlichen Feind, der aber ein Feindbild ist. Oder sie fassen sich an den Händen, legen Kerzen und Blumen nieder, was weder die Toten wieder lebendig werden lässt noch die Mörder beeindruckt.
Als Hausarzt in der Provinz fragt man sich, in wie weit man von einer Propaganda manipuliert wird. Was man gegen Terror tun könnte. Und gegen die zunehmenden Ressentiments gegen Fremde, die vor Terror und Gewalt geflohen sind. Vermutlich kann man gar nichts tun. Oder nur wenig. Man hofft, dass es im ganzen Land Gespräche gibt, wie es jetzt gerade im Wartezimmer geschieht. Dass die Polizei uns schützt. Dass die Geheimdienste nicht nur Bürger bespitzeln, sondern die wirklich Bösen erkennen. Und dass wir alle uns nicht gegeneinander aufhetzen lassen. Sondern daran denken, dass Krankheit und Leiden alle Menschen betrifft und wir genug zu tun hätten, wenn wir dagegen aktiv werden.

72 ARS MEDICI 2 I 2015