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BERICHT
Chronische Verstopfung
Therapie den Symptomen anpassen
Foto: vh
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Patienten, die mit chronischen Obstipationsbeschwerden in die Praxis kommen, waren in der Regel mit ihrem Problem schon bei anderen Ärzten. Sich die Symptome genau beschreiben zu lassen, sei sehr wichtig sowohl für die Abklärung als auch für die Therapie, betonten zwei Expertinnen an der United European Gastroenterology Week, und erklärten, worauf zu achten sei.
Etwa 40 Prozent der Patienten mit anorektaler
Dysfunktion haben eine Überlappung von Ver-
stopfungssymptomen und Stuhlinkontinenz,
Obstipation ist dabei aber das häufigere Sym-
ptom. Bei der Abklärung sei es deshalb wichtig,
nach den Symptomen zu fragen und nicht nur
nach der Anzahl Stuhlgänge, empfahl PD Dr.
Henriette Heinrich, St.-Anna-Klinik, Luzern,
und Universität Zürich. Für die Abklärung
PD Dr. Henriette Heinrich
wichtig sind auch die eingenommenen Medikamente, die eventuell als Nebenwirkung eine
Obstipation auslösen. Zur klinischen Untersu-
chung gehöre die äusserst unbeliebte digital-
rektale Untersuchung, die jedoch mit einer sehr
hohen Detektionsrate die beste Testmethode
zur Untersuchung des Sphinktertonus dar-
stelle, so Heinrich. Erfahrene Untersucher ent-
decken damit Dyssynergien zu 73 Prozent (vs.
anorektale Manometrie) bei Patienten mit
chronischer Verstopfung, und die Erkennungs-
rate für einen normalen analen Ruhe- bezie-
Prof. Maura Corsetti
hungsweise Pressdruck liegt bei 86 und 82 Pro-
zent (1). Diese einfache, günstige und sehr in-
formative Untersuchung sollte viel häufiger durchgeführt
werden, so Heinrich.
Reizdarm oder funktionelle Obstipation?
Für die medikamentöse Therapie der chronischen Obstipation sei es in einigen Punkten wichtig zu wissen, ob der Patient unter einer funktionellen Obstipation leide oder unter einem Reizdarmsyndrom mit Obstipation als Hauptsymptom (irritable bowel syndrome with constipation, IBS-C), erklärte Prof. Maura Corsetti, Nottingham Digestive Diseases Biomedical Research Centre, Nottingham (UK), an der UEG-Week. Von einer funktionellen Obstipation ist die Rede, wenn während der letzten 3 Monate 2 der folgenden Symptome aufgetreten sind: s über 25 Prozent der Stuhlgänge sind schmerzhaft s über 25 Prozent der Stühle sind klumpig oder hart s über 25 Prozent der Entleerungen fühlen sich inkomplett
an s bei über 25 Prozent der Stuhlgänge besteht das Gefühl
einer anorektalen Verstopfung oder Blockade
s bei über 25 Prozent der Entleerungen wird digital nach-
geholfen
s weniger als 3 spontane Defäkationen pro Woche.
Treten zusätzlich wiederkehrende abdominale Schmerzen
auf, ist das ein Hinweis auf ein IBS-C (2).
Die Behandlung der chronischen Obstipation teilt sich ge-
mäss einem neuen Behandlungsschema (3) in 4 Schritte auf.
Im ersten Schritt sollen Lebensstilmodifikationen angeregt
werden, insbesondere eine Ernährung mit mehr Faseranteil,
Flüssigkeit, Probiotika und auch mehr Bewegung.
Der zweite Schritt besteht aus der Gabe von osmotischen
Laxanzien wie beispielsweise Polyethylenglykol (bzw. Ma-
crogol) (1–2 Sachets/Tag), wenn die Massnahmen der ersten
Stufe nicht erfolgreich waren. Reicht das nicht aus, kann mit
stimulierenden Laxanzien wie Bisacodyl oder Picosulfat
kombiniert werden. Bleibt der Erfolg auch damit aus, kann
bei Patienten mit funktioneller Obstipation die Kombination
oder der Wechsel auf das Prokinetikum Prucaloprid (1–2 mg/
Tag) helfen. Für Patienten mit IBS-C besteht der nächste
Schritt aus der Gabe von Linaclotid 290 µg oder anderen
Sekretagoga. Bei Patienten mit funktioneller Obstipation
stellt die Gabe von Linaclotid (in halber Dosierung) oder
anderen Sekretagoga den nächsten und letzten Schritt nach
dem erfolglosen Laxanzienversuch dar.
Wenn sich die Obstipationssymptome bei IBS-C-Patienten
verbessern, jedoch die Schmerzen persistieren, können Neu-
romodulatoren oder Spasmolytika einen Versuch wert sein.
Bei Patienten, denen trotz all diesen Massnahmen keine Sym-
ptomlinderung verschafft werden kann, sind weitere Unter-
suchungen zur anorektalen Funktion angezeigt. Dazu gehö-
ren der Ballonexpulsionsstest, die Defäkografie und die ano-
rektale Manometrie. Liefern diese Untersuchungen Hinweise
auf eine abnormale Funktion, kann der Patient einer Biofeed-
back-Therapie oder anderen alternativen Methoden je nach
lokal verfügbarer Expertise zugewiesen werden.
s
Valérie Herzog
Quelle: United European Gastroenterology Week (UEGW), 3. bis 5. Oktober 2021, virtuell.
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Referenzen: 1. Tantiphlachiva K et al.: Digital rectal examination is a useful tool for
identifying patients with dyssynergia. Clin Gastroenterol Hepatol. 2010;8(11):955-960. doi:10.1016/j.cgh.2010.06.031 2. Mearin F et al.: Bowel Disorders. Gastroenterology. 2016;S00165085(16)00222-5. doi:10.1053/j.gastro.2016.02.031 3. Corsetti M et al.: Chronic constipation in adults: Contemporary perspectives and clinical challenges. 2: Conservative, behavioural, medical and surgical treatment. Neurogastroenterol Motil. 2021;33(7):e14070. doi:10.1111/nmo.14070
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