Transkript
EDITORIAL
Die Coronapandemie hat in den letzten 2 Jahren dramatische Situationen hervorgerufen, Biografien verändert, Leben vernichtet, Bewegungsfreiheit und Sozialkontakte eingeschränkt. Umso schöner ist es, das Gefühl zu haben, alles sei vorbei und man könne seine sozialen Bedürfnisse wieder so ausleben wie zuvor. Niemand, so scheint es zumindest an diesen grossen Kongressen, möchte sich ernsthaft damit auseinandersetzen, was der kommende Winter bringen mag. Zu gross ist das Nachholbedürfnis.
Lerneffekt? Wollen wir das?
Der vergangene Sommer war in vielerlei Hinsicht ein besonderer. Ein besonders sonniger, ein besonders warmer und ein besonders kontaktreicher. Man hatte schliesslich grossen Nachholbedarf, sich zu treffen und sich persönlich in physischer Präsenz auszutauschen. Es fanden auch wieder grosse nationale und internationale Kongresse statt, und es war wieder wie früher – als wenn nichts dazwischen diesen Betrieb je lahmgelegt hätte. Am europäischen Herzkongress (ESC) in Barcelona waren über 20 000 Kollegen aus mehr als 30 Ländern zugegen, und zum europäischen Gastroenterologenkongress (UEGW) nach Wien strömten über 10 000 Ärztinnen und Ärzte.
Man wurde zwar überall an den Kongressen auf Plakaten auf den Nutzen des Masketragens aufmerksam gemacht, und es standen auch ausreichend Behälter mit Desinfektionsmitteln für die Hände zur Verfügung. Das Kongressvolk strömte aber achtlos und maskenlos an ihnen vorbei und ergoss sich unmaskiert in die Vortragssäle. Man lag sich entgegen den Empfehlungen auf dem Plakat wieder freudig in den Armen, schüttelte fleissig Hände.
Man kann zwar nicht behaupten, die Kongressteilneh-
mer wüssten die Konsequenz ihres Handelns bezie-
hungsweise Unterlassens nicht zu beurteilen, doch will
das momentan einfach keiner wissen. Man verdrängt
es lieber. Vielleicht hat man auch einfach ganz andere
Sorgen. Mediziner sind auch nur Menschen!
s
Valérie Herzog
ARS MEDICI 21 | 2022
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