Transkript
EDITORIAL
Ganz einfach!
Die Gesundheitskosten steigen weiter. Was sollten sie auch anderes tun? Eigentlich müsste der Kostenanstieg in der Schweiz noch viel dramatischer ausfallen als anderswo, schliesslich sind wir neben Luxemburg das Land mit der grössten jährlichen Zuwanderung. Was man den Deutschen 2015 anlässlich der Flüchtlingskrise vorzurechnen versuchte, trifft heute ähnlich für die Schweiz zu. Bei einer Ärztedichte von 4,5 pro 1000 Einwohner stieg 2015 der planerisch ungedeckte Bedarf, der über den «natürlichen» Ersatz aller ausscheidenden Ärzte hinausging, infolge der ungeplanten Zuwanderung von 1 Million Menschen pro Jahr um 4500 Mediziner. (Die gleiche Rechnung liess sich anstellen für Pflegepersonal, Physiotherapeuten und -therapeutinnen, Logopädinnen usw.). Woher nehmen? Bei den Kliniken war die Problematik ähnlich: Bei einem Bestand von rund 800 Krankenhausbetten pro 100 000 Einwohner stieg 2015 der ungeplante Bedarf innert eines Zuwanderungsjahres um rund 8000. Das entspricht je nach Klinikgrösse 40 Spitälern à 200 Betten (inklusive Personal), die fehlten oder neu gebaut oder innerhalb der bestehenden Kliniken hätten geschaffen werden müssen, um die Qualität der Gesundheitsversorgung beizubehalten. Natürlich war das – ganz einfach – illusorisch, auch wenn aus ideologischen Gründen anderes behauptet wurde. Sieben Jahre später steht die Schweiz vor einem ähnlichen Problem. Die Bevölkerungszahl steigt jährlich netto um rund 0,8 Prozent oder etwa 70 000 Menschen. Sie alle möchten medizinisch – ambulant wie stationär – gut
versorgt werden. Und das bei steigenden Ansprüchen,
besseren technischen und pharmazeutischen Angebo-
ten und angesichts einer Bevölkerung, die allein des zu-
nehmenden Alters wegen immer mehr medizinische Be-
handlung benötigt. Wenn die Zahl der Ärzte (und ihrer
Pensen!) und Kliniken damit nicht Schritt hält, dann …
– ganz einfach – verschlechtert sich unweigerlich die
durchschnittliche Qualität der medizinischen Versor-
gung. Ärzte (wie Pflegende, Altersbetreuende usw.)
haben – Work-Life-Balance und bürokratische Anforde-
rungen tragen das Ihre dazu bei – immer weniger Zeit für
ihre Patienten. Herr Schweizer erlebt das, wenn er dum-
merweise am Samstag krank wird und einen Arzt sucht.
Vor 30 Jahren rief man in der Praxis an, heute führt der
Weg in die (volkswirtschaftlich teurere) Poliklinik, wo
man nach längerer Wartezeit von einem unbekannten
Arzt oder einer unbekannten Ärztin von unbekannter
Qualifikation befragt, allenfalls behandelt oder auf
nächste Woche vertröstet wird.
Für einen Hausarzt, eine Hausärztin bedeutet diese Ent-
wicklung: immer mehr und medizinisch anspruchsvol-
lere Patienten pro Zeiteinheit – selbst wenn er oder sie
seine/ihre Arbeitszeit anpasst. Für Politiker stehen beim
Blick auf die Gesamtsituation die Kosten im Vordergrund.
Logisch: mehr Menschen, mehr Kliniken, mehr medizini-
sche Leistungen gleich höhere Kosten. Allerdings: Nicht
alle Handelnden im Gesundheitswesen tragen gleicher-
massen zu den steigenden Kosten bei. Das ist es, was die
Politiker begreifen und in politisches Handeln umsetzen
sollten: Die Statistiken sind eindeutig und ganz einfach
zu lesen, Hausarztmediziner und -medizinerinnen (sowie
Kinderärzte) lösen 95 Prozent aller Gesundheitspro-
bleme ganz allein, verursachen aber bloss 8 Prozent der
Gesundheitskosten. Tendenz: kaum steigend. Wer spa-
ren will, muss demnach die kostengünstige Hausarzt-
medizin fördern. Es ist doch so einfach. Man muss nur
den Statistiken vertrauen und entsprechend handeln.
Oder wie Philippe Luchsinger, Präsident der Haus- und
Kinderärzte Schweiz, meint: «Die zentrale Funktion von
Haus- und Kinderärztinnen liegt in der Koordination der
Behandlungswege und der Pflege der langjährigen Pa-
tientenbeziehungen. In unseren Praxen stellen wir eine
optimale Patientenbetreuung sicher und haben trotz-
dem die Kosten im Griff.» Ganz einfach.
s
Richard Altorfer
ARS MEDICI 19 | 2022
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