Transkript
FORTBILDUNG
Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen
Aktualisierte S3-Leitlinie
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie hat ihre klinische Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS) kürzlich aktualisiert. In dem umfangreichen Dokument sind einige Kernempfehlungen hervorgehoben, die hier kurz zusammengefasst werden.
HALID BAS
Es gibt keine international einheitliche Definition einer Langzeitschmerztherapie mit Opioiden. Die Leitlinie geht von einer Therapiedauer von mehr als drei Monaten aus. Ziel der Aktualisierung ist die Förderung des verantwortungsvollen Umgangs von Ärzten und Personen des Gesundheitswesens sowie von Patienten mit opioidhaltigen Analgetika. Für Patienten wurde eine zweiseitige Patientenversion herausgegeben. Für Ärztinnen und Ärzte bietet das Dokument Hinweise auf «Praxiswerkzeuge», etwa zur Langzeitopiodtherapie bei Leber- oder Niereninsuffizienz, zum Screening auf Angst, Depression oder Alkoholabhängigkeit oder zur Opioidrotation.
Merksätze
O Die aktualisierte Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS) gibt Hinweise zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dieser Wirkstoffgruppe.
O Vor Beginn einer LONTS sind zusammen mit dem Patienten realistische Therapieziele zu formulieren.
O Der Patienteninformation und -edukation kommt grosse Bedeutung zu; entsprechende Beratungen sind zu dokumentieren.
O Die Wahl von Wirkstoff und Galenik soll unter Berücksichtigung von Begleiterkrankungen, Kontraindikationen, Patientenpräferenzen und bisherigen Therapieerfahrungen erfolgen.
O Primäre Kopfschmerzen, funktionelle Störungen, Fibromyalgiesyndrom, psychische Störungen und Suizidalität gelten als Kontraindikationen für eine LONTS.
O Werden die Therapieziele im Rahmen eines Therapieversuchs nicht erreicht oder führen andere Behandlungsansätze zur adäquaten Schmerzreduktion, ist die LONTS schrittweise zu beenden.
Alle Dokumente sind auf der Webseite der Deutschen Schmerzgesellschaft (www.dgss.org) greifbar.
Chronische Rückenschmerzen, chronischer Arthroseschmerz und chronische neuropathische Schmerzen Die Leitlinie sieht als evidenzbasierte Indikationen für eine LONTS (≥ 3 Monate) chronische Rückenschmerzen, chronischen Arthroseschmerz und chronische neuropathische Schmerzen, wenn eine kurzfristige Therapie zu einer Schmerzreduktion und Besserung der körperlichen Beeinträchtigung geführt hat und die Nebenwirkungen gering blieben (Kasten 1). Diese Empfehlung basiert auf zwei randomisierten offenen Studien von mindestens 52 Wochen Dauer, in denen zwei Opioide verglichen wurden, und auf einer Metaanalyse von elf offenen Fortsetzungsstudien von randomisierten kontrollierten Studien (RCT) mit mindestens zweiwöchiger Dauer. In den Studien waren Buprenorphin (Temgesic®, Transtec®), Fentanyl (z.B. Durogesic® Matrix, Fentanyl Spirig HC® Depotpflaster, Fentanyl-Mepha Matrixpflaster, Matrifen Depotpflaster ), Hydromorphon (z.B. Jurnista®, Palladon®), Morphin (z.B. MST® Continus® oder Generika), Oxycodon (z.B. Oxycontin®, in Targin®), Oxymorphon, Tapentadol (Palexia®) und Tramadol (Tramal® oder Generika) eingesetzt worden.
Andere chronische Schmerzen Für andere Erkrankungen mit Leitsymptom chronischer Schmerz wurden keine plazebokontrollierten RCT mit ausreichender Studiendauer und Patientenzahl gefunden. Bei allen anderen nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen ist eine Behandlung mit Opioiden nur als individueller Therapieversuch einzustufen, da die Datenlage unzureichend ist. Zu solchen möglichen Indikationen zählt die Leitlinie sekundäre Kopfschmerzen, chronische Osteoporoseschmerzen, Schmerzen bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, postoperative Schmerzen, Extremitätenschmerzen bei arteriellen Verschlusskrankheiten oder chronische Schmerzen bei tiefem Dekubitus oder fixierten Kontrakturen (Kasten 1). Allen angeführten Indikationen ist gemeinsam, dass es für sie weder kontrollierte Studien zum Nutzen noch eindeutige Hinweise auf einen Schaden oder negative Auswirkungen gibt und dass auch andere Leitlinien keine negativen Aussagen machen.
Kontraindikationen Die LONTS-Leitlinie rät auch von einer langfristigen Schmerzbehandlung mit Opioiden bei gewissen Krankheits-
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FORTBILDUNG
Kasten 1:
Die Kernempfehlungen der Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS)
Thema
Empfehlung
Basis der Empfehlung
Langzeittherapie (≥ 3 Monate)
Individueller Therapieversuch
Primäre Kopfschmerzen Funktionelle Störungen Fibromyalgiesyndrom Chronischer Schmerz als Leitsymptom psychischer Störungen Nicht verantwortungsvoller Gebrauch opioidhaltiger Analgetika Schwere affektive Störung und/oder Suizidalität Partizipative Entscheidungsfindung Wahl der Pharmakotherapie
Opioidhaltige Analgetika können bei Patienten mit chronischem Rückenschmerz, chronischem Arthroseschmerz und chronischen neuropathischen Schmerzen (Polyneuropathien verschiedener Ätiologie, Postzosterneuralgie), welche unter einer zeitlich befristeten Therapie (4–12 Wochen) eine klinisch relevante Reduktion von Schmerzen und/oder körperlichem Beeinträchtigungserleben bei fehlenden oder geringen Nebenwirkungen angeben, langfristig als Therapieoption angeboten werden.
evidenzbasierte Empfehlung EL3a, offene Empfehlung (starker Konsens)
Bei allen anderen nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen (siehe unten) ist eine Therapie mit opioidhaltigen Analgetika aufgrund unzureichender Datenlage als individueller Therapieversuch anzusehen. Mögliche Indikationen für eine kurzfristige (4–12 Wochen) und langfristige (>12 Wochen) Therapie mit opioidhaltigen Analgetika sind:
konsensbasierte Empfehlung
Sekundäre Kopfschmerzen (z.B. nach Subarachnoidalblutung)
konsensbasierte Empfehlung (Konsens)
Chronische Schmerzen bei manifester Osteoporose (Wirbelkörperfrakturen)
konsensbasierte Empfehlung (Konsens)
Chronische Schmerzen bei anderen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen ausser rheuma- konsensbasierte Empfehlung (Konsens) toider Arthritis (z.B. systemischer Lupus erythematodes, Spondylarthrititiden)
Chronische postoperative Schmerzen (z.B. Postthorakotomie-, Poststernotomie-, Postmastekto- konsensbasierte Empfehlung (Konsens) miesyndrom, nach Bauch- und Hernienoperationen, nach Gesichtsoperationen)
Chronischer Extremitätenschmerz bei ischämischen und entzündlichen arteriellen Verschluss- konsensbasierte Empfehlung (Konsens) krankheiten
Chronische Schmerzen bei Dekubitus Grad 3 und 4
konsensbasierte Empfehlung (Konsens)
Chronische Schmerzen bei fixierten Kontrakturen bei pflegebedürftigen Patienten
konsensbasierte Empfehlung (Konsens)
Alle primäre Kopfschmerzen sollen nicht mit opioidhaltigen Analgetika behandelt werden.
Schmerzen bei funktionellen Störungen sollen nicht mit opioidhaltigen Analgetika behandelt evidenzbasierte Feststellung EL3b, negative
werden.
Empfehlung (starker Konsens)
a. Opioidhaltige Analgetika sollten beim Fibromyalgiesyndrom nicht als Therapieoption angebo- klinischer Konsensuspunkt starker Konsens ten werden.
b. Tramadol resp. Tramadol und Paracetamol können als eine zeitlich befristete Therapie- evidenzbasierte Empfehlung EL4a, negative
option (8–12 Wochen) erwogen werden.
Empfehlung (starker Konsens)
(z.B. Depression, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, generalisierte Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung) sollen nicht mit opioidhaltigen Analgetika behandelt werden.
Bei aktuellem schädlichem Gebrauch oder Weitergabe von Medikamenten an unberechtigte Personen und/oder schwerwiegendem Zweifel am verantwortungsvollen Gebrauch opioidhaltiger Analgetika (z.B. unkontrollierte Medikamenteneinnahmen und/oder anhaltende fehlende Bereitschaft oder Unfähigkeit zur Einhaltung des Behandlungsplans) soll keine Therapie begonnen werden.
EL2b, offene Empfehlung (Konsens) klinischer Konsensuspunkt (Konsens)
Bei schwerer affektiver Störung und/oder Suizidalität soll keine Therapie mit opioidhaltigen konsensbasierte Empfehlung (starker Kon-
Analgetika begonnen werden.
sens)
Im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung sollen mit dem Patienten der mögliche Nutzen und Schaden einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika im Vergleich zu anderen medikamentösen Therapieoptionen sowie zu nicht medikamentösen Behandlungsoptionen besprochen werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Die Wahl der Pharmakotherapie soll unter Berücksichtigung des vorliegenden chronischen Schmerzsyndroms, der Begleiterkrankungen des Patienten, von Kontraindikationen, Patientenpräferenzen, Nutzen und Schaden bisheriger Therapien und dem Nutzen-Risiko-Profil von medikamentösen und nicht medikamentösen Therapiealternativen erfolgen.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
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ARS MEDICI 20 I 2014
FORTBILDUNG
Thema
Empfehlung
Basis der Empfehlung
Monotherapie mit opioidhaltigen Analgetika
Eine alleinige Therapie mit opioidhaltigen Analgetika soll bei chronischen Schmerzsyndromen nicht durchgeführt werden. Selbsthilfeangebote und physikalische und/oder physiotherapeutische und/oder psychotherapeutische Verfahren (inkl. Patientenedukation) und/oder Lebensstilmodifikation sollen eine medikamentöse Schmerztherapie ergänzen.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Therapieziele
Mit dem Patienten sollen individuelle und realistische Therapieziele erarbeitet werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Aufklärung
Eine dokumentierte mündliche und/oder schriftliche Aufklärung inkl. Verkehrs- und arbeits- klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens) platzrelevanter Aspekte des Patienten (evtl. auch der Familie und/oder Betreuer) soll erfolgen.
Titration und Fahrsicherheit
Patienten sollen darauf hingewiesen werden, dass sie während der Dosisfindungsphase und klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens) bei Dosisänderungen nicht Auto fahren sollen.
Differenzialindikation von opioidhaltigen Analgetika
Bei der Auswahl eines opioidhaltigen Analgetikums und seiner Applikation sollen Begleiterkankungen des Patienten, Kontraindikationen für transdermale Systeme oder eine orale Einnahme sowie Patientenpräferenzen berücksichtigt werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
kurz- versus langwirksame Präparate Präparate mit retardierter Galenik bzw. langer Wirkdauer sollten eingesetzt werden.
klinischer Konsensuspunkt (Konsens)
Einnahmeschema
Die Einnahme der opioidhaltigen Analgetika sollte nach einem festen Zeitplan (in Abhängig- klinischer Konsensuspunkt (Konsens) keit von der Wirkdauer des jeweiligen Präparats) erfolgen.
Titration
Die Therapie soll mit niedrigen Dosen begonnen werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Therapieresponder und optimale Dosis
Eine optimale Dosis liegt bei einem Erreichen der zuvor formulierten Therapieziele bei gleich- klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens) zeitigen geringen bzw. tolerablen Nebenwirkungen vor.
Höchstdosen
Eine Dosis von >120 mg/Tag orales Morphinäquivalent soll nur in Ausnahmefällen überschrit- klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens) ten werden.
Langzeittherapie mit opioidhaltigen Analgetika
Eine Therapie > 3 Monate soll nur bei Therapierespondern durchgeführt werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Behandlung von Übelkeit und Erbrechen
Eine antiemetische Behandlung kann bereits zu Beginn der Therapie erfolgen. Nach etwa 2–4 klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens) Wochen soll die Indikation für ein Absetzen der antiemetischen Therapie überprüft werden.
Behandlung von Obstipation
Die Behandlung von Obstipation mit Laxanzien sollte bei den meisten Patienten prophylaktisch begonnen werden. Bei vielen Patienten kann während der gesamten Therapiedauer mit opioidhaltigen Analgetika die Gabe von Laxanzien erforderlich sein.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Medikamentenpause
Nach sechs Monaten soll mit dem Patienten die Möglichkeit einer Dosisreduktion und/oder eines Auslassversuches besprochen werden, um die Indikation der Fortführung der Behandlung und das Ansprechen auf parallel eingeleitete nicht medikamentöse Therapiemassnahmen (z.B. multimodale Therapie) zu überprüfen.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Regelmässige Therapieüberwachung
Bei einer Langzeittherapie mit Opioiden soll in regelmässigen Abständen überprüft werden, ob die Therapieziele weiter erreicht werden und ob es Hinweise für Nebenwirkungen (z.B. Libidoverlust, psychische Veränderungen wie Interesseverlust, Merkfähigkeitsstörungen sowie Sturzereignisse) oder für einen Fehlgebrauch der rezeptierten Medikamente gibt.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Beendigung eines Therapieversuchs
Wenn in der Einstellungsphase (maximal 12 Wochen) die individuellen Therapieziele nicht erreicht bzw. (aus Patienten- und /oder Arztsicht) relevante Nebenwirkungen auftreten, soll die Therapie mit opioidhaltigen Analgetika schrittweise beendet werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
Beendigung einer Langzeittherapie (> 12 Wochen)
a. Wenn die individuellen Therapieziele nicht mehr erreicht bzw. (aus Patienten- und /oder Arztsicht) nicht ausreichend therapierbare bzw. nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten, soll die Therapie mit opioidhaltigen Analgetika schrittweise beendet werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
b. Wenn die individuellen Therapieziele durch andere medizinische Massnahmen (z.B. OP, Bestrahlung, ausreichende Behandlung des Grundleidens) oder physiotherapeutische oder physikalische oder psychotherapeutische Massnahmen erreicht sind, soll die Therapie mit opioidhaltigen Analgetika schrittweise beendet werden.
klinischer Konsensuspunkt (starker Konsens)
EL: Evidenzlevel
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FORTBILDUNG
Kasten 2:
Vorgehen bei Wirkungsabnahme
Bei einer Wirkungsabnahme ist eine Reevaluation durchzuführen. Differenzialdiagnosen bei Wirkungsabnahme sind: O Krankheitsprogression: Bei manchen Erkrankungen kann es (ähn-
lich wie bei einer Tumorerkrankung) zu einer Verschlechterung des Krankheitsbilds kommen, die wiederum zu einer Zunahme der Nozizeption führt. Beispiel Arthrose: fortschreitender Verschleiss des Gelenkknorpels verstärkt die bewegungsabhängigen Schmerzen massiv. O Toleranzentwicklung: Im Rahmen der Dauertherapie kann es zu einer Minderung der analgetischen Wirksamkeit kommen. Als Ursache wird eine Wanderung von Opioidrezeptoren von der Zelloberfläche in das Zellinnere vermutet (Rezeptorinternalisation), wo sie nicht mehr für die analgetische Wirkung zur Verfügung stehen. O opioidbedingte Hyperalgesie: In Einzelfällen wurde bei Opioidtherapie über neurotoxische Nebenwirkungen berichtet, die als Hyperalgesie, manchmal mit anderen neurologischen (Allodynie, Myoklonien) und psychiatrischen Nebenwirkungen (Halluzinationen, Alpträume) auftreten. O Fehlgebrauch, Missbrauch oder Substanzabhängigkeit: Z.B. falsche Dosierung, falsche Applikationsintervalle; nicht bestimmungsgemässe Anwendung durch Patienten. Während sich die körperliche Abhängigkeit vor allem durch Entzugssymptome bei plötzlicher Reduktion oder Absetzen bemerkbar macht, wird die psychische Abhängigkeit vor allem durch das Verlangen nach der regelmässigen Einnahme (Craving) bestimmt.
bildern und Konstellationen ab. So waren sich die Verfasser der Aktualisierung einig, dass primäre Kopfschmerzen nicht mit opiodhaltigen Analgetika behandelt werden sollen, und werteten diese negative Empfehlung noch auf. Die Kombination Tramadol plus Paracetamol (Zaldiar®) hat zwar bei akuten Migräneattacken eine Wirkung gezeigt. Opioide und Tranquilizer sollten dennoch nicht zur Therapie von akuten Migräneanfällen eingesetzt werden, denn Opioide haben nur eine begrenzte Wirksamkeit, rufen häufig Erbrechen hervor und besitzen ein hohes Potenzial für eine Abhängigkeitsentwicklung sowie für medikamentös bedingten Kopfschmerz. Ähnlich argumentiert die Leitlinie beim chronischen täglichen Spannungskopfschmerz, räumt aber ein, dass es möglicherweise ein kleine Subgruppe gebe, die von einer Opioidlangzeittherapie anhaltend profitiert. Auch Schmerzen bei funktionellen Störungen sollen nicht mit opioidhaltigen Analgetika behandelt werden. Dies gilt für das Reizdarmsyndrom (hier wird zu trizyklischen Antidepressiva, selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern [SSRI], Spasmolytika und Ballaststoffen geraten), aber auch für das Fibromyalgiesyndrom (FMS), bei dem Amitriptylin (Saroten® Retard) und Duloxetin (Cymbalta®) als Therapieoptionen angeführt sind. Im Sinne einer offenen Empfehlung erwähnt die Leitlinie bei FMS jedoch Tramadol beziehungsweise die Kombination Tramadol plus Paracetamol als zeitlich befristete Therapieoption (Kasten 1). Zu Kombination Tramadol plus Paracetamol gibt es eine plazebokontrollierte Studie bei 315 Patienten über 12 Wochen. Im Vergleich zu Plazebo resultierten eine Reduktion der Schmerzen und eine
häufigere Reduktion von starken Schmerzen, und die Kombination war hinsichtlich der Verminderung des körperlichen Beeinträchtigungserlebens Plazebo überlegen, hatte jedoch höhere Abbruchraten wegen Nebenwirkungen. Auch bei chronischem Schmerz als Symptom von psychischen Störungen (Depression, somatoforme Schmerzstörung, generalisierte Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung) sollen keine opioidhaltigen Analgetika eingesetzt werden. Dass dem prominent geschilderten chronischen Schmerzgeschehen eine psychische Störung zugrunde liegt, kann oft nur durch eine vertiefte Exploration oder Verlaufsbetrachtung (z.B. Remission nach Depressionsbehandlung) aufgezeigt werden. Wie schon bisher belegt die aktualisierte Leitlinie weitere Krankheitsbilder mit negativen LONTS-Empfehlungen. Dazu gehören chronische Pankreatitis und chronisch entzündliche Darmerkrankungen, ferner auch schwere affektive Störungen mit Suizidalität. Als Kontraindikation muss auch der nicht verantwortungsvolle Gebrauch opioidhaltiger Analgetika hervorgehoben werden.
Praktische Aspekte Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen haben oft hohe Erwartungen an eine Schmerzreduktion durch Medikamente. Aus medizinischer Sicht sind eine mindestens 30-prozentige Schmerzreduktion und/oder Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag (Arbeitswiederaufnahme, Arbeit in Haus oder Garten) sinnvolle Ziele. Dies ist mit dem Patienten schon vor Therapiebeginn zu besprechen. Die Aufklärung des Patienten über Sicherheitsaspekte im Verkehr und am Arbeitsplatz soll mündlich oder schriftlich erfolgen und in jedem Fall dokumentiert werden. Autofahrer sind zu informieren, dass sie während der Dosisfindungsphase und bei Dosisänderungen ihr Fahrzeug nicht lenken dürfen. Bei der Auswahl des Präparats und der Applikationsform sind Begleiterkrankungen, Kontraindikation und Patientenpräferenz zu berücksichtigen. In einem Kommentar erwähnen die Leitlinienverfasser, dass Fentanylpflaster heute in Deutschland zu den am häufigsten verordneten opioidhaltigen Analgetika geworden sind. Nicht immer wird dabei jedoch eine sichere Anwendung garantiert. So kommen Fentanylpflaster häufig bei opioidnaiven Patienten zum Einsatz, und es werden zu hohe Anfangsdosen rezeptiert. Dies kann bei älteren und multimorbiden Patienten gefährlich sein. «Es gibt keine gesicherten Indikationen für eine Therapie mit transdermalen Systemen beim chronischen nicht tumorbedingten Schmerz», hält die Leitlinie fest. Eine Empfehlung für kurz- oder langwirksame Opioidpräparate respektive für eine Einnahme nach Zeitplan oder Bedarf kann aufgrund der Evidenzlage nicht gemacht werden. Die Leitlinie empfiehlt dennoch möglichst Opioide mit langer Wirkdauer und nach festem Zeitplan einzusetzen. Dies geschieht in der Annahme, dass so eine bessere Schmerzreduktion und Therapieadhärenz gewährleistet ist, kann sich aber nicht auf methodisch hochwertige Studien stützen. Bei stabiler Einstellung soll ein Umsetzen auf ein Austauschpräparat nur in Rücksprache mit dem behandelnden Arzt und dem Apotheker erfolgen.
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FORTBILDUNG
Ob ein Patient auf die Schmerztherapie mit Opioiden anspricht und eine ausreichende Verträglichkeit gegeben ist, lässt sich nach Erfahrung der Leitliniengruppe nach 4 bis 6 Wochen beurteilen. Ein gutes Ansprechen zeichnet sich im weiteren Verlauf durch eine fehlende oder höchstens geringfügige Toleranzentwicklung mit fehlender oder geringer Dosissteigerung in einem mehrmonatigen Zeitraum aus. Kohortenstudie aus den USA weisen auf eine Zunahme der Komplikationen bei Tagesdosen über 120 mg Morphinäquivalent hin. In offenen Langzeitstudien von RCT lagen die durchschnittlichen Tagesdosen bei 14 µg/h, 35–50 mg Oxycodon, 360 mg Tapentadol und 300 mg Tramadol. Vor eine Dosiserhöhung über 120 mg Morphinäquivalent ist zu überprüfen, ob eine Toleranzentwicklung oder Opiatabhängigkeit vorliegt, auch bei einer Wirkungsabnahme soll eine Reevalution stattfinden (Kasten 2).
Zum von der Leitlinie angestrebten verantwortungsvollen
Umgang mit opioidhaltigen Analgetika gehört auch eine ord-
nungsgemässe schrittweise Beendigung des Therapieversuchs,
wenn die Therapieziele nicht erreicht werden. Dies gilt auch,
wenn andere medizinische, physiotherapeutische oder psy-
chotherapeutische Massnahmen zum Erreichen der indivi-
duellen Therapieziele führen (Kasten 1).
O
Halid Bas
Quelle: www.dgss.org/lonts
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