Transkript
Chronische Schmerzen
Welche Analgetika für wen?
SCHMERZEN
Foto: zVg
Eine nicht funktionierende Schmerzbehandlung kann etliche Gründe haben, wie beispielsweise ein unpassendes Schmerzmittel. Entscheidend für die richtige Wahl und für eine gute Analgesie ist unter anderem die vorgängige Ermittlung des Schmerzcharakters. Welche Hilfsmittel es dafür gibt und welche Wirkstoffe bei welchen Schmerzen helfen, erläuterte die Schmerzexpertin Dr. med. Petra Hoederath, Klinik Stephanshorn, am FOMF Hausarztmedizin.
Chronische, nicht tumorbedingte Schmerzen
sind häufig. In der Schweiz beträgt die Präva-
lenz etwa 16 Prozent, und die Wahrscheinlich-
keit, an chronischen Schmerzen zu leiden,
steigt mit zunehmendem Alter auf 55 Prozent.
Viele Pflegeheimbewohner leiden an mittelstar-
ken bis starken Schmerzen, nur wenige von
ihnen (25–30%) erhalten eine adäquate Thera-
pie (1).
Dr. med. Petra Hoederath
Zur Erfassung der Schmerzstärke dient eine visuelle numerische Schmerzskala (visuelle
Analogskala, VAS). Die meisten Patienten
könnten ihre Schmerzen damit gut einschätzen, so die Ex-
pertin. Wichtig sei es zudem, den Ort des Schmerzes auf einer
abgebildeten Körperskizze einzeichnen zu lassen. Die
Schmerzlokalisierung kann damit als Ausgangspunkt für das
Assessment dienen. Bei Patienten, die sich nicht äussern kön-
nen, müssen Körpersprache, Gesichtsausdruck, Lautäusse-
rungen und physiologische Indikatoren wie zum Beispiel
Atmung, Puls, Schwitzen oder Gesichtsfarbe zur Schmerz-
erfassung herangezogen werden.
Für eine spätere Behandlung ist die Bestimmung der Schmerz-
art – nozizeptiv oder neuropathisch – essenziell. Das kann
beispielsweise mit dem painDETECT®-Fragebogen anhand
von wenigen Fragen relativ zuverlässig ermittelt werden (2).
Häufig nozizeptiv sind Schmerzen des Bewegungsapparats
(Arthritis, Arthrose), Schmerzen bei chronischen Entzündungen sowie viszerale Schmerzen. Neuropathische Schmerzen werden dagegen durch Nervenschädigungen verursacht, periphere Nervenschädigungen beispielsweise bei einer PostZoster- oder einer Trigeminusneuralgie, zentrale Schädigungen häufig durch Entzündungen des Zentralnervensystems oder durch Rückenmarkverletzungen. Doch gibt es auch den gemischten Schmerz, der beide Komponenten enthält. Das ist sehr häufig bei Rückenschmerz oder auch bei Tumorschmerz der Fall. Von der Diagnose kann oft auf den Schmerzcharakter geschlossen werden (Kasten).
Schmerztherapie multimodal zusammenstellen
Die Schmerztherapie besteht aus den multimodalen Bausteinen Physiotherapie, psychologische Unterstützung, soziale Massnahmen, Medikation, Infiltrationen und Operation. Die Bausteine sollten je nach Problemstellung individuell kombiniert werden. Patienten mit Gelenkschmerzen profitieren beispielsweise häufig schon von einer Infiltration, und bei älteren Patienten sollte eine Operationsindikation nicht per se ausgeschlossen werden, empfahl die Expertin. Wenn der Allgemeinzustand gut ist und dieser eine chirurgische Intervention zulasse, könne eine Operation wie beispielsweise ein Kniegelenkersatz die Lebensqualität erheblich verbessern. Der wichtigste Baustein der multimodalen Therapie ist jedoch die medikamentöse Behandlung.
KURZ & BÜNDIG
� Situationsangepasstes Assessment durchführen. � Schmerztherapie multimodal zusammensetzen. � Schmerzmedikation je nach Schmerzcharakter und Komor-
biditäten auswählen. � Vorsicht bei NSAR und COX-2-Hemmern bei Patienten
> 65 Jahre. � Für eine Opioidtherapie gilt: «Start low, go slow and don’t
stop.»
Schmerzmedikamente je nach Schmerzcharakter
Zur Schmerzmedikation stehen verschiedene Substanzklassen zur Verfügung: s nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) und COX-2-
Hemmer (Celecoxib, Etoricoxib) s trizyklische Antidepressiva (TZA): Amitriptylin, Doxe-
pin, Desipramin s Antikonvulsiva beziehungsweise Serotonin-Noradrenalin-
Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI): Venlafaxin, Duloxetin s Opioide: Morphin, Buprenorphin, Oxycodon, Hydro-
morphon, Fentanyl, Tapentadol. Die Wahl der Medikation erfolgt anhand des Schmerzcharakters und des Wirkmechanismus (Tabelle). Zur Basisanalgesie eignet sich Paracetamol (2000–4000 mg). NSAR
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Diagnose gibt Hinweis auf Schmerzcharakter (Beispiele)
▲ Arthrose in den Gelenken: nozizeptiv ▲ Wirbelsäulenleiden: nozizeptiv-neuropathisch ▲ bekannte Osteoporose: nozizeptiv-neuropathisch ▲ bekanntes Tumorleiden: nozizeptiv-neuropathisch ▲ bekannte gastrointestinale Erkrankungen: viszeraler Schmerz ▲ bekannte Trigeminusneuralgie: neuropahisch ▲ bekannter Herpes zoster: neuropathisch ▲ bekannte Migräne/Kopfschmerzen
und COX-2-Hemmer inhibieren die Prostaglandinsynthese beziehungsweise die Cyclooxygenase und sind deshalb bei nozizeptiv-inflammatorischen Schmerzen indiziert. Sind die Schmerzen zudem krampfartig, ist Metamizol hilfreich. Bei älteren Menschen seien NSAR wegen der Nebenwirkungen keine optimale Wahl mehr, als Alternative seien laut Hoederath Zubereitungen aus der Wurzel der Teufelskralle eine mögliche Option. Bei nozizeptiv-neuropathischen Schmerzen empfehlen sich Antikonvulsiva und TZA. Die Anfangsdosierungen können nach Erfahrung der Referentin jeweils sehr tief angesetzt und bei Verträglichkeit auftitriert werden: Pregabalin 25 bis 300 mg/Tag (bis max. 600 mg bei jungen Patienten), Gabapentin 100 bis 1800 mg/Tag (bis max. 3600 mg bei jungen Patienten), Duloxetin 30 bis 60 mg/Tag (bis max. 120 mg bei jungen Patienten).
Oxycodon, Codein, Pethidin und Hydromorphon sind Agonisten am µ-Opioid-Rezeptor. Buprenophin dagegen ist ein partieller Agonist am µ-Opioid-Rezeptor und ein Antagonist am k-Rezeptor sowie ein Natriumkanalblocker. Methadon ist ebenfalls ein partieller Agonist am µ-Opioid-Rezeptor und antagonisiert zusätzlich den NMDA-Rezeptor. Tapentadol hat in der Kombination als µ-Opioid-Rezeptor-Agonist und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer ebenfalls einen multiplen Wirkmechanismus, Tramadol bindet an den µ-OpioidRezeptor und hemmt zusätzlich die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme. Wird eine Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen notwendig, sollten gemäss S3-Empfehlungen zur Praxis der Opioidtherapie von 2020 (3) gemeinsam mit dem Patienten realistische Ziele gesetzt und die Indikation regelmässig überprüft werden. Ein multimodaler Ansatz ist wichtig. Die Höchstdosis von 120 mg/Tag Morphinäquivalent soll nicht überschritten und ein Absetzmodus der Opioidmedikation besprochen werden. Analgetika mit verzögerter Freisetzung sind zu bevorzugen, und in der Langzeittherapie sollte keine Bedarfsmedikation mit nicht retardierten Analgetika (im Gegensatz zur Palliativmedizin) durchgeführt werden. Ausserdem muss die Fahrsicherheit diskutiert werden. Bei regelmässiger Einnahme von retardierten Opioiden gemäss ärztlicher Verordnung und wenn sich der Patient fahrsicher fühle, dürfe er fahren, so die Expertin. Eine Langzeittherapie mit Opioiden kann jenen Patienten angeboten werden, die mit chronischen Rücken- oder Arthroseschmerzen, Post-Zoster- oder Polyneuropathie nach 4 bis 12 Therapiewochen von Opioiden profitiert haben.
Bei starken Schmerzen: Opioide
Bei stärkeren Schmerzen ist die Gabe von Opioiden zu erwägen. Zu den schwachen Opioiden gehören Tramadol 100 bis 200 mg (alle 8 bis 12 h), Codein 60 bis 120 mg (alle 8 bis 12 h) oder Tilidin 100 bis 200 mg (alle 8 bis 12 h), zu den starken Opioiden zählen Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, Buprenorphin, Fentanyl und Tapentadol. Die verschiedenen Opioide haben unterschiedliche Wirkmechanismen: Die klassischen Opioide wie Morphin, Fentanyl,
Welche Schmerzmittel bei Älteren?
Gewisse Arzneimittel sollten bei älteren Personen eher zurückhaltend verordnet werden. Welche das sind, kann beispielsweise über die FORTA-Liste (FORTA: Fit for the Aged) ermittelt werden (Link). Diese teilt Arzneimittel für bestimmte Indikationsgruppen anhand der vorhandenen Evidenz und der Erfahrungen im Delphi-Verfahren in 4 Kategorien ein (Kategorie A: positiver Nutzen; Kategorie B: wirksam mit Einschränkung bei der Sicherheit; Kategorie C:
Mechanismusorientierte Schmerztherapie
Schmerzcharakter Substanzklasse
nozizeptiv
NSAR (Cave: hohes Alter)
Coxibe: Celecoxib, Valdecoxib, Etoricoxib
Teufelskralle
(nozizeptiv-)neuropathisch Lidocain
Antikonvulsiva: Gabapentin, Pregabalin
Tapentadol
dysfunktional
Tapentadol
TZA: Amitripylin, Doxepin, Desipramin
SNRI: Venlafaxin, Duloxetin
Wirkmechanismus/-ort Prostaglandinsynthese- bzw. COX-Hemmung
Natrium- bzw. Kalziumkanalhemmung, Opioidrezeptorbindung MOR-NRI MOR-NRI, 5HT/NA-Wiederaufnahme-Hemmung
Abkürzungen: NSAR: nicht steroidale Antirheumatika, COX: Cyclooxygenase, TZA: trizyklische Antidepressiva, SNRI: Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, MOR-NRI: µ-Opioid-Rezeptor-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung
Quelle: Dr. P. Hoederath, FOMF Hausarztmedizin 2022
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ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis; Kategorie D: zu vermeiden). In der Indikation chronische Schmerzen figuriert Paracetamol in Kategorie A. NSAR sind wegen ihrer gastrointestinalen, kardialen, zerebrovaskulären und renalen Nebenwirkungen beziehungsweise Toxizitäten in Kategorie D (ausser Naproxen). Dennoch erhielten viele ältere Patienten eine Dauertherapie mit dieser Substanzklasse, bedauerte Hoederath. Metamizol (FORTA-Kategorie B) wirkt analgetisch mit vergleichbarer Wirkstärke wie NSAR, hat aber noch eine zusätzliche spasmolytische Komponente. Die gastrointestinalen, renalen und kardialen Nebenwirkungen fehlen, dafür ist es potenziell hämatotoxisch. In seltenen Fällen kann sich eine Agranulozytose entwickeln, vor allem zu Beginn und in Kombination mit anderen Risikomedikamenten. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit muss Metamizol zur Schmerzkontrolle mehrmals täglich verabreicht werden. Bei intravenöser Gabe sei auf einen möglichen Blutdruckabfall zu achten, so Hoederath. Opioide sind in Kategorie B bis C, unter anderem deshalb, weil für Patienten > 70 Jahre nur wenige Studiendaten existieren. Gegenüber NSAR haben Opioide aber einen entscheidenden Vorteil: Sie sind aus internistischer Sicht nicht organ-
toxisch. Tapentadol (Kategorie C) beispielsweise hat ein
günstiges Nutzen-Risiko-Profil für das Alter, jedoch fehlen
noch Studiendaten für diese Altersklasse. Bei der Verabrei-
chung von Opioiden muss zudem beachtet werden, dass sich
Häufigkeit und Ausprägung der Nebenwirkungen mit zu-
nehmendem Alter und Multimorbidität verändern können.
Bei einer Niereninsuffizienz sollten Opioide vorsichtig do-
siert werden, mit Ausnahme von Tapentadol, bei dem es bei
leichter bis mittlerer Niereninsuffizienz keine Dosisanpas-
sung brauche, so die Schmerzexpertin. Bei Patienten mit Le-
berinsuffizienz können Buprenophin, Fentanyl, Tapentadol
und Tramadol eingesetzt werden. Allerdings sind je nach
Präparat etwaige Einschränkungen zu beachten.
Auch Medizinalcannabis ist in der Schmerztherapie einen
Versuch wert. Das THC-haltige Cannabisöl kann beispiels-
weise mit 10 IE abends (entspricht 1 mg THC/Tag) eindosiert
und bei guter Verträglichkeit schrittweise auftitriert werden.
Diese Praxis habe sich zum Beispiel bei einer Patientin mit
starken vertebralen Schmerzen (VAS 9–10) nach mehrfachen
Rückenoperationen trotz Tapentadol in retardierter Form
bewährt, die Schmerzstärke halbierte sich auf VAS 4–5, so-
dass die Opioiddosis schrittweise reduziert werden konnte.
Die Patientin berichtete ausserdem von einer erheblichen
Verbesserung des Schlafs, und sie hatte keine Nebenwirkun-
gen.
s
painDETECT®-Fragebogen (deutsch) https://www.rosenfluh.ch/qr/paindetect
FORTA-Liste 2021: Arzneimittel für Senioren https://www.rosenfluh.ch/qr/forta
Valérie Herzog
Quelle: «Schmerztherapie im Alltag», FOMF Hausarztmedizin, 4. März 2022, virtuell
Referenzen: 1. Lukas A et al.: Schmerztherapie in deutschen Pflegeeinrichtungen im
europäischen Vergleich. Ergebnisse der SHELTER-Studie. Schmerz. 2015;29(4):411-421. 2. Freynhagen R et al.: painDETECT: a new screening questionnaire to identify neuropathic components in patients with back pain. Curr Med Res Opin. 2006;22(10):1911-1920. 3. Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen (LONTS). https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ 145-003l_S3_LONTS_2020-10.pdf
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