Transkript
SUMMER SCHOOL
Kopfschmerzen
Kopfschmerz wegen zu viel Kopfschmerzmedikamenten: Was tun?
In der aktualisierten Leitlinie zu Therapiestrategien für Patienten mit Kopfschmerzen bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln zur Akuttherapie werden nicht nur altbekannte Substanzen wie Topiramat oder Botulinumtoxin empfohlen. Auch die gegen das «calcitonin gene-related peptide» (CGRP) oder seinen Rezeptor gerichteten Antikörper können in dieser Situation hilfreich sein. Die nicht medikamentösen Massnahmen sind jedoch weiterhin unverzichtbar.
Der übermässige Gebrauch von Schmerzmitteln zur Akutbehandlung bei Kopfschmerzen (medication overuse headache, MOH) kann das Problem verschärfen und letztlich zu häufigeren Kopfschmerzattacken oder gar chronischen Kopfschmerzen führen. Im deutschen Sprachraum sind bis anhin auch die Bezeichnungen MIKS (medikamenteninduzierter Kopfschmerz) und MÜKS (Medikamentenübergebrauchskopfschmerz) verbreitet. Die Leitlinienautoren verwenden ausschliesslich die Abkürzung MOH und empfehlen, diese künftig generell zu nutzen. Die MOH-Prävalenz liegt bei 0,5 bis 2 Prozent der Bevölkerung. Studien in Kopfschmerzzentren ergaben, dass 3 bis 14 Prozent der Patienten mit primär episodischen Kopfschmerzen innert 1 Jahr chronische Kopfschmerzen ent-
wickeln, und die meisten von ihnen verwendeten zu viele Schmerz- und Migränemittel zur Akutbehandlung.
Risikofaktoren
Als wichtigste Risikofaktoren für die Entwicklung von MOH gelten s Migräne oder Spannungstypkopfschmerzen s weibliches Geschlecht s > 10 Kopfschmerztage pro Monat s niedriger sozialer Status s weitere chronische Schmerzerkrankungen s Stress, körperliche Inaktivität, Übergewicht s Rauchen s Suchtverhalten s psychiatrische Erkrankungen (z. B. Depression, Angst-
erkrankung).
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG); in der Redaktionskommission war je ein Delegierter der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft und der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft vertreten.
Wann wurde sie aktualisiert? 2022
Für welche Patienten? Patienten mit Kopfschmerz durch Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln zur Akuttherapie
Was ist neu? ▲ Klassifikation des MOH (medication overuse headache) ▲ Definition von MOH-Risikofaktoren ▲ Spezifizierung der Medikamente, die MOH bewirken können ▲ Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder seinen
Rezeptor bei MOH
Diagnose
Für die Diagnose sind die Anamnese und das Führen eines Kopfschmerztagebuchs entscheidend. Meist lag initial eine Migräne vor. MOH wird je nach verantwortlicher Medikamentenklasse folgendermassen definiert: s ≥ 15 Tage Kopfschmerzen pro Monat s ≥ 10 Tage pro Monat Einnahme von Triptanen, Mutter-
kornalkaloiden, Kombinationsanalgetika oder Opioiden oder ≥ 15 Tage pro Monat Einnahme von Nichtopioidanalge-
tika wie NSAR, ASS oder Paracetamol s Situation besteht seit > 3 Monaten. Auch wenn nur die Summe der beiden Substanzklassen die Kriterien erfüllt, besteht ein MOH. Ein Beispiel: Wenn ein Patient mit ≥ 15 Tagen Kopfschmerzen im Monat an 5 Tagen ein Triptan und an 12 Tagen ein einfaches Analgetikum einnimmt, erfüllt er zwar nicht die Kriterien gemäss den einzelnen Substanzklassen, wohl aber in deren Summe. Aufmerksam sollte man bereits früher werden. Wenn zum Beispiel ein Patient zwar an weniger als 15 Tagen Kopf-
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S1-Leitlinie Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln https://www.rosenfluh.ch/qr/moh
schmerzen hat, aber an ≥ 10 Tagen im Monat Migränemittel oder Kombinationsanalgetika einnimmt, handelt es sich um Medikamentenübergebrauch (medication overuse, MO), der in ein MOH münden könnte. MOH ist aber nicht zwingend die Folge von MO: «Es gibt Patienten, die Triptane an 10 und mehr Tagen im Monat über viele Jahre einnehmen, ohne dass sie eine chronische Migräne entwickeln und ohne dass es zu einer Zunahme der Kopfschmerzhäufigkeit kommt», heisst es in der Leitlinie. Auch Patienten mit Clusterkopfschmerz entwickeln in der Regel kein MOH, obwohl sie mitunter mehrmals täglich Triptane verwenden.
Differenzialdiagnosen
Bei Patienten mit chronischen Kopfschmerzen und MO, die zuvor nicht an episodischen Kopfschmerzen litten, sollten andere Kopfschmerzursachen ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt, wenn sich die chronischen Kopfschmerzen erst in einem Alter von über 50 Jahren entwickelten sowie bei fokal-neurologischen Symptomen oder neuropsychologischen Auffälligkeiten. Die Leitlinie weist insbesondere auf die idiopathische intrakranielle Hypertonie als wichtige komorbide Differenzialdiagnose hin, weil sie mit Migräne assoziiert sein kann. Wenn übergewichtige Frauen von begleitenden Sehstörungen berichten, die nicht wie eine visuelle Aura wirken, und die Kopfschmerzen trotz Medikamentenpause und Prophylaxe persistieren, empfehlen die Leitlinienautoren nicht nur eine bildgebende Diagnostik, sondern auch eine Messung des Liquordrucks.
Therapiestufe 1: Aufklärung
Die Patienten sollen über die Beziehung zwischen der häufigen Einnahme von Kopfschmerzakutmedikation und der Chronifizierung der Kopfschmerzen aufgeklärt werden, um sie zu motivieren, die Einnahme der Akutmedikation zu reduzieren und zu begrenzen. Studien belegen, dass die Schulung und die Aufklärung der Patienten den Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln reduzieren können, sofern es sich um einfache Fälle von MOH handelt. Das gilt insbesondere für Patienten, die nur Triptane oder nur einfache Analgetika einnehmen (Monotherapie) und keine schwerwiegenden psychischen Probleme haben.
Therapiestufe 2: Prophylaxe
Bei Patienten mit einem erhöhten Risiko für MOH sowie bei Patienten mit MOH, bei denen Schulung und Aufklärung nicht den gewünschten Erfolg bringen, ist eine medikamentöse Prophylaxe indiziert. Bei Migränepatienten kommen Topiramat (Topamax® und Generika) oder Botulinumtoxin Typ A infrage sowie, falls diese Mittel nicht vertragen werden oder kontraindiziert sind,
die monoklonalen Antikörper gegen CGRP beziehungsweise seinen Rezeptor: Erenumab (Aimovig®), Fremanezumab (Ajovy®), Eptinezumab (Vyepti®) oder Galcanezumab (Emgality®). Bei Patienten mit Spannungstypkopfschmerz erfolgt die medikamentöse Prophylaxe mit Amitriptylin (Saroten®). Die medikamentöse Prophylaxe soll immer durch nicht medikamentöse Massnahmen ergänzt werden. Dazu gehören Entspannungstechniken, Ausdauertraining, kognitive Verhaltenstherapie und Biofeedback.
Therapiestufe 3: Medikamentenpause
Es ist umstritten, ob die Medikamentenpause beziehungsweise der Medikamentenentzug gleichzeitig mit der Prophylaxe beginnen soll oder ob zunächst die Prophylaxe versucht und nur bei mangelndem Erfolg eine Medikamentenpause eingelegt werden soll. Zu dieser Frage gibt es Studien mit Migränepatienten mit MOH, nicht aber mit Patienten mit Spannungstypkopfschmerz und MOH. Das Fazit der Leitlinienautoren lautet: s Zusammen mit guter Aufklärung können sowohl eine Me-
dikamentenpause als auch eine kontrollierte Reduktion der Akutmedikation bei MOH genauso wirksam sein wie eine medikamentöse Prophylaxe. s Die Kombination mit einer medikamentösen Prophylaxe ist jedoch sinnvoll. s Falls die medikamentöse Prophylaxe nicht wirksam oder nicht möglich ist, sollte zumindest eine Medikamentenpause erfolgen. s Die Medikamentenpause kann bei Patienten mit Analgetika oder Triptanen abrupt starten, bei Patienten mit Opioiden oder Tranquilizern ist ein langsames Ausschleichen notwendig. s Der Entzug kann bei MOH-Patienten ohne relevante Komorbiditäten ambulant durchgeführt werden. Für alle anderen Patienten (z. B. mit Depression, Angsterkrankung, schweren internistischen Erkrankungen, Substanzabusus usw.) und bei bereits erfolglos versuchtem Medikamentenentzug wird ein stationärer Entzug empfohlen. Zur Behandlung von Entzugssymptomen oder Kopfschmerzen während der Medikamentenpause werden trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika (Antiemetika) und die Gabe von Steroiden empfohlen.
Erfolgsaussichten
Die Erfolgsrate der oben skizzierten Stufentherapie beträgt
nach 6 bis 12 Monaten 50 bis 70 Prozent. Das höchste Rück-
fallrisiko besteht im ersten Jahr nach dem Pausieren oder dem
Entzug der Medikamente, und es ist vor allem bei Patienten
mit Opioidübergebrauch hoch. Konsequente Patienteneduka-
tion und eine weitere engmaschige Betreuung reduzieren das
Risiko für einen Rückfall.
s
Renate Bonifer
Quellen: Diener HC et al.: Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (Medication Overuse Headache = MOH). S1-Leitlinie, 2022. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 28. Juni 2022).
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