Transkript
Urologie
Miktion und Inkontinenz
Abklärung und Therapie bei Miktionsstörungen im Kindesalter
Mit etwa 3½ Jahren beginnen Kinder, tagsüber kontinent zu werden, und mit 5 Jahren sind sie es fast alle. Was ist zu tun, wenn das nicht der Fall ist? Am FOMF WebUp Pädiatrie erläuterte Dr. med. Sandra Shavit die Zusammenhänge zwischen Miktionsstörungen und Inkontinenz sowie entsprechende therapeutische Optionen.
Von Inkontinenz spricht man generell erst bei Kindern ab 5 Jahren. «Eine 4-Jährige muss noch nicht kontinent sein», betonte Dr. med. Sandra Shavit, Kinderspital Luzern. Wenn zum Beispiel Eltern auf eine Inkontinenztherapie drängten, weil ihr 4-jähriges, noch nicht kontinentes Kind in den Kindergarten komme, versuche sie ihnen zunächst zu erklären, dass dieses Kind noch gar nicht kontinent sein müsse und gegebenenfalls Windeln tragen solle.
Tabelle:
Befunde bei verschiedenen Miktionsstörungen
Normwerte
Überaktive Blase Urge-Inkontinenz
Miktionsaufschub
Miktionsfrequenz
4- bis 7-mal/ hoch Tag
tief
Miktionsvolumen
4 bis 12 Jahre: klein (Alter × 30) + (< 65%) 30 ml hoch (> 150%)
Inkontinenz
–
ja häufig
Enuresis
– ja nein
Haltemanöver
–
ja häufig
imperativer Harndrang
–
ja ja
Bauchpresse (im EMG – nachweisbar)
nein nein
Harnwegsinfekte
–
gelegentlich häufig
vesikourethraler Reflux –
gelegentlich selten
Blasenwand verdickt –
gelegentlich nein
Flow
eingipflig
eingipflig eingipflig
Restharn
max. 10% der Blasenkapazität, unter 20 ml
nein
selten
Beckenbodenaktivität (im EMG nachweisbar)
–
in der Füllung
nein
Dysfunktionelle Miktion
Minderaktive Blase
normal
tief
normal bis hoch hoch (> 150%)
gelegentlich gelegentlich gelegentlich gelegentlich nein nein nein nein
nein ja
häufig häufig ja Stakkato ja
häufig selten nein fraktioniert ja
während nein der Miktion
Organische Ursachen für Inkontinenz im Kindesalter sind selten; ihr Anteil beträgt weniger als 2 Prozent der Fälle. Meist handelt es sich um Inkontinenz im Zusammenhang mit einer überaktiven Blase, einer dysfunktionellen Miktion oder einem Miktionsaufschub beziehungsweise einer minderaktiven Blase. Die Charakteristika der Miktionsstörungen sind in der Tabelle zusammengefasst. Etwa 4 bis 5 Monate nachdem Kinder tagsüber kontinent sind, sind sie es auch in der Nacht. Miktionsstörungen gehören nicht zu den Ursachen einer Enuresis nocturna, können aber gleichzeitig auftreten. Enuresis nocturna sei letztlich «eine normale Miktion zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort», sagte Shavit. Miktionsstörungen können sehr gut in der Praxis abgeklärt werden. Eine Anamnese einschliesslich Miktionsund Stuhlanamnese, die klinische Untersuchung mit Abklären von Neuro- und Genitalstatus sowie eine Urinanalyse gehören zur Basisabklärung. Eine Restharnbestimmung und die Sonografie der Nieren müssen nicht sofort sein. Das Gleiche gilt für die Uroflowmetrie (ggf. mit nicht invasivem EMG des Beckenbodens). An den Spezialisten überwiesen werden sollten Kinder mit ● kontinuierlichem Harnträufeln ● Restharn (mehr als 10% bis max. 20 ml) ● Harnwegsinfekten mit Fieber ● rezidivierenden Harnwegsinfekten (auch ohne Fieber).
Blasentraining
Blasentraining, gegebenenfalls unterstützt durch medikamentöse Therapie und Biofeedback, ist bei Inkontinenz tagsüber nach Erfahrung der Referentin in über 90 Prozent der Fälle erfolgreich. Die Eltern sollen das Kind alle 2 Stunden zur Toilette schicken. Es sollte entspannt auf der Toilette sitzen und die Füsse gegebenenfalls auf einem Schemel abstützen können. Falls ein Intervall von 2 Stunden für das Kind nicht machbar ist, gilt es zunächst abzuklären, woran das liegen könnte (Restharn, Obstipation, überaktive Blase?). Bei einem Kind ab 6 Jahren, ohne Restharn und ohne Obstipation setze sie in solchen Fällen Antimuskarinika ein, sagte Shavit. Bei jüngeren Kindern mit Obstipation rate sie den Eltern, dem Kind vorübergehend Windeln anzuziehen, um «Ruhe ins System zu bekommen».
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Überaktive Blase
Typisch ist ein imperativer Harndrang mit Haltemanövern. Die Blase hat zwar eine normale Grösse, aber die funktionelle Blasenkapazität ist klein. Blasentraining ist die Therapie der Wahl. Falls das nicht ausreicht, kann man – mit Vorsicht – Kinder ab 6 Jahren mit Antimuskarinika behandeln. Seit Oxybutinin (0,5 mg/kg KG einschleichend; nicht bei Kindern mit ADHS) hierzulande nicht mehr lieferbar sei, verbleibe als Off-label-Option in der Schweiz nur noch Solifenacin, sagte Shavit. Diese Substanz ist nur in Tablettenform verfügbar (Dosierung: 0,25 mg/kg KG, d. h. in den meisten Fällen 5 mg 1-mal/Tag; Absetzversuch nach 4 Monaten). Eine Alternative ist die transkutane sakrale Neuromodulation. Sie wird mit einem TENS-Gerät zu Hause 1-mal pro Tag für 1 Stunde durchgeführt. «Vor allem bei jüngeren Kindern kann damit in bis zu 80 Prozent der Fälle eine Verbesserung erreicht werden», sagte die Referentin. Generell muss eine Obstipation immer zuerst behandelt werden, bevor man die Urininkontinenz angeht. Antimuskarinika wirken obstipierend und sollten bei Kindern mit Obstipation gemieden werden.
Miktionsaufschub
Der Miktionsaufschub ist typisch für Kinder, die immer Wichtigeres zu tun haben, als zur Toilette zu gehen. Imperativer Harndrang und ausgeprägte Haltemanöver sind die Folge. Wenn der Detrusor überdehnt wird, braucht es für die Miktion die Bauchpresse. Es kommt zu Restharn, und das Risiko für Harnwegsinfektionen steigt. Die Therapie der Wahl ist auch hier das Blasentraining (alle 2 bis 3 Stunden zur Toilette schicken). Bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen ist eine Antibiotikaprophylaxe hilfreich, bis die eingeleiteten Massnahmen greifen können. Auch hier ist darauf zu achten, eine möglicherweise ebenfalls vorhandene Obstipation zu behandeln.
Stakkato-Miktion
Bei Kindern mit einer dysfunktionellen Miktion ist die Koordination von Detrusor und Sphinkter noch nicht ausgereift. Es werden normale Urinportionen ausgeschieden, aber im Stakkato, weil der Beckenboden während der Miktion nicht entspannt ist. Das kann zu Restharn, rezidivierenden Harnwegsinfektionen, Balkenblase und möglicherweise Reflux führen. Blasentraining und Biofeedback (Physiotherapie durch speziell geschulte Physiotherapeuten) sowie eine Antibiotikaprophylaxe sind bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen wirksam. Eine Liste mit Adressen von speziell geschulten Physiotherapeuten kann bei der Referentin angefordert werden (sandra.shavit@luks.ch). Falls Biofeedback allein nicht ausreicht, kann die Gabe eines Alphablockers erwogen werden. Eine ganz einfache Übung kann man einem Kind mit Stakkato-Miktion gleich mit auf den Weg geben: Summen während der Miktion! Das entspannt den Beckenboden.
Alle 10 Minuten zur Toilette?
Eine rätselhafte Miktionsstörung ist das «extraordinary daytime only urinary frequency syndrome». Von einem Tag auf den anderen gehen diese Kinder tagsüber sozusagen alle 10 Minuten zur Toilette. Sie sind nicht inkon-
tinent und schlafen nachts durch. Die Ursache ist unbekannt, und das Phänomen verschwindet nach 6 bis 12 Monaten von selbst. Das Spasmolytikum Butylscopolamin (Buscopan®) habe sich hier bewährt, sagte die Referentin. Sie hat für diese Kinder aber noch einen ganz einfachen Tipp: Die Kinder sollen bis 20 zählen und erst danach zur Toilette gehen – falls es dann noch sein muss.
Vaginaler Reflux
Dem vaginalen Reflux kommt man auf die Spur, wenn man inkontinente Mädchen fragt, ob das Problem vor oder nach der Miktion besteht. Antworten sie mit «danach», handelt es sich wahrscheinlich um vaginalen Reflux: Während der Miktion tröpfelt der Harn in die Vagina und läuft beim Aufstehen heraus. Die Referentin hatte zwei Tipps für diese Mädchen: erstens die Toilette rittlings benutzen oder die Beine gut abstützen und zweitens das Genital im Stehen reinigen, mit etwas Druck auf den Damm.
Enuresis nocturna
Knaben sind davon häufiger betroffen als Mädchen. Die durchschnittliche Prävalenz liegt im Alter von 5 Jahren bei 10 bis 15 Prozent, und bei den 10-Jährigen sind es noch 5 Prozent. Eine Enuresis nocturna sei per se kein Anzeichen für psychologische, psychiatrische oder kognitive Störungen, betonte die Referentin. Es scheint eine genetische Veranlagung für das verzögerte Entwickeln der nächtlichen Kontinenz zu geben, denn das Risiko beträgt 40 Prozent, wenn ein Elternteil in seiner Kindheit davon betroffen war, und 75 Prozent, wenn das für beide Eltern zutrifft. Die Bestimmung des spezifischen Uringewichts am Morgen (Normwert > 1015 g/ml) ist indiziert, wenn nachts viel getrunken wird oder die tägliche Trinkmenge generell extrem hoch ist: «Ich werde hellhörig, wenn man mir sagt, dass das Kind nachts viel trinken muss oder beispielsweise ein 5-Jähriger 2 bis 3 Liter pro Tag trinkt», sagte Shavit. Auf jeden Fall zur Basisdiagnostik gehören ein Urinstreifentest, die Familienanamnese, die Anamnese bezüglich Miktion, Harnwegsinfektionen und Stuhlgang sowie die klinische Untersuchung. Sinnvoll ist ein Miktionsprotokoll über 2 Tage, um zu überprüfen, ob Miktion und Kontinenz tagsüber normal sind. Wenn eine Therapie mit einem Weckapparat erfolgt, sollte man diesen nach 3 Monaten probehalber absetzen. Die Rückfallquote bei Enuresis nocturna sei hoch (> 70%), aber Weckapparate hätten sich bei Kindern mit einer funktionell verkleinerten Blasenkapazität bewährt, die auch tagsüber inkontinent sind, so Shavit. Als medikamentöse Option bei Enuresis nocturna nannte sie Desmopressin als Sublingualtablette (Minirin®-Melt), wobei alle 3 bis 4 Monate versucht werden sollte, das Medikament abzusetzen.
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von Dr. med. Sandra Shavit: «Miktionsstörungen und mehr». FOMF WebUp Pädiatrie am 8. Februar 2022.
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