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Schwerpunkt
Wenn Zähne ausgeschlagen werden
Was Kinderärztinnen und Kinderärzte über Zahnunfälle wissen sollten
Kinder und Jugendliche, bei denen bleibende Zähne durch einen Unfall brechen, verschoben oder ausgeschlagen werden, können in den meisten Fällen erfolgreich behandelt werden. Wichtig ist dafür jedoch das richtige Handeln unmittelbar am Unfallort.
Von Andreas Filippi
AZahnunfälle bei Kindern und Jugendlichen sind häufig. Mehr als jedes zweite Kind erleidet ein Zahntrauma, bevor es das 16. Lebensjahr erreicht. Unfälle, die das Milchgebiss betreffen (etwa 3 von 10 Kindern) sind dabei etwas häufiger als Unfälle, die das bleibende Gebiss schädigen (etwa 2,5 von 10 Kindern und Jugendlichen). In den allermeisten Fällen sind die mittleren Schneidezähne des Oberkiefers betroffen, deutlich seltener die seitlichen Schneidezähne im Oberkiefer oder die Schneidezähne im Unterkiefer und nur sehr selten andere Zähne (Eckzähne, Prämolaren, Molaren). Zahnunfälle passieren besonders häufig in der Altersgruppe der 3- bis 4-Jährigen (Milchzähne), bei den 8- bis 12-Jährigen (sog. Wechselgebiss, bei dem die Wurzeln der bleibenden Zähne oft noch nicht ausgewachsen sind) sowie zwischen dem 16. und 20. Lebensjahr. Jungen sind in jedem Alter deutlich häufiger betroffen als Mädchen. Vorstehende Schneidezähne des Oberkiefers (sog. Protrusion), ein insuffizienter Lippenschluss, gewisse Sportarten, Hyperaktivität bei Kindern, kindliches Übergewicht und der letzte Platz in der Geburtsreihenfolge bei mehreren Geschwistern erhöhen das Risiko für Zahnunfälle.
nicht ausreichender Erstversorgung zum Zahnverlust führen (1, 2). Gerade bei Heranwachsenden ist dann ein Zahnersatz, wie wir ihn von Erwachsenen kennen, nicht beziehungsweise noch lange nicht möglich. Deshalb ist wichtig, dass nach einer unfallbedingten Verletzung bleibender Zähne das richtige Verhalten am Unfallort bekannt ist. Das gilt insbesondere für Institutionen, bei denen Kinder und Jugendliche professionell betreut werden: Spielgruppe, Kindergarten, Primarschule, Sportclub und Schwimmbad. Das Zahnunfallzentrum des Universitären Zentrums für Zahnmedizin Basel (UZB) hat auf seiner Homepage entsprechende Informationsposter, wie man sich unmittelbar nach einem Zahnunfall am Unfallort verhalten sollte (www.zahnunfallzentrum.ch, Abbildungen 1 und 2). Diese Informationen müssen auch Kinderärztinnen und Kinderärzten bekannt sein, da diese gegebenenfalls von den Erziehungsberechtigten oder Aufsichtspersonen unmittelbar nach einem Unfall telefonisch kontaktiert werden könnten. Gleiches gilt für jede Notaufnahme eines Spitals.
Arten von Zahnunfällen
Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Zahnunfällen: ● Frakturen (der Zahn bricht, egal wo) ● Dislokationsverletzungen (der Zahn wird in seiner Position verschoben, egal wohin). Zusätzlich sind Begleitverletzungen des umgebenden Knochens und der Weichgewebe möglich und typisch. Selbstverständlich und grundsätzlich muss nach jedem Zahnunfall ein Schädelhirntrauma ausgeschlossen und die Tetanusimmunität überprüft werden. Ebenfalls sind alle Arten möglicher Begleitverletzungen auszuschliessen.
Verhalten am Unfallort
Insbesondere im bleibenden Gebiss können schwere Zahnunfälle bei falschem Verhalten am Unfallort oder bei
Abbildung 1: Verhaltensregeln nach einem Milchzahnunfall. Als Poster für die Praxis zum Download verfügbar unter: https://www.zahnunfallzentrum.ch/pdf/milchzahnunfall.pdf
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Abbildung 2: Verhaltensregeln nach einem Unfall bei bleibenden Zähnen. Als Poster für die Praxis zum Download verfügbar unter: https://www.zahnunfallzentrum.ch/pdf/zahnunfall.pdf
Jeder Zahnunfall im Milchgebiss und im bleibenden Gebiss muss grundsätzlich von einer Zahnärztin oder einem Zahnarzt angesehen, befundet und diagnostiziert werden. Die Dringlichkeit dieser Diagnostik (sofort nach dem Unfall, noch am Unfalltag oder in den ersten Tagen nach dem Unfall) ist auf den Postern entsprechend angegeben. Sämtliche Zahnunfälle müssen den Kostenträgern (Krankenkasse, Unfallversicherung) gemeldet werden, da die Folgen von Zahnunfällen in der Schweiz lebenslang finanziell gedeckt sind und manche Komplikationen oder gar Spätfolgen erst nach vielen Jahren sichtbar werden können.
Zahnunfälle bei Milchzähnen
Zahnunfälle im Milchgebiss sind in der Regel Dislokationsverletzungen, weil der Knochen weicher ist als der Zahn und nachgibt, bevor der Zahn bricht (Abbildung 3). Dislokationsverletzungen können dazu führen, dass das
Kind nicht mehr richtig zubeissen kann (Abbildung 4). Dann muss am Unfalltag entsprechend interveniert werden. Ob die Zähne in ihre Originalposition reponiert werden sollen oder entfernt werden müssen, muss die Zahnärztin oder der Zahnarzt entscheiden. Neben dem eigentlichen Unfall spielt gerade in dieser Altersgruppe die Behandlungsfähigkeit des Kindes eine Rolle, also ob eine in manchen Fällen erforderliche Intervention in Lokalanästhesie oder unter Lachgas möglich ist oder ob eine Intubationsnarkose erforderlich wird. Wenn unfallverletzte Milchzähne erhalten werden sollen und können, ist der zeitliche Horizont limitiert. Er endet mit dem Zahnwechsel, der etwa ab dem 6. Lebensjahr beginnt. Aus zahnärztlicher Sicht ist es wichtig, dass Kinder nach einem Milchzahntrauma bis zum Zahnwechsel regelmässig kontrolliert werden. Auch oft unscheinbare entzündungsbedingte Komplikationen nach einem Milchzahnunfall können zu Schäden der darunterliegenden bleibenden Zähne führen. Gerade nach Unfallverletzungen im Milchgebiss muss der Wechsel der Zähne kontrolliert und begleitet werden. Nicht selten haben nach einem Milchzahnunfall die bleibenden Zähne eine andere Oberfläche oder eine andere Farbe, und sie brechen nicht an der richtigen Stelle oder möglicherweise gar nicht durch. Das muss erkannt und entsprechend behandelt werden.
Zahnunfälle bei bleibenden Zähnen
Nach Zahnunfällen im bleibenden Gebiss muss am Unfallort, bei der Erstversorgung und bei der Weiterbehandlung alles dafür getan werden, dass die betroffenen Zähne so lange wie möglich (möglichst lebenslang) erhalten werden können. Nach Frakturen der Zahnkrone oder Lockerungen der Zähne ist dies praktisch immer möglich (Abbildung 5). Nach schweren Dislokationsverletzungen oder ungünstigen Zahnfrakturen bis in den Wurzelbereich hinein ist der Behandlungsaufwand sehr hoch. Solche Zähne können oft nur dann über lange Zeiträume hinweg erhalten werden, wenn das Verhalten am Unfallort vorbildlich war und die zahnärztliche Betreuung auf hohem Niveau stattfindet. Ein typisches Beispiel dafür ist der ausgeschlagene bleibende Zahn (Avulsion). Ausgeschlagen bleibende Zähne
Abbildung 3: Situation wenige Tage nach Intrusion von drei Milchschneidezähnen bei einem 3-jährigen Kind, die Zähne werden in den Knochen hineingedrückt und sind teilweise klinisch nicht mehr zu sehen (3).
Abbildung 4: Dislokationsverletzungen im Milchgebiss bei einem 5-jährigen Patienten. Das Kind kann nicht mehr zubeissen (4).
Abbildung 5: Fraktur der Zahnkrone des rechten mittleren oberen bleibenden Schneidezahns bei einem 10-jährigen Patienten
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können nur dann physiologisch wieder einheilen, wenn die Rettungskette am Unfallort funktioniert. Betroffene Zähne müssen so schnell wie möglich nach einem Unfall in eine Zahnrettungsbox eingelegt werden (Dentosafe® Zahnrettungsbox oder miradent SOS Zahnbox). Die Zahnrettungsbox enthält ein Organtransplantationsmedium, das speziell für Zähne entwickelt wurde. In diesem Medium können die hochempfindlichen Zellen auf der Wurzeloberfläche, die für ein Wiedereinheilen benötigt werden, bis zu 48 Stunden überleben. Andere Lagerungsmedien wie Milch oder Kochsalzlösung können das Überleben der Zähne nur für kurze Zeiträume gewährleisten, Speichel oder Wasser sind unphysiologische Lagerungsmedien, die sehr schnell zum Tod der Zellen auf der Wurzeloberfläche führen. Wenn diese Zellen die Rettungskette nicht überleben, kann der Zahn nicht richtig einheilen, und er geht in absehbarer Zeit verloren. Je jünger die Kinder zu diesem Zeitpunkt sind, umso höher wird dann der Behandlungsaufwand.
Fazit
Zahnunfälle bleibender Zähne können heute in den meisten Fällen erfolgreich behandelt werden. Voraussetzung ist jedoch ein richtiges Verhalten unmittelbar am Unfallort. Besonders wichtig ist hierbei, abgebrochene Zahnstücke zu suchen und ausgeschlagene Zähne so schnell wie möglich in eine Zahnrettungsbox einzulegen (siehe Abbildung 2).
Bei Unfällen im Milchgebiss wird maximal ein temporärer Zahnerhalt angestrebt. Primär behandelt werden muss, wenn Zähne das Zubeissen behindern, wenn Zähne drohen spontan verloren zu gehen oder wenn der Nerv des Zahns (Pulpa) freiliegt.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Andreas Filippi Leitung Klinik für Oralchirurgie Leitung Zahnunfallzentrum (gem. mit Prof. Dr. Roland Weiger) Leitung Zentrum für Speicheldiagnostik und Mundtrockenheit (gem. mit Prof. Dr. Tuomas Waltimo) Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB Mattenstrasse 40 4058 Basel E-Mail: andreas.filippi@unibas.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keinerlei Interessenskonflikte bestehen.
Literatur: 1. www.zahnunfallzentrum.ch 2. Filippi A: Verhalten am Unfallort nach Zahntrauma. Quintessenz. 2009; 60:541-545. 3. Filippi A, Erb J: Milchzahnintrusion - oralchirurgische Aspekte. Quintessenz. 2020;72:306-312. 4. Filippi A, Erb J: Palatinale Dislokation im Milchgebiss - oralchirurgische Aspekte. Quintessenz. 2021;72:60-64.
Die Abbildungen 1 und 2 basieren auf den im Text genannten Postern des Zahnunfallzentrums am Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB). Die Abbildungen 3 bis 5 wurden vom Autor zur Verfügung gestellt.
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