Transkript
Schwerpunkt
Mythen in der Kinderzahnmedizin
Als Pädiater wird man immer wieder mit Aussagen konfrontiert, die sich auf die Mundgesundheit und im Speziellen auf die Zähne beziehen – darunter sind Aussagen aus dem Volksmund, Vorurteile, Halbwahres oder schlicht falsche Behauptungen zu finden. Dieser Beitrag stellt Mythen und Volksweisheiten aus der Sicht der Zahnmedizin auf den Prüfstand.
Von Klaus Neuhaus
«Ein Zahn weniger für jedes Kind»
Junge Mütter können diesen Spruch vorbringen, wenn ein Zahn gezogen werden muss. Sein Ursprung liegt vermutlich darin, dass sich der Körper der werdenden Mutter auf die Geburt vorbereitet und insgesamt weicher, durchlässiger und elastischer wird. In der Mundhöhle bedeutet dies, dass die an sich straffe Gingiva ebenfalls etwas durchlässiger wird und sich so, bei unzureichender Mundhygiene, eine sogenannte Schwangerschaftsgingivitis entwickeln kann. Eine Gingivitis ist im Prinzip zu 100 Prozent reversibel, stellt aber ein 4-mal höheres Risiko für die Entwicklung einer Parodontitis («Parodontose») dar. Eine Folge einer unbehandelten Parodontitis kann in der letzten Konsequenz Zahnverlust durch Knochenschwund sein. Vor dem Hintergrund einer gut 9-monatigen Schwangerschaft müsste es eine sehr rasch progrediente Form der Parodontitis sein, die bei einer jungen Mutter zum Zahnverlust führen könnte. Mit guter Mundhygiene, insbesondere mit guter Zahnzwischenraumpflege, lassen sich sowohl eine Gingivitis vermeiden als auch eine Parodontitis behandeln. Fazit: Es gibt heutzutage keinen Grund mehr, dass Zähne aufgrund von Schwangerschaften verloren gehen müssen.
«Hexenzahn»
Der natürliche Zahndurchbruch beim Säugling erfolgt zwischen dem 4. und 8. Lebensmonat. Kommt ein Kind jedoch in seltenen Fällen (1:2000 –1:3000) schon mit einem Zahn zur Welt, redet der Volksmund vom «Hexenzahn». Der Zahnmediziner bezeichnet bei Geburt vorhandene Zähne als natale oder kongenitale Zähne und solche, die in den ersten 30 Lebenstagen durchbrechen, als neonatale Zähne (Abbildung 1). Bei einem natalen Zahn handelt es sich um keinen normalen Zahn der Milchzahnleiste, sondern um einen zusätzlichen Zahn, der einerseits schlechter mineralisiert, andererseits viel weniger fest im Kiefer verankert ist. Interessanterweise findet sich schon bei Caius Plinius
Abbildung 1: Sogenannten «Hexenzähnen» werden in unterschiedlichen Kulturen bestimmte Charaktereigenschaften zugeordnet.
Secundus dem Älteren im Jahr 23 v. Chr. ein Zusammenhang mit Aberglauben: Traten solche Zähne bei Buben auf, verhiessen sie eine gute Zukunft, während sie bei Mädchen Unheil versprachen. Dieser Aberglaube existiert in verschiedenen Kulturen, jedoch in unterschiedlichen Ausprägungen: In England heisst es, das Kind werde einmal ein grosser Kämpfer, in Schweden verspricht man sich Fähigkeiten zum Heilen, in Polen und Indien gelten natale Zähne als Vorboten für Unglück, während sie in China den Tod eines Elternteils voraussagen. Berühmte Persönlichkeiten mit natalen Zähnen waren unter anderem Ludwig XIV., Richard III., Napoleon und Hannibal. Shakespeare hat in seinem Drama «Richard III.» im Jahr 1623 natale Zähne beschrieben («Marry, they say my uncle grew so fast that he could gnaw a crust at two hours old.») und mass diesen prophetische Eigenschaften bei («A hellhound that doth hunt us all to death. That dog, that had his teeth before his eyes.»). Fazit: Es ist von grösserem Interesse, ob natale Zähne Entzündungen verursachen könnten und deshalb gezogen werden müssten oder ob sie belassen werden könnten, bis sie natürlicherweise ausfallen. Es ist jedoch nützlich, die Anekdoten zu natalen Zähnen zu kennen.
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«Nuggi und Löffel ablecken ist verboten»
Dieses Verbot wurde noch in den 1970er-Jahren propagiert. Der Gedanke dahinter ist, dass das Kind Bakterien von Mutter oder Vater übertragen bekommt und somit dazu verdammt ist, Karies (Zahnfäule) zu entwickeln. Der Hintergrund war, dass man die Transfektion eines besonders kariogenen Bakteriums (S. mutans) nachweisen konnte. Nach heutigem Kariesverständnis ist es aber nicht ein spezifisches Bakterium, welches Karies auslöst. Die Ursache der Karies ist vielmehr eine unspezifische Infektion mit Bakterien, die bei der Fermentation Säure produzieren und selbst säuretolerant sind. Der Moment der Erstbesiedelung des Säuglings und seiner Mundhöhle findet in den ersten Lebenstagen statt. So kann man bei Säuglingen tatsächlich anhand der Hautflora feststellen, ob sie eine natürliche Geburt (vaginale Keime) oder eine Kaiserschnittgeburt (Spitalkeime) hatten. In der Mundhöhle läuft es ähnlich ab. Allerdings geht man heute davon aus, dass die bakterielle Flora der Mundhöhle durch das Vorhandensein von Zähnen, durch die Ernährung und die Mundhygiene nachhaltig beeinflusst wird. Erst bei einer kohlenhydratreichen Diät und ungestörtem Plaquewachstum kann sich Karies ausbilden. Nach modernem Kariesverständnis handelt es sich bei Karies also genau genommen nicht um die Erkrankung selbst, sondern um ein Symptom der Erkrankung. Die Krankheit hingegen ist ein aus dem Gleichgewicht geratener oraler Biofilm. S. mutans, der Bösewicht der 1970er-Jahre, wird heute als kommensaler Bestandteil der Mundflora angesehen. Fazit: Es kommt zu einer Übertragung von Mundbakterien von den Eltern auf das Kind. Ob sich aber Karies entwickelt, hat viel mehr mit der Ernährung und der Mundhygiene zu tun als mit den spezifischen Bakterien an sich.
«Mein Kind hat Karies, das sind
die Gene»
Zum Entstehen von Karies (Abbildung 2) braucht es ein
Quartett zusammenspielender Faktoren: Bakterien, Zu-
cker, anfällige Zähne und Zeit. Beeinflussen können wir
nicht alle Faktoren gleichermassen. Mit anfälligen Zähnen
sind lokale Schmelzbildungsstörungen gemeint, aber
auch andere Wirts-
faktoren wie die
Speichelbildung oder
die Zusammenset-
zung des Speichels.
In sehr seltenen Fäl-
len sind die Speichel-
drüsen nicht ange-
Abbildung 2: Karies entsteht durch äussere, lokale Einflüsse: Bakterien, Zucker, ungenügende Mundhygiene und Zeit.
legt oder nicht funktionstüchtig. In diesem Fall handelt es sich um die genetisch bedingte und
IV-pflichtige Speicheldrüsenagenesie beziehungsweise
-atresie. Auch Medikamente oder andere Grunderkran-
kungen können zu einer verminderten Speichelbildung
führen.
Die anderen Faktoren des Kariesquartetts sind vollständig
unabhängig von den Genen. Gelenkt werden können
aber die Ernährung und die Häufigkeit des Zähneputzens. Die Verwendung einer fluoridierten Zahnpasta trägt ebenfalls zu einer besseren Mineralisierung des Zahnschmelzes bei. Zudem ist allgemeiner Konsens, dass die posteruptive Schmelzreifung, also die Mineralisation des Zahnschmelzes durch den Speichel, die unter günstigen Bedingungen stattfindet, wesentlich wichtiger für das Kariesrisiko ist als die präeruptive Schmelzreifung. Fazit: Nur in sehr seltenen, meist IV-pflichtigen Fällen spielen die Gene eine Rolle bei der Kariesentstehung.
«Milchzähne muss man nicht flicken, die fallen ja sowieso raus»
Sind alle permanenten Zahnanlagen vorhanden, werden in der Regel alle Milchzähne gegen bleibende Zähne ausgetauscht. Dieser Zahnwechsel geschieht in 2 Etappen: In der ersten Wechselgebissperiode brechen hinter den letzten Milchmolaren mit etwa 6 Jahren die ersten bleibenden Backenzähne durch. Anschliessend oder schon währenddessen werden die Frontzähne ausgetauscht. Diese erste Phase ist im Alter von 7 bis 8 Jahren beendet, und dann tritt der Zahnwechsel in eine Ruhephase ein. Erst mit 9 bis 12 Jahren werden die Milchmolaren und Eckzähne gegen bleibende Zähne ausgetauscht. Milchzahnkaries unbehandelt zu lassen, ist nur dann sinnvoll, wenn die Zähne in nächster Zeit sowieso ausfallen würden. Ansonsten riskiert man Schmerzen, Schwellungen, Allgemeininfektionen, Zahnbehandlungsangst und Missbildungen der nachfolgenden Zähne. Darüber hinaus bleibt der krank machende Biofilm im Mund bestehen, selbst wenn die kariösen Zähne ausfallen und die bleibenden Zähne erst einmal keine Zeichen von Karies aufweisen. Wir wissen aber heute, dass Milchzahnkaries der mit Abstand stärkste Risikofaktor für Karies im bleibenden Gebiss ist. Fazit: Karies an Milchzähnen muss behandelt werden, um einerseits die bleibenden Zähne zu schützen und andererseits dem Kind Schmerzen und unschöne Notfallbehandlungen zu ersparen.
«An kranken Zähnen stirbt man nicht»
Unbehandelte Karies geht etappenweise von der asymptomatischen Schmelzkaries in eine intermittierend schmerzhafte Dentinkaries über. Eine chronische Intoxikation der Pulpa mit bakteriellen Toxinen führt zu einer schmerzhaften irreversiblen Pulpitis, die sich durch starke Temperaturempfindlichkeit, Spontanschmerz auch nachts und einen reduzierten Allgemeinzustand äussern kann. In der Folge verliert die Pulpa ihre Vitalität, und das nekrotische Pulpagewebe bietet Nährboden für bakterielles Wachstum und Streuung von Toxinen und Bakterien ins umliegende Gewebe. Auch wenn sich zumeist lokale Abszesse in die Mundhöhle entleeren, kann im ungünstigen Fall eine bakterielle Proliferation in angrenzende Logen (Logenabszess), in den Knochen (Osteomyelitis) oder ins Mediastinum erfolgen. Diese Abszesse sind potenziell tödlich. In einer dereinst antibiotikaresistenten Zukunft könnte der obige Satz leider Lügen gestraft werden. Fazit: Man sollte es nicht darauf ankommen lassen und das Kind spätestens bei vorhandenen Schwellungen zahnärztlich behandeln und allenfalls antibiotisch abschirmen.
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«Karies ist Schicksal»
Nein. Wie oben skizziert, hat man über die Ernährung, die fluoridierte Zahnpasta und regelmässiges Zähneputzen (= Entfernung des Biofilms) sehr gute Stellschrauben, um die Ausbildung des Symptoms Karies zu verhindern. Fazit: Über 80 Prozent der heutigen Kinder sind kariesfrei. In den letzten Jahrzehnten hat sich nicht das Schicksal verändert, sondern das Mundhygienebewusstsein und -verhalten.
«Fluor ist ein schädliches Gift»
Das ist richtig. Fluor ist ein leicht flüchtiges Gas und als leichtestes Element der 7. Hauptgruppe noch mehr als Chlor, Brom oder Jod extrem reaktionsfreudig. Nicht richtig ist hingegen, dass in der zahnmedizinischen Prophylaxe elementares Fluor eingesetzt würde. Sämtliche Zahnpasten oder Mundspülungen enthalten Fluorid, also das wesentlich ungefährlichere und ungiftigere Fluorsalz. Die frei verkäuflichen Zahnpasten haben einen Fluoridgehalt von weniger als 1500 ppm, sie sind sicher und deshalb als Kosmetika zugelassen, nicht als Medikamente. Die niedrigeren Fluoriddosierungen in Kinderzahnpasten tragen dem Umstand Rechnung, dass kleinere Kinder mehr vom Zahnpastaschaum verschlucken. In den verwendeten Dosierungen sind sowohl Fluorid, welches zumeist in der Form von Natriumfluorid verfügbar ist, als auch Aminfluorid oder Mononatriumfluorphosphat harmlos. Höher dosierte fluoridierte Zahnpasten (5000 ppmF), Gele (12 500 ppmF) oder Lacke (22 600 ppmF) sind auf Rezept erhältlich oder nur für den professionellen Gebrauch zugelassen. Chronische Fluoridvergiftungen machen sich an Zähnen und Skelett in Form von Mineralisationsstörungen bemerkbar. Sie kommen meist endemisch in Gebieten vor, in denen natürlicherweise sehr viel Fluorid im Trinkwasser vorhanden ist. In der Schweiz ist das beispielsweise in Baselland in Eptingen der Fall. Hier wird seit einigen Jahren das Trinkwasser um zirka 50 Prozent entfluoridiert. Fazit: Die Basisfluoridierung in der Schweiz sieht den Gebrauch von fluoridierter Zahnpasta und von fluoridiertem Speisesalz vor. In diesen Dosierungen ist Fluorid sicher und nicht schädlich.
«Fluorid ist ein schädliches Gift»
Im Rahmen der Basisfluoridierung und der angepassten Fluoridierung bei erhöhtem Kariesrisiko kann Fluorid als sicher erachtet werden. Allerdings häufen sich Studien aus dem asiatischen Raum, die einen Zusammenhang zwischen erhöhter Fluorideinnahme (vor allem durch fluoridiertes Trinkwasser oder Konsum von Tee bei werdenden Müttern) und einer messbaren Reduktion von zirka 7 bis 8 IQ-Punkten beschreiben. Tierversuche legen nahe, dass in der pränatalen Phase eine erhöhte Vulnerabilität vorliegt, in der erhöhte Fluoridkonzentrationen einen messbaren neurotoxischen Effekt haben können. Die Fluoridkonzentrationen, die in diesen asiatischen Studien erzielt wurden, werden bei uns in der Regel nicht erreicht. Trotzdem darf man annehmen, dass an den Zähnen oder Knochen sichtbare Fluoroseerscheinungen mehr als ein kosmetisches Problem sind, sondern unter Umständen neurologische Defizite nach sich ziehen können.
In der Schweiz haben Kinderzahnpasten einen Fluoridgehalt von 500 ppmF und Juniorzahnpasten einen von 1000 bis 1450 ppmF. Kinder mit Karies sollen unabhängig vom Alter mit einer Juniorzahnpasta die Zähne putzen. Fazit: Schon Theophrastus Bombastus von Hohenstein fomulierte den bis heute gültigen Lehrsatz: «Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.»
«Kaugummi kauen ersetzt das Zähneputzen»
Wer kennt das nicht: Zum Zähneputzen nach dem Mittagessen fehlt die Gelegenheit oder die Zeit. Kann ein sogenannter Zahnpflegekaugummi die Zahnreinigung ersetzen? Grundsätzlich regt ein Kaugummi den Speichelfluss an. Ein verstärkter Speichelfluss unterstützt einerseits die Selbstreinigung der Zähne, andererseits die Remineralisation des zuvor demineralisierten Zahnschmelzes. Die Kaugummireinigung erzielt jedoch keine Effekte in den kritischen Bereichen Zahnfleischrand und Zahnzwischenraum. Das bedeutet, dass das Kaugummikauen höchstens notfalls das Zähneputzen teilweise ersetzen kann, aber nicht regelhaft. Insbesondere am Abend vor dem Schlafengehen ist eine gründliche mechanische Mundhygiene mit Entfernung möglichst aller Beläge unabdingbar. Fazit: Kaugummis ersetzen das Zähneputzen nur unzureichend.
«Kaugummis mit Xylit schützen vor Karies»
Eine Reihe von sogenannten Zahnpflegekaugummis enthalten Xylit oder Sorbit anstatt Zucker. Xylit und Sorbit sind Zuckeralkohole/Zuckeraustauschstoffe, die von kariogenen Bakterien nicht oder nur schlecht verstoffwechselt werden können. Die ursprünglich in Skandinavien verabschiedete Empfehlung zur Kariesprävention durch Xylit sieht jedoch eine Mindestmenge von 6 bis 8 g Xylit vor, verteilt auf 3 bis 4 Gaben pro Tag. In diesen Konzentrationen sind Veränderungen des oralen Biofilms messbar. Die meisten der in der Schweiz erhältlichen Zahnpflegekaugummis haben bei Weitem nicht die notwendige Konzentration von Xylit, sodass der Haupteffekt dieser Kaugummis in der Anregung des Speichelflusses liegt. Hingegen gibt es spezielle Kaugummis zur Kariesprophylaxe, die einen Xylitgehalt von 1 g pro Kaugummi haben. Von diesen müssten also 6 Stück pro Tag gekaut werden, damit ein messbarer antikariogener Effekt erzielt werden kann. Damit aber ist es eine recht teure Massnahme, die sicherlich für sozial schwächere Familien ausserhalb der finanziellen Reichweite liegt. Und leider gibt es die grössten Kariesprobleme bei Kindern genau dieser Familien. Fazit: Kaugummis mit mindestens 1 g Xylit pro Einheit können vor Karies schützen, wenn sie in genügend grosser Anzahl über den Tag verteilt konsumiert werden.
«Mein Kind kann schon allein Zähne putzen»
Kinder müssen das Zähneputzen schon früh üben und erlernen. Im Kleinkindalter sind Lernzahnbürsten geeignet. Mit wachsender Geschicklichkeit muss die Zahnputztechnik immer weiter angepasst und verfeinert werden.
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Schwerpunkt
mit einem Refluxleiden gibt es spezielle Zahnpasten mit Zinnchlorid und Mundspülungen, die die Zahnoberfläche resistenter gegen Säure machen. Aber auch hier empfiehlt man den Gebrauch sofort nach dem Essen, nicht vorher und schon gar nicht erst eine halbe Stunde später. Fazit: Nach dem Essen putzt man sich die Zähne, ohne eine halbe Stunde zu warten.
Abbildung 3: Durch Anfärben kann man Beläge auf den Zähnen gut sichtbar machen.
Wackelzähne im Wechselgebiss sowie eine feste Zahnspange sind immer besondere Herausforderungen für eine gute Mundhygiene. Eine Prophylaxeassistentin beim Zahnarzt kann behilflich sein, die Zahnputztechnik zu überprüfen und anzupassen. Nebenbei: Auch Erwachsene müssen ihre Zahnputztechnik immer wieder überprüfen lassen, denn weder die Zähne in der Mundhöhle noch die eigene Geschicklichkeit bleiben immer gleich. In einer Videostudie der Universität Giessen hatte man bei über 400 erwachsenen Patienten beobachtet, dass fast alle ein kindliches, unstrukturiertes Zahnputzmuster an den Tag legten. In Drogeriemärkten sind Tabletten erhältlich, die Zahnbeläge anfärben und das gezielte Zähneputzen und Nachputzen erleichtern können (Abbildung 3). Fazit: Es wird empfohlen, dass die Eltern von kleineren Kindern nach jedem Mal hinterherputzen, und dass bei grösseren Kindern bis zum 8./9. Lebensjahr zumindest abends noch hinterhergeputzt wird.
«Nach dem Essen muss man eine halbe Stunde warten mit dem Zähneputzen»
Diese Empfehlung entspringt der Beobachtung, dass die Zahnoberfläche durch Säure etwas demineralisiert wird. Erosionsstudien aus den 1980er- und 1990er-Jahren zeigten eine höhere Abrasion durch Zahnbürsten nach Erosion als vorher. Die Empfehlung, nach dem Essen eine halbe Stunde zu warten, ist aber ein kompletter Trugschluss. Auch eine halbe Stunde nach einer Säureattacke auf die Zahnoberfläche bleibt diese noch demineralisiert, ja sogar nach 24 Stunden ist sie es noch immer. Der Speichel hat nicht die Möglichkeit, erosiv veränderten Zahn innert Minuten oder Stunden zu härten. Im Gegenteil: Wenn man nach dem Essen 30 Minuten mit dem Zähneputzen wartet, haben die Bakterien 30 Minuten mehr Zeit, den Kariesprozess zu unterhalten. Für Kinder
«Düümele verwächst sich»
Das Daumenlutschen wird von den Zahnmedizinern als «Habit» bezeichnet. Habits sind bis etwa zum 4. Lebensjahr unproblematisch. Danach können sie eine bleibende skeletale Verformung des Kieferknochens bewirken. Eine ungewollte Folge des Daumenlutschens ist der sogenannte offene Biss. Dabei gelingt es dem Kind nicht, mit den Schneidezähnen zum Beispiel ein Rüebli abzubeissen, da sich die Frontzähne nicht berühren können. Der durch das Daumenlutschen entstandene offene Biss befindet sich immer seitlich (abhängig vom benutzten Daumen), der durch einen falschen Nuggi entstandene ist zentral. Besteht das Habit des Daumen-/Nuggilutschens über das 4. Lebensjahr hinaus, wird sich die skeletale Deformation nicht verwachsen. In diesen Fällen muss eine kieferorthopädische Behandlung durchgeführt werden, sobald die Kinder grösser sind. Grundsätzlich kann man einen Nuggi leichter entwöhnen als den Daumen. Es gibt mittlerweile zertifizierte Nuggis, die signifikant weniger häufig einen offenen Biss induzieren. Fazit: Besteht das «Düümele» nach dem 4. Lebensjahr fort, bleiben skelettale Deformationen des Kieferknochens bestehen.
Die oben genannten Zitate sind nur eine Auswahl typischer Elternaussagen. Falls Sie weitere Fragen haben oder schon immer etwas über Zähne wissen wollten, steht Ihnen der Autor unter klaus.neuhaus@unibas.ch sehr gern zur Verfügung.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Klaus Neuhaus Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB Mattenstrasse 40 4058 Basel E-Mail: klaus.neuhaus@uzb.ch klaus.neuhaus@unibas.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine potenziellen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Die Abbildungen wurden vom Autor zur Verfügung gestellt.
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