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FORTBILDUNG
Wenn der Darm bei Kindern rebelliert
Reizdarmsyndrom auch in jungen Jahren oft psychisch bedingt
Patienten mit einem Reizdarmsyndrom (RDS) gibt es in der Hausarztpraxis sehr häufig. Oft sind schon Kinder und Jugendliche betroffen. Fast 50 Prozent der 10- bis 18-jährigen Schüler haben permanent oder passager RDS-Symptome. Hauptursache für die Beschwerden sind Stress und psychische Belastungen.
Jobst Henker
Hauptursache des RDS ist eine gestörte Hirn-Darm-Interaktion (das «Bauchhirn» ist gestört) durch psychische Belastungssituationen. Aber auch eine Darmirritation durch eine Infektion, bestimmte Nahrungsmittel oder Hormone kommen als Auslöser infrage. Die Leitsymptome des RDS sind: s Bauchschmerzen s Blähungszustände mit Gasbildung (Meteorismus, Flatu-
lenz) s Durchfall und/oder Verstopfung s häufig auch extraintestinale Beschwerden wie Müdigkeit
und Kopfschmerzen. Eine entzündliche, anatomische, metabolische oder neoplastische Ursache der Beschwerden muss ausgeschlossen werden. Damit ist die Diagnose eines RDS eine Ausschlussdiagnose. Die Ausschlussdiagnostik beim RDS sollte strategisch sinnvoll durchgeführt werden und beinhaltet s Anamnese s klinische Untersuchung
MERKSÄTZE
� Die Diagnose eines Reizdarmsyndroms (RDS) ist eine Ausschlussdiagnose. Die Ausschlussdiagnostik beinhaltet Anamnese, klinische und Laboruntersuchungen sowie Abdomensonografie.
� Differenzialdiagnostisch abzuklären sind Intoleranzen gegenüber Gluten, fermentierbaren Oligosacchariden, Disacchariden, Monosacchariden und Polyolen (FODMAP) sowie gegenüber Histamin. Abzugrenzen ist das RDS auch vom Reizmagen.
� Zur Behandlung kommen neben Wärmeanwendungen und Tees krampflösende Medikamente, Probiotika sowie Diäten infrage. Darüber hinaus sollten potenzielle psychisch belastende Ursachen eruiert und bestenfalls beseitigt werden.
s paraklinische Diagnostik s Labor: Blut, Stuhl s Abdomensonografie s H2-Atemtest s 13C-Atemtest s Endoskopie s pH-Metrie s Magnetresonanztomografie (MRT), Computertomogra-
fie (CT). Abzugrenzen ist das RDS vom Reizmagen, der funktionellen Dyspepsie, bei der Magenschmerzen, Völlegefühl, Aufstossen/Sodbrennen, Übelkeit und Erbrechen typische dyspeptische Beschwerden sind (1).
Anamnese
Meist ist der Beginn der Beschwerden nicht genau anzugeben. Zuweilen ist aber auch ein bestimmtes Ereignis zu erfragen, das die Beschwerden ausgelöst haben könnte (Änderung der Familiensituation, Aufnahme in eine Kindereinrichtung, Schulbeginn, Schulprobleme, Verlust eines Familienmitglieds, Familienzuwachs u. a.). Funktionelle Bauchschmerzen treten fast nie nachts auf und sind meist nicht über den Tag verteilt. Sie bestehen oft bereits morgens nüchtern. Es besteht keine B-Symptomatik. Die körperliche Entwicklung ist meist nicht gestört. Hilfreich ist das Führen eines Tagebuchs, in das täglich Bauchschmerzen, Stuhlfrequenz und -konsistenz sowie gegebenenfalls andere Beschwerden eingetragen werden. Dann können die Beschwerden der Schulzeit oder der schulfreien Zeit, dem Wochenende oder dem Besuch beim von der Familie getrennt lebenden Elternteil zugeordnet werden. Alarmzeichen, die auf eine ernste, meist organisch bedingte Erkrankung hinweisen, sind im Kasten aufgelistet.
Klinische Untersuchung
Die klinische Untersuchung muss eine Ganzkörperuntersuchung inklusive anodigitaler und gynäkologischer Untersuchung sein. Funktionelle Bauchschmerzen werden meist in der Nabelgegend lokalisiert. Je entfernter vom Nabel ein
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Tabelle 1:
Diagnostik bei Verdacht auf organisch bedingte Bauchschmerzen/ dyspeptische Beschwerden
CED (Colitis ulcerosa, M. Crohn) Gallensteine chronische Appendizitis chronische Harnwegsinfektion Hepatopathie Pankreatopathie (Eosinophile) Ösophagitis abdominelle Migräne chronischer Bauchwandschmerz Stenose des Truncus coeliacus (Dunbar-Syndrom)
Labor (Blut und Stuhl), Abdomensonografie mit farbkodiertem Doppler, Endoskopie Labor, Abdomensonografie Labor, Abdomensonografie Labor (Urin, Blut), Abdomensonografie Labor (Blut), Abdomensonografie Labor (Blut und Stuhl), Abdomensonografie, MRT, ERCP Ösophagogastroduodenoskopie Klinik (wiederholte diffuse Bauchschmerzen ohne präzise Lokalisation; Begleitsymptome: Erbrechen, Hautblässe) Klinik (punktförmige lokalisierte Schmerzen, positiver Carnett-Test) Duplexsonografie, MRT-Angiografie
Bei allen Verdachtsfällen gehören zur Diagnostik die Anamnese und die klinische Untersuchung. CED: chronisch entzündliche Darmerkrankungen, MRT: Magnetresonanztomografie, ERCP: endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikografie
Tabelle 2:
Hauptmerkmale zur Unterscheidung zwischen Zöliakie und Glutensensitivität
Zöliakie
Synonyme
glutensensitive Enteropathie
Prävalenz
0,3–1% der Bevölkerung
Genetik
Korrelation zu HLA-DQ2 oder HLA-DQ8
Mechanismus Autoimmunreaktion
Antikörper
TGA, EMA
Zottenatrophie vorhanden
Morbidität
zunehmend
Mortalität
zunehmend
Glutensensitivität Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität, Glutenintoleranz, Glutensensitivität, Glutenhypersensitivität unbekannt, aber sehr wahrscheinlich höher als bei Zöliakie keine Beziehung zu einem spezifischen HLA-Haplotyp unbekannt; in Diskussion: IgE-vermittelte Weizenallergie, Stärkemalabsorption, Opioid-like-Aktivität von Gluten, gluteninduzierte Low-grade-Entzündung, eigene Immunreaktion auf Gluten, Nozeboeffekt auf glutenhaltige Nahrung negative Testergebnisse hinsichtlich TGA, EMA, manchmal positive Ergebnisse bei IgG-AGA nicht vorhanden, geringe Erhöhung der IEL3 keine Daten keine Daten
TGA: Transglutaminaseantikörper, EMA: endomysiale Antikörper, AGA: Antigliadinantikörper, IEL: intraepitheliale Lymphozyten Modifiziert nach (3)
Bauch- oder Druckschmerz angegeben wird, desto eher muss an eine organische Ursache der Beschwerden gedacht werden.
Labordiagnostik
In Anlehnung an die S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom (2) ist folgende Diagnostik zu empfehlen: s Blutbild s C-reaktives Protein (CRP) oder Blutsenkungsgeschwin-
digkeit (BSG) s Lipase s Alaninaminotransferase (ALAT) s Gammaglutamyltransferase (γ-GT) s Immunglobulin A (IgA) s zöliakiespezifische Antikörper s thyreoideastimulierendes Hormon (TSH) s Bilirubin s Kreatinin
s Blutzucker s Eisenstatus (Serumferritin, Transferrinsättigung) s Urinstatus s Stuhl: Giardia lambliasis, Würmer, fäkale Inflammations-
marker (Calprotectin oder Lactoferrin), okkultes Blut. Zur erweiterten Diagnostik bei unklaren Fällen sind weiterhin zu empfehlen: s Folsäure s Vitamin B12 s Serumelektrolyte s Stuhldiagnostik: Dientamoeba fragilis.
Abdomensonografie
Die Indikation zur Abdomensonografie sollte von der Anamnese und vom Ergebnis der Labordiagnostik abhängen. Die weitere paraklinische Diagnostik muss individuell entschieden werden (Tabelle 1). Bei Verdacht auf eine Laktose- oder Fruktosemalabsorption ist ein H2-Atemtest indiziert.
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Kasten:
Alarmzeichen bei dyspeptischen Darmbeschwerden
▲ Gedeihstörung, Gewichtsabnahme ▲ unklares Fieber ▲ Nachtschweiss ▲ Hämatochezie (sichtbares Blut im Stuhl) ▲ verzögerte Pubertät ▲ Arthritis ▲ anale Auffälligkeiten (Marisken, Fissuren, Fisteln u. a.) ▲ tastbare Resistenzen bei der Abdomenuntersuchung ▲ belastende Familienanamnese: chronisch entzündliche
Darmerkrankung, maligne (Darm-)Erkrankungen, Zöliakie, gastrointestinale Ulzera ▲ Dysphagie ▲ Odynophagie (Schluckstörung mit Schmerzen) ▲ nächtliche Bauchschmerzen und/oder Durchfall
Beschwerden führen. Eine solche Diät sollte unter ärztlicher Kontrolle erfolgen, da sie bei einer Dauer von mehr als 4 Wochen zu einer Änderung des Darmmikrobioms sowie zu Eisen- und Kalziummangel führen kann.
Differenzialdiagnose Histaminintoleranz
Auch die Histaminintoleranz muss in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden, da die Symptomatik derjenigen des RDS ähneln kann. Diagnostisch am einfachsten ist zunächst das Weglassen histaminhaltiger Lebensmittel (z. B. reife Käsesorten, Fischkonserven, Sauerkraut, Thunfisch, Makrele, geräuchertes oder gepökeltes Fleisch oder Wurst sowie Obst- und Gemüsesorten, Wein [bei Kindern kaum relevant]). Nach einer solchen Karenzphase und Besserung der Beschwerden können schrittweise histaminhaltige Nahrungsmittel eingeführt werden, um die Toleranzgrenze zu ermitteln. Auch mit einem Histamin-Hydrochlorid-Provokationstest kann unter strenger ärztlicher Kontrolle die Verträglichkeit individuell bestimmt werden.
Problematisch kann der Ausschluss einer Glutensensitivität sein (Tabelle 2). Sie wird heute korrekterweise als Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität (NZNWWS) bezeichnet. Die Symptomatik ist vergleichbar mit derjenigen bei einer Zöliakie und derjenigen beim RDS: s intestinal: Bauchschmerzen, Meteorismus, Durchfall
und/oder Obstipation s extraintestinal: Müdigkeit, Taubheitsgefühle der Extre-
mitäten, Muskelkrämpfe, Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Depression; keine Beeinträchtigung der körperlichen Entwicklung.
FODMAP
Warum die Menschen zunehmend nach dem Verzehr von Getreideprodukten über intestinale und extraintestinale Beschwerden klagen, hängt möglicherweise mit der Hochzüchtung der modernen Getreidesorten und dem damit verbundenen Anstieg des Glutengehalts und anderer Bestandteile zusammen. Im Weizen sind unter anderem auch FODMAP (fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole) und Amylase- und Trypsininhibitoren (ATI) enthalten, die ebenfalls RDS-ähnliche Symptome hervorrufen können. Bei einer Unverträglichkeit von FODMAP können neben gastrointestinalen Beschwerden (Bauch- und Magenschmerzen, Meteorismus, Flatulenz, Übelkeit, gastroösophagealer Reflux) auch systemische Beschwerden bestehen (Müdigkeit, Depression). Eine FODMAP-arme Kost kann schon nach wenigen Tagen zu einer Linderung der
Therapie
Bei der Behandlung des RDS im Kindesalter steht das Ge-
spräch mit einer Vertrauensperson über mögliche belastende
Ursachen im Vordergrund. Dabei sollte nicht sofort ein Psy-
chologe konsultiert werden. Antidepressiva sollten bei
Angststörungen und Depression erwogen werden. Krampf-
lösend ist das Spasmolytikum Buscopan® als Suppositorium,
Dragee oder Ampulle verfügbar. Ein Versuch mit einer adju-
vanten probiotischen Behandlung hilft in etwa zwei Dritteln
der Fälle. Als Sofortmassnahmen sind allerdings immer noch
eine Wärmeanwendung (Kirschkernkissen oder feuchte
Wärme) und ein Magen-Darm-Tee zu empfehlen. Ein solcher
Tee enthält ausser den wichtigen Pfefferminzblättern und
Kümmel auch Kamillenblüten, bitteren Fenchel und Melis-
senblätter. Eine Diät sollte vom Patienten nie selbstständig
erfolgen, sondern nach entsprechender Diagnostik und Be-
ratung (Arzt, Ernährungsberater).
s
Prof. Dr. med. Jobst Henker Kinderzentrum Dresden-Friedrichstadt GmbH D-01067 Dresden
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Literatur: 1. Madisch A et al.: Diagnose und Therapie der funktionellen Dyspepsie.
Dtsch Arztebl Int. 2018;115:222-232. 2. Layer P et al.: S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiolo-
gie, Diagnostik und Therapie. Z Gastroenterol. 2011;49:237-293. 3. Di Sabatino A, Corazza GR: Nonceliac gluten sensitivity: sense or sensibi-
lity? Ann Intern Med. 2012;156:309-311.
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